Wahrscheinlich unwahrscheinlich Harald Rein antwortet auf Peter Nowaks »Teil der Kämpfe«

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In: express 6/2021

Peter Nowak hat sich in einer Replik (express 5/21) mit meinen Ausführungen über das nicht vorhandene Bündnis zwischen Bewegungslinken und Erwerbsloseninitiativen (express 3- 4/21) geäußert (https://peter-nowak-journalist.de/2021/06/13/teil-der-kaempfe/). Er fordert mehr Differenziertheit bezüglich meines Hinweises, dass Erwerbslosengruppen den Einfluss von Großorganisationen, etwa auch Gewerkschaften, möglichst klein halten sollten. Seine Kritik beruht auf dem Hintergrund, dass der Großteil von einkommensarmen Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeitet und deshalb der Kampf für höhere Löhne, egal ob mit oder ohne DGB, prioritär sei.

Natürlich kann ich zwischen Gewerkschaftsführung und Basis unterscheiden und mir ist auch bekannt, dass es Gewerkschaftskreise gibt, die gegenüber Erwerbslosengruppen offen sind und mit denen ein solidarisches Miteinander möglich ist. Aber in über dreißig Jahren Protesterfahrung haben sich große Teile der Gewerkschaften (und nicht nur die Führungs- etagen) gegen selbstbestimmte Formen des Erwerbslosenprotestes gewandt, und zwar immer dann, wenn ihre eigenen inhaltlichen Positionen (›Arbeit über alles‹) in die Kritik gerieten oder die Bündnispartner (SPD) von Erwerbslosen direkt angegriffen wurden. Maulkörbe, Druckverbote und Raumkündigungen waren dann nicht selten das Resultat – was selbst- verständlich auch für Kirchen und Wohlfahrtsverbände gilt. Auf dieser Ebene ist mein Ratschlag zu verstehen, sich nicht zu stark mit Großorganisationen einzulassen.

Es seien hier aber noch zwei weitere Punkte genannt: Wenn es um Armut geht, reicht es nicht, auf prekär Beschäftigte und deren mögliche Kämpfe zu verweisen. Diese sind natürlich unterstützenswert, und je häufiger sie stattfinden, umso deutlicher kündigen sich gesellschaftliche Veränderungen an. Aber was ist mit den anderen Armen der Gesellschaft? So lebten 2018 knapp sechs Millionen Menschen in einem Hartz IV-Haushalt, wovon 4,1 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter waren. Von diesen arbeiteten aber nur 15 Prozent in meist prekärer Arbeit. Der Rest, also 85 Prozent konnte nicht (Pflege, Kinder, Ausbildung), war in Weiterbildung oder Ein-Euro-Job, war krankgeschrieben oder über 58 Jahre und erhielt kein Jobangebot mehr. Nicht genannt sind diejenigen, die nicht arbeiten dürfen (Geflüchtete usw.) oder sich aus Scham bzw. Unwissen nicht beim Amt melden. Streiks, so wichtig sie sind, können diesem Personenkreis nicht helfen. Und auch die oft genutzte Formulierung »Von Arbeit muss man leben können, ohne Arbeit auch« kommt leicht über die Lippen, sagt aber konkret nur wenig aus, denn in der Regel bedeutet es, dass die Lohnarbeit höher bewertet wird als die Grundsicherungsleistungen. Die Hierarchie ist klar: Wer erwerbsarbeitet, hat mehr verdient als die »untätigen« Leistungsbezieher:innen. Das Lohnabstandsgebot funktioniert in den Köpfen, auch bei Linken und besonders in den Gewerkschaften. Hier dürfte auch der größte Widerspruch zwischen den Interessen von Beschäftigten und Erwerbslosen liegen, nicht nur aktuell, sondern auch historisch gesehen. Kämpfe von Erwerbslosen wurden in die Arbeiterbewegungsgeschichte aufgesaugt, ohne dass sich etwas Grundsätzliches im Leben der Erwerbslosen veränderte. Die Eigeninteressen der Armutsbevölkerung nach ausreichenden Existenzmitteln gerieten erst dann an die Öffentlichkeit, wenn sich der Unmut in radikalen Formen ausdrückte. Bis dahin gab es immer wieder Vertröstungen, Diffamierungen oder Weiterleitungen an die zuständigen Instanzen von Politik, Parteien und Gewerkschaften. Aus diesen Erfahrungen heraus hat sich die Notwendigkeit einer eigenständigen, auch organisatorischen Praxis von Erwerbslosen- interessen ergeben. Ich warne vor einer allzu großen Abhängigkeit von Großorganisationen, die nicht selten zu einer vollkommenen Übernahme bestimmter Initiativen, etwa Beratungsstellen, führte. Spezifische Forderungen und radikale Praxis waren damit ausge- schlossen, mancher ver.di-Erwerbslosenausschuss kann davon ein Lied singen!

Ob es bereits, wie Nowak behauptet, neue Solidaritäten in den Städten gibt? Das wäre wünschenswert, aber Berlin dürfte vorerst ein Einzelbeispiel sein.

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