Rezensionen des Buches


dérive N° 79 (Apr – Juni / 2020) 

Der Alltag, ein Kampf

Besprechung von »Umkämpftes Wohnen. Neue Solidarität in den Städten.« von Matthias Coers und Peter Nowak

dérive N° 79 (Apr – Juni / 2020) 

Matthias Coers & Peter Nowak
Umkämpftes Wohnen. Neue Solidarität in den Städten
Münster: edition assemblage, 2020
148 Seiten, 10 Euro


Die Prekarität des Alltags ist auch im reichen Deutschland mit seinen stolzen Budgetüberschüssen für viele Menschen längst gelebte Realität: Der Wohnraum ist kaum mehr finanzierbar und die Lohnarbeit so schlecht bezahlt, dass ein Job nicht mehr reicht, um über die Runden zu kommen. Für alle jene, die bereits am Arbeitsmarkt aussortiert wurden, warten die Demütigungen des Jobcenters oder des Sozialamts in Zeiten von Hartz IV. Angesichts dieser sozialen Verwerfungen besteht seit Jahren Verwunderung, warum es in Zeiten kontinuierlich ansteigender sozialer Ungleichheit und demokratiebedrohender Reichtumsverteilung emanzipatorischer linker Politik nicht gelingt, an politischer Relevanz zu gewinnen, sondern ganz im Gegenteil, die extreme Rechte mit ihrem autoritären Führerpopulismus weltweit punktet. Die Gesellschaft schafft sich ab, indem sie selbst nicht mehr an die Idee von Gesellschaft glaubt. Begriffe wie Solidarität verkommen zur hohlen Phrase einer radikalen Linken, die irgendwo zwischen autonomem Schrebergarten und angestaubten Slogans mäandert. »Was tun?« bleibt die Frage aller Fragen.
        Hier setzt der Sammelband Umkämpftes Wohnen. Neue Solidarität in den Städten der Herausgeber Peter Nowak und Matthias Coers an. In Interviews und Selbstreflexionen, entstanden in den Jahren 2015 bis 2019, porträtieren sie Suchbewegungen radikaler und autonomer linker Organisierungen im Stadtteil und wollen damit einen Beitrag zur Organisierungsdebatte innerhalb der Linken leisten. Entlang der Forderung »Solidarität muss praktisch werden« versuchen die im Buch versammelten AkteurInnen aus Deutschland, Polen, Griechenland und Spanien, Kämpfe um Wohnraum mit anderen Feldern des prekären Alltags zu verknüpfen. Schließlich steckt, wer seine Miete nicht mehr bezahlen kann, meist auch in prekären Arbeits- und Lebenssituationen mit Löhnen oder staatlichen Transferleistungen, die weit davon entfernt sind, die Lebenskosten zu decken. Der Stadtteil bildet den lokalen Anknüpfungspunkt an den Alltag, schafft Schnittmengen gemeinsamer Erfahrungswelten und ermöglicht den langfristigen Aufbau von Beziehungen und die Schaffung solidarischer Netzwerke.
        Das schließt an die Praxis des in den USA weit verbreiteten Transformative Community Organizing ebenso an wie an die Erfahrungen des sich weltweit ausbreitenden Neuen Munizipalismus, der Wege aufzeigt, wie institutionelle politische Macht in den Städten erobert und für emanzipatorische Ziele genutzt werden kann. Interessante Einblicke zum Aufbau der notwendigen Strukturen geben zwei Interviews aus Spanien: Carlos Macias, Sprecher der PAH Katalonien, nennt die Strategie der »kollektiven Beratung« das »Herz der PAH«. Unter dem Eindruck von 600.000 Zwangsräumungen als Folge der Wirtschaftskrise bei gleichzeitig 3,5 Millionen leerstehenden