Vom Treppensturm zum "Putsch": Rechte Bündnisse aus Bürgern und deklassierten Weißen nach US-Vorbild sollten stärker in den Blick genommen werden. Warum der Ruf nach dem starken Staat trotzdem falsch wäre.

„Reichsbürger“-Razzien und Fraktionskämpfe im Bürgertum

Linke sollten daran denken, dass eine alte und begründete Forderung von ihnen die Abschaffung dieses Paragraphen ist, weil er Überwachungs- und Bespitzelungsmaßnahmen des Staats legitimiert. Sollte die gesellschaftliche Linke diese Forderung aufgeben, nur weil jetzt mit diesen Paragraphen auch gegen Rechte vorgegangen wird?

Der Staat geht mit den Paragraphen 129a jetzt auch gegen Rechte vor. Das ist das eigentlich Neue an der großangelegten Razzia vom vergangenen Mittwoch. Festnahmen vor „eingebetteten“ Medien, die vorab informiert waren, sind in der Tat nicht neu. Manche Pressevertreter erinnerten sich an den Fall des ehemaligen …

… Postchefs Zumwinkel, der 2008 wegen angeblicher Steuervergehen ebenfalls vor Pressevertretern verhaftet wurde. Damals ging es um einen Machtkampf innerhalb des Post-Managements. Zumwinkels Haftbefehl wurde schnell außer Vollzug gesetzt, aber seinen Posten war er los. Er trat wenige Tage später zurück.

Seine Gegner im Postapparat haben sich durchgesetzt. Auch die jüngste Razzia kann als Teil eines Konflikts von unterschiedlichen Fraktionen des Bürgertums interpretiert werden, der wie in vielen andereren Ländern auch in Deutschland zunehmend mit Hilfe der repressiven Staatsorgane ausgetragen wird.

Konflikte innerhalb des Bürgerblocks

Dahinter stecken reale Konflikte innerhalb des Bürgerblocks, die in den USA schon vor mehr 15 Jahren mit der Herausbildung der Teaparty-Bewegung zu beobachten waren. Es war eine Radikalisierung innerhalb der weißen bürgerlichen Schichten, die sich gegen die Modernisierung des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten stemmen.

Sie träumen von einem Zurück zum sorglosen fossilen Kapitalismus der 1950er-Jahre, in denen es keine öffentlichen Diskussionen um Geschlechteridentitäten gab und sich für Umweltprobleme eine nur eine sehr kleine Minderheit interessierte – und Weiße die unbeschränkte Hegemonie hatten. Alle Erscheinungen des modernen Kapitalismus sind ihnen ein Horror.

Da sie die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten nicht wahrhaben wollen, können sie sich die Veränderungen des modernen Kapitalismus, die noch durch die Digitalisierung beschleunigt wurden, nur als Ergebnis einer Verschwörung erklären.

Es entstand ein loses Bündnis von rechten Groß- und Kleinbürgern, aber auch Weißen aus der Unterklasse, die für ihre schlechte Situation nicht den Kapitalismus verantwortlich machen. Stattdessen kultivieren sie Ressentiments gegen Schwule, Schwarze und andere Nichtweiße, die in letzten Zeit sichtbarer und teils auch erfolgreich um Posten konkurrieren.

Mit dem Wahlsieg von Donald Trump schien 2016 in den USA die rechte Bürgerrevolte am Ziel. Es ist kein Zufall, dass in seiner Amtszeit der QAnon-Mythos auftauchte. Dieser ist aber auch ein Ergebnis der Enttäuschung, dass ein Trump im Weißen Haus nicht so durchregieren konnte, wie es sich die rechtsbürgerlichen Konterrevolutionäre erträumt hatten.

Der QAnon-Mythos vertröstet die Zweifelnden. Sie sollen sich gedulden – der Tag der Abrechnung werde noch kommen. Mit Trumps Abwahl wurde endgültig klar, dass dies nur ein großer Bluff war. Das erklärt auch den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021. Jetzt setzte ein Teil der Rechten, sowohl Menschen aus dem etablierten Bürgertum als auch aus der Unterklasse, alles auf eine Karte – und sie scheiterten.

