Buchrezension Sozialistische Zeitung (SoZ), Januar 2024

Die Proteste gegen Hartz IV und Bürgergeld – Geschichte und Überblick
von Larissa Peiffer-Rüssmann

Anne Seeck u.a.: KlassenLos. ­Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten. Berlin: Die Buchmacherei, 2023. 256 S., 12 Euro

Wer Argumente gegen das Märchen vom Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland sucht und den Werdegang von Hartz IV bis zum Bürgergeld ausführlich verfolgen möchte, dem sei KlassenLos, das neue Buch der Berliner Buchmacherei über den Widerstand gegen ­HartzIV und andere soziale Widerstandsbewegungen, empfohlen. Dort wird das ganze Ausmaß der gesamtgesellschaftlichen Veränderungen ausführlich beschrieben. Gleichzeitig wird der soziale Widerstand gegen die Verarmung dargestellt. Dabei wird klar, dass eine neue Qualität des Widerspruchs erforderlich ist.

Hartz IV war kein Bruch mit dem bürgerlichen Sozialstaatsgedanken, es war schlicht die Anpassung an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse. Betroffene wurden in Arbeitsverhältnisse gezwungen, die sie weder beruflich weiterbrachten noch vor Armut schützten.
Allerdings wurde nicht mehr von Zwang gesprochen, sondern von »Angeboten« und von »Anreizen«. Profiteure waren die Unternehmen, die billige und wehrlose Arbeitskräfte bekamen. Politik und Medien erzeugten ein Klima der Stigmatisierung der Erwerbslosen und forderten eine Anpassung an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse.
Die Bertelsmann-Stiftung, die als Regierungsberaterin fungierte, prägte den Begriff »Fördern und fordern«, was in der englischen Arbeitsmarktpolitik mit »help and hassle« übersetzt wird, also helfen und drangsalieren. Damit ist die Situation der Erwerbslosen klar beschrieben.

Von Hartz IV zum Bürgergeld
Die Einführung des Bürgergelds im November 2022 wurde von Arbeitsminister Hubertus Heil als »die größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren« angepriesen. ­Harald Rein entlarvt in seinen Ausführungen das Gesetz als Teil einer sozialstaatlichen Verarmungspolitik und stellt fest, dass sowohl die Bewertung als auch die Behandlung von Erwerbslosen und Armen heute stellenweise noch genauso wirken wie vor hundert Jahren. Geändert haben sich nur die Begrifflichkeiten.
Nach einem ausführlichen Rückblick auf die Geschichte werden die einzelnen Veränderungen aufgelistet, vor allem in bezug auf die Einschränkung sozialer Rechte und Sanktionsregelungen. So hat sich unter den Sozialleistungsbezieher:innen ein Klima der Angst entwickelt.
Die Betroffenen sind häufig dem Gutdünken der Jobcenter ausgesetzt, denn die Paragrafen des Sozialgesetzbuchs werden oft willkürlich ausgelegt, zum Nachteil von Erwerbslosen und Armen. Da stellt sich folgerichtig die Frage nach einem Widerstand, der auch öffentlich wahrgenommen wird.

Struktur der Sozialproteste
In den folgenden Kapiteln werden die unterschiedlichen Protestformen ab 1995 analysiert, vom Aufbegehren regionaler Gruppen bis zu den Protesten der Gewerkschaften und Sozialverbänden sowie einzelner Initiativen. Die sehr unterschiedlichen Organisationen und ihre Zielrichtung werden aufgelistet, von den Anfängen der Proteste gegen Hartz IV über die Zeit mit Corona bis zum Herbst 2022. Es wird gründlich recherchiert und die Protestformen analysiert. Interviews mit Aktivistinnen und Aktivisten verdeutlichen die Schwierigkeiten, zu großen gemeinsamen Aktionen zu kommen.
Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit der Mieterbewegung, die sich in der Defensive befindet und neue Formen des Widerstands sucht. Außerdem geht es um die Energiekrise im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg und die explosionsartige Verteuerung der Grundnahrungsmittel. Gleichzeitig wird auch ein Blick in die Nachbarländer Frankreich, Italien und England geworfen, wo die Kampagnen sehr vielfältig waren und von deren Aktionsformen wir viel lernen können.
Am Ende stellt sich die Frage, welche gesellschaftliche Gruppe den Widerstand anführt und in der Lage ist, im Kampf gegen die herrschende Macht alle gesellschaftlichen Kräfte zu mobilisieren. Eines ist klar: Es muss etwas geschehen, damit die Herrschenden und ihre Lakaien nicht mehr ruhig in ihren Sesseln sitzen können.
Am Ende des Buches werden die Autorinnen und Autoren vorgestellt. Es ist eine bunt gemischte Gruppe. Besonders eindrucksvoll sind die Berichte und Interviews von und mit Frauen und Männern aus allen Schichten der Gesellschaft, es sind Aktive in der Szene des sozialen Widerstands, die hier zu Wort kommen, aber auch direkt Betroffene, die täglich ums Überleben kämpfen müssen, aber nicht aufgeben.
Es ist eine lesenswerte Darstellung von 20 Jahren sozialen Widerstands gegen Verarmung und Ausgrenzung.

https://www.sozonline.de/2024/01/notwendig-wie-eh-und-je/