Wohnungen, organisierte die Plataforma de Afectados por la Hipoteca (Plattform der von Hypotheken Betroffenen) mittels kollektiver Hilfe-zur-Selbsthilfe-Treffen solidarischen Widerstand gegen Zwangsräumungen und direkte Aktionen in Bankfilialen, bei Politik und Verwaltung. Parallel entwickelte die PAH in verschiedenen selbstorganisierten Arbeitsgruppen politische Forderungen und Gesetzesvorlagen, Strategien für Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnen. Insgesamt geht es bei der PAH »sowohl um individuelle Lösungen für Betroffene als auch kollektive politische Lösungen«. Wie die Arbeit der PAH und anderer zivilgesellschaftlicher AkteurInnen innerhalb der Institutionen weitergetragen werden kann, erläutert Josep Maria Manta- ner. Der Senator für Wohnen in Barcelona, also jener Stadt, in der Ada Colau in ihrer bereits zweiten Amtsperiode als Bürgermeisterin der linken Wahl-Plattform Barcelona en Comú neue emanzipatorische Wege des Regierens beschreitet, bezeichnet das Ziel der linken Plattform »einen Umverteilungs-Urbanismus zu schaffen, der die Stadt ausbalanciert«.
        An diesen zwei Positionen wird auch eine kleine Schwäche der Publikation deutlich. Der Zeitraum der Gespräche erstreckt sich über fünf Jahre und eine Aktualisierung durch Anmerkungen der Herausgeber wäre gerade bei den älteren Texten wünschenswert gewesen. Auch eine den Interviews und Selbstbeschreibungen beigefügte Infobox würde dabei helfen, das geteilte Wissen besser einordnen zu können. So bleibt nur eine URL am Ende jedes Textes, um Näheres zu den Personen oder Initiativen zu erfahren.
        Eine Stärke der Publikation sind jedoch die mit großer Offenheit geführten Interviews und Selbstbeschreibungen, die Erfahrungen teilen, Fragen aufwerfen, Probleme in der politischen Arbeit klar benennen und nichts zu beschönigen versuchen, etwa wenn die Berliner Stadtteilinitiative Hände weg vom Weddingbisherige linke Organisierungsbestrebungen analysiert: »Inhalte und Diskussionsformen unserer Organisationsform, wie beispielsweise akademisierte Sprache, ausufernde Plenarsitzungen und eine Überbetonung der eigenen, individuellen Meinung stellen weitere Hemmnisse dar. Die Anschlussfähigkeit für Menschen, die nicht Anfang bis Ende 20 und ungebunden sind, im besten Fall aufgrund eines Studiums Zeit haben, sind schlichtweg nicht gegeben.« Gleichzeitig offenbaren die verschiedenen Ansätze den weit vernetzten Erfahrungs- und Wissensaustausch. So haben sich etwa Hände weg vom Wedding beim Aufbau ihres Kiezhauses Agnes Reinhold explizit vom kurdischen Rojava und seinen Strategien inspirieren lassen. Zahlreiche der porträtierten Stadtteil-Initiativen aus Deutschland, Polen, Griechenland, Spanien oder den USA berichten über ihren kontinuierlichen Erfahrungsaustausch im Aufbau von solidarischen Netzwerken, untereinander und international. Insgesamt zeigt die Gesamtschau der versammelten Momentaufnahmen, dass sich die Wohnungsfrage längst mit anderen Themen verknüpft. Der Fokus der Organisierungen wandert dabei von temporären Großevents in Richtung Aufbau von langfristigen solidarischen Strukturen mit gesellschaftlicher Breite. Gut so, wir werden sie brauchen.

Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive – Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.

https://derive.at/texte/der-alltag-ein-kampf/


Organisierte Solidarität im Alltag

Philipp Mattern im Magazin COMÚN

Der von dem Journalisten Peter Nowak und dem Filmemacher Matthias Coers herausgegebene Band „Umkämpftes Wohnen. Neue Solidarität in den Städten“ vereint Berichte über Solidarität aus zehn europäischen Städten, die in den Jahren 2015 bis 2019 entstanden sind. „Das Spektrum der zu Wort kommenden Initiativen reicht von Nachbarschaftsinitiativen, die bei Fragen des Wohnens unterstützen, über Gruppen, die im Feld Jobcenter- oder Lohnarbeits-Solidarität aktiv sind, einige mit explizitem Fokus auf die Situation von Frauen*, bis hin zu Zusammenhängen, die strategisch einen transformatorischen Organisierungsprozess vorantreiben“, heißt es in der Einleitung. 

Auffällig ist der ungewöhnliche Charakter der Texte. Interviews und Selbstbeschreibungen wechseln sich ab, eine Mischung aus Bilanzierung, Reflexion und Selbstvergewisserung der Befragten bietet Abwechslung, auch wenn sich beim Lesen mitunter das Gefühl einer gewissen Redundanz einschleicht. Es sind sehr ähnliche Fragen, Themen und Probleme, von denen die meist recht jungen Initiativen berichten. Die zentrale Figur ist das solidarische Netzwerk im Stadtteil; die wiederkehrenden Themen sind Arbeit, Jobcenter und Miete. Die Probleme betreffen das Verhältnis von organisierten Aktivist*innen und den sogenannten „normalen Leuten“, die oft beschworene aber selten realisierte Verbindung der unterschiedlichen Kämpfe, die Mühen der Basisarbeit sowie den Widerspruch zwischen kleinen Erfolgen und transformatorischen Großentwürfen. Das sind altbekannte Themen, aber was ist das Neue an der neuen Solidarität? 

„Der Zerfall einer Arbeiter*innenkultur und ihres Milieus, das sicherlich nicht idealisiert werden sollte, bedeutete u.a. den Wegfall einer solidarischen Kultur“, schreibt Nowak. Diese Entwicklung ging an der Linken nicht spurlos vorbei. „Seitdem sich der Großteil der radikalen Linken von Arbeitskämpfen entkoppelt hat und ohne gesellschaftlich verankerte Bewegung agiert, sind Events die vorherrschende Form der eigenen Politik geworden“, meint die Antifa »Kritik und Klassenkampf« aus Frankfurt am Main. Nicht zuletzt hieraus resultiert die „Unzufriedenheit mit bestehenden Ansätzen politischer Organisation“, wie die Initiative »Solidarisches Gallus« (ebenfalls aus Frankfurt), ergänzt. „Was uns dabei insbesondere gestört hat, ist die oftmals vorgenommene Trennung zwischen Alltag und politischem Aktivismus“. 

Die Kritik oder zumindest Skepsis gegenüber identitätspolitischen Praktiken, wie sie sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten – mal subkulturell, mal sektiererisch oder akademisch elitistisch – in Teilen der Linken durchgesetzt haben, zieht sich als roter Faden durch das Buch. Hieraus resultiert auch die äußerst reservierte Haltung gegenüber dem hergebrachten Repertoire von Kampagnen, Großevents und einer diskursorientierten Symbolpolitik. Zurück ins wirkliche Leben, und zwar auf dem Wege der organisierten Solidarität im Alltag: So könnte man die Stoßrichtung zusammenfassen. Und das ist in der Tat eine recht neue Entwicklung. 

Konkret erstreckt sich die geschilderte Praxis der solidarischen Netzwerke von der Begleitung zum Jobcenter über die Verhinderung von Zwangsräumungen bis hin zur „kollektiven Beratung“. Über Letztere berichtet zum Beispiel die die Erwerbsloseninitiative »BASTA!« aus Berlin: „Diese gemeinsamen Runden fördern das Bewusstwerden über das Unrecht und die verschiedenen Formen von Unterdrückung, es untergräbt die Einzelfallrhetorik“. Die Formulierung, es ginge der Initiative „explizit nur um Ausgebeutete und Unterdrückte, die sich aktiv gegen Ausbeutung und Unterdrückung zur Wehr setzten“, mag exklusiv klingen, letztlich handelt es sich aber um eine Absage an Servicementalität und Stellvertreterpolitik und einen Appell an die Wiederbelebung der etwas aus der Mode geratenen Idee der Hilfe zur Selbsthilfe. 

