Ella/UP1: Gefangenschaft überwinden! Aufruf zu Waldverteidigung und Personalienverweigerung Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2025 112 Seiten, 12,90 Euro ISBN 978-3-939045-55-7
Die gewaltfreie Aktivistin Ella schreibt über ihre Zeit im Gefängnis Jetzt gibt es die Gelegenheit, mit ihr über ihre politischen Positionen zu streiten. Das erscheint nach der Lektüre ihres Buches besonders notwendig. aber, dass eine solche Diskussion nur außerhalb des Gefängnisses geführt werden kann.
Als „UWP1“ wurde sie vom Gefängnispersonal angesprochen, „unbekannte weibliche Person 1“. In der linken Öffentlichkeit wurde sie unter dem Namen Ella bekannt. Sie protestierte im besetzten Dannenröder Forst in Osthessen gegen den Autobahnbau, wurde bei der Räumung im November 2020 verhaftet und weigerte sich, …
»Ella« berichtet über die Besetzung des Dannenröder Forsts und ihre 529 Tage in Haft. Die Aktivistin erinnert sich, wie sie die Nachrichten im Gefängnis erreichten und immer wieder Mut gaben. Ella berichtet aber auch von Tagen der Verzweiflung und Niedergeschlagenheit. Sehr gut beschrieben ist ihr Kampf um vegane Ernährung hinter Gittern, der Ella viel Kraft kostete und sie gesundheitlich stark schwächte. Am Ende aber war sie erfolgreich.
UWP1 wurde sie vom Gefängnispersonal angesprochen. Es ist die Abkürzung für »Unbekannte weibliche Person« Numero 1. In der linken Öffentlichkeit wurde sie unter dem Namen Ella bekannt. Sie ist bei der Räumung des Dannenröder Forsts (»Danni«) in Osthessen im November 2020 verhaftet worden und weigerte sich hartnäckig, ihren Pass zu zeigen. Weil sie auch ihre Fingerkuppen bearbeitet hatte, damit keine Abdrücke genommen werden konnten, war eine Identifikation nicht möglich. 529 Tage musste Ella in der Frankfurter JVA in Haft verbringen. Die Kampagne »Free Ella« sorgte dafür, dass …
Am Samstag um