In kleinen Zirkeln blieb der QAnon-Mythos noch einige Zeit lebendig. Da wurde die Wahnidee verbreitet, Trump werde in kurzer Zeit triumphal ins Weiße Haus zurückkehren. Stattdessen bereitet Trump eine neue Wahlkampagne vor, wobei seine Chancen eher gering sind. Das liegt auch daran, dass die kleinen, aber aktiven rechten Gruppen ernüchtert sind.

Symbolik aus den USA

Es ist kein Zufall, dass auch bei den mutmaßlichen Putschisten in Deutschland viele Elemente der aktivistischen bürgerlichen Rechten aus den USA auftauchen, wie die Bundesanwaltschaft verdeutlicht:

Die Mitglieder der Gruppierung folgen einem Konglomerat aus Verschwörungsmythen bestehend aus Narrativen der sog. Reichsbürger- sowie QAnon-Ideologie. Sie sind der festen Überzeugung, dass Deutschland derzeit von Angehörigen eines sog. „Deep State“ regiert wird. 

Befreiung verspricht nach Einschätzung der Mitglieder der Vereinigung das unmittelbar bevorstehende Einschreiten der „Allianz“, eines technisch überlegenen Geheimbundes von Regierungen, Nachrichtendiensten und Militärs verschiedener Staaten, einschließlich der Russischen Föderation sowie der Vereinigten Staaten von Amerika. 

Die Vereinigung ist der festen Überzeugung, dass sich Angehörige der „Allianz“ bereits in Deutschland aufhalten und deren Angriff auf den „Deep State“ zeitnah bevorstehe.


Aus der Pressemitteilung der Generalbundesanwalt

Erinnerung an Reichstags-Treppensturm

Solcherlei Symbolik und Diktion war auch bei verschiedenen Protesten zu sehen und zu hören. Allerdings sollte spätestens nach der Lektüre der Pressemitteilung deutlich werden, wie irrational dieser angebliche Putschplan war, der ja begrifflich an Militärs erinnert, die Regierungsgebäude und Rundfunkstationen besetzen.

Tatsächlich erinnern Berichte über den geplanten „Reichsbürger“-Putsch sehr an die Aufregung, die im August 2020 eine Gruppe aus dem gleichen Milieu auslöste, die mehr oder weniger für ein Fotoshooting die Reichstagstreppe stürmte. Noch immer wird von einem Reichstagssturm geredet, obwohl sich die Demonstranten von einer Handvoll Polizisten davon aufhalten ließen.

Noch irrationaler wird das Ganze, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der angebliche Auslöser des Reichstags-Treppensturms die Rede einer Frau war, die die Menge aufforderte, sich Richtung Reichstag zu bewegen, um den damaligen US-Präsidenten Trump zu begrüßen, der plötzlich in Berlin aufgetaucht sei. Später behauptete sowohl diese Frau als auch ein Vertreter der Minigruppierung Gelbwesten Berlin, sie seien von V-Leuten dazu angestachelt worden.

Genau diese Episode wird auch jetzt von verschiedenen Medien erwähnt. Dass sollte ein Grund mehr sein, die Hintergründe der Razzien etwas nüchterner zu betrachten. Vor allem gilt es zu beobachten, was von diesen Vorwürfen am Ende übrigbleibt. Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass die Waffe des Paragraphen 129a eingesetzt wird, allerdings wurde sie das bisher überwiegend gegen linke und migrantische Strukturen – und auch dort oft mit eingebetteter Presse.

Dabei hat sich immer wieder gezeigt, dass der angebliche Antiterror-Paragraph vor allem ein Ermittlungsparagraph ist, der dazu dient, die jeweilige Szene auszuforschen und in Unruhe zu versetzen. Es kommt nur selten zu Prozesse und noch seltener zu Verurteilungen. Es wird sich zeigen, wie es bei den großangelegten 129a-Ermittlungen im rechten Bürgerblock sein wird.

„Weg mit dem 129a“ – eine alte linke Forderung

Linke sollten daran denken, dass eine alte und begründete Forderung von ihnen die Abschaffung dieses Paragraphen ist, weil er Überwachungs- und Bespitzelungsmaßnahmen des Staats legitimiert. Sollte die gesellschaftliche Linke diese Forderung aufgeben, nur weil jetzt mit diesen Paragraphen auch gegen Rechte vorgegangen wird?

Man hat den Eindruck, dass die Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes, die lange auch von Linksliberalen erhoben worden war, schon aufgegeben wurde, seit der frühere Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen nicht mehr im Amt ist.

Der Wechsel des Amtes von Maaßen, der zunehmend offen rechtsaußen agiert zu Thomas Haldenwang zeigt erneut, dass es unterschiedliche Fraktionen im bürgerlichen Staatsapparat gibt. Letzterer wird aber dadurch nicht plötzlich ein Verbündeter der gesellschaftlichen Linken. Wenn diese nun auch noch den Paragraphen 129a, den sie lange aus guten Gründen bekämpft hat, legitimiert, weil er ja jetzt angeblich gegen die Richtigen angewandt wird, hat sie nicht nur ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Die Kritik am Staat und seinen ideologischen und repressiven Apparaten gehörte zur vornehmsten Aufgabe einer gesellschaftlichen Linken. Der emeritierte Politikwissenschaftler Joachim Hirsch hat schon während der Corona-Pandemie kritisiert, dass die Linke ihr schärfstes Instrumentarium, die Staatskritik vergessen habe. Das hat sich im Zuge des Ukraine-Konflikts noch verschärft, da nun auch noch ein Teil der Linken mit einer Fraktion des ukrainischen Nationalismus Russland besiegen will.

Vor diesen Hintergrund ist es nur konsequent, wenn auch plötzlich Instrumente des staatlichen Repressionsapparates nicht mehr kritisiert werden.

Soziale Kämpfe statt autoritärer Staat

Dabei wäre es doch gerade die Aufgabe einer gesellschaftlichen Linken, herauszuarbeiten, dass es sich bei den vermeintlichen Putschisten um einen besonders reaktionären Teil des Bürgertums handelt, der einen besonders autoritären Kapitalismus der Vergangenheit mit allen Mitteln verteidigen will. Dabei sollte zugleich nicht vergessen werden, dass diese Fraktion des Bürgertums bei allen auch repressiv ausgetragenen Konflikten gemeinsam mit den Vertretern des modernen Kapitalismus die Eigentumsordnung vertritt.

Wenn es gegen Lockerung des Hartz-IV-Regimes geht, wie kürzlich bei der Debatte um das Bürgergeld oder im Kampf gegen den Mietendeckel in Berlin – bei jeder noch so kleinen Reform, die die Lebensbedingungen von armen Menschen verbessern soll, verteidigt die AfD die Eigentumsordnung besonders vehement.

Der Publizist Stefan Dietl hat völlig recht, wenn er in der Jungle World kritisiert, dass die AfD-Aufmärsche der letzten Wochen als Sozialproteste bezeichnet werden. Nein, es sind nationalistische Proteste, die gerade eine Organisation von sozialen Protesten jenseits von Geschlechts- und Nationalitätszuschreibungen verhindern sollen.

An diesen Standort-Deutschland-Verteidigungsprotesten beteiligt sich auch ein Teil der Unterklassen, der die verstärkte Sichtbarkeit gesellschaftlicher Minderheiten bekämpfen will – und nicht etwa die kapitalistische Ausbeutung.

Während adelige Immobilienunternehmer oder eine Richterin mit AfD-Parteibuch in dieser Melange durchaus klassenbewusst sind, können sich prekär lebende Nationalisten dort von ihrem Engagement keine Verbesserung versprechen, sondern nur, allein dadurch nicht auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie zu stehen, dass es anderen noch schlechter geht.

Eine gesellschaftliche Linke müsste dagegen gemeinsame Interessen von Ausgebeuteten und unterdrückten Menschen in den Mittelpunkt rücken, wie es bei den Bündnissen „Umverteilen jetzt“„Wer hat, der gibt“ oder „Genug ist genug“ ansatzweise gelungen ist.

Ist die gesellschaftliche Linke damit erfolgreich, wird sie ebensolche Probleme mit den repressiven Staatsapparaten bekommen, wie sie jetzt schon Umweltaktivisten haben, die zivilen Ungehorsam leisten. Während die Massenmedien voll mit Berichten über die Staatsaktion gegen die radikalisierten rechten Bürger sind, geht unter, dass gegen Aktivsten der „Letzten Generation“ erneut Präventivhaft verhängt wurde. Ein Grund mehr, nicht plötzlich den starken Staat zu bejubeln, wenn er angeblich gegen die „Richtigen“ vorgeht.

Peter Nowak