Dass die Texte teils schon einige Jahre alt sind, kann man bemängeln, fällt aber nicht allzu schwer ins Gewicht. Was zählt, ist die zum Tragen kommende Erzählung. Und für diese ist das Buch ein interessantes Zeugnis. Mitunter werden Bezüge auch zu vergangenen Organisierungsansätzen hergestellt, etwa zur Arbeitsfeldorientierung des »Sozialistischen Büros« oder der Bündnispolitik des »Kommunistischen Bunds«. Andernorts werden die Erfahrungen neuerer Versuche wie den »Solidarity Networks« in den USA, allen voran Seattle, als Bezugspunkte genannt. Neben den Beiträgen zu elf in Deutschland ansässigen Initiativen gesellen sich fünf weitere aus Athen, Mailand, Poznan und Barcelona. Das Buch stellt in seiner Breite ein lesenswertes Zeitdokument der Neukonsolidierung einer an Klassenpolitik und Basisarbeit orientierten Linken dar. 

▶ Peter Nowak/Matthias Coers (Hrsg.): Umkämpftes Wohnen. Neue Solidarität in den Städten, Edition Assemblage, Münster 2020, 144 Seiten, 10 Euro 

Rezension: Philipp Mattern ist aktiv im Berliner MieterGemeinschaft e.V. und Herausgeber des Sammelbandes „Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute“, der 2018 bei Bertz + Fischer erschien.

COMÚN #3 15. Mai 2020 als PDF

Rezension im MieterEcho

Solidarität in der Krise

Der Sammelband „Umkämpftes Wohnen“ verschafft Einblicke in die nachbarschaftliche Organisierung

Von Philipp Möller          

Während der COVID-19-Pandemie haben sich in vielen Kiezen und Hausgemeinschaften Solidaritäts-Netzwerke gegründet. In Chatgruppen oder per Aushang bieten Nachbar/innen besonders gefährdeten Menschen Hilfe bei Einkäufen an, es werden Anleitungen zum Nähen von Masken geteilt oder gemeinsam eine Zeitung gestaltet. Die Initiative dafür geht häufig von Gruppen und Zusammenschlüssen aus, die wie „Hände weg vom Wedding“, die „Kiezkommune“ oder die „Solidarische Aktion Neukölln“ bereits seit Längerem in ihren Kiezen politisch arbeiten. In den vergangenen Jahren entstanden in Berlin wie auch bundes- und europaweit neue Stadtteilgruppen, die der gesellschaftlichen Vereinzelung im Neoliberalismus mit dem Aufbau solidarischer Strukturen begegnen.

Diese Bewegung begleitete von Anfang an eine lebendige Debatte. Der vom Filmemacher und MieterEcho-Bildredakteur Matthias Coers gemeinsam mit dem Journalisten Peter Nowak herausgegebene Band „Umkämpftes Wohnen“ versammelt nun verschiedene Beiträge dieser Diskussion. Darin finden sich theoretische Analysen, Erfahrungsberichte und Strategiepapiere verschiedener Gruppierungen aus dem ganzen Bundesgebiet. Sie erzählen die Geschichten von gemeinsamen Kämpfen gegen die Zumutungen von Jobcentern, der Verhinderung von Zwangsräumungen und dem Aufbau von Stadtteilläden. Berichtet wird von Erfolgen wie Niederlagen im zähen Ringen um eine Alternative zum Kapitalismus. Die Hinwendung zu sozialen Kämpfen und die Organisierung von populären Klassen außerhalb der linken Szeneblase werden dabei als Grundlage dieser Alternative gesehen. Gemeinsamer Bezugspunkt ist dabei der Kiez beziehungsweise die Nachbarschaft. Interviews mit Initiativen, die die Herausgeber auf ihren Reisen für Filmvorführungen und Vorträge quer durch Europa befragten, erweitern den Blick über Deutschland hinaus. Sie verdeutlichen, dass bei allen lokalen Unterschieden der neoliberale Stadtumbau und die Folgen jahrelanger Austeritätspolitik eine grenzübergreifende Erfahrung darstellen und zugleich eine gemeinsame Perspektive des Widerstands eröffnen: Solidarität – lokal wie international.

MieterEcho Nr. 409 Mai 2020 als PDF

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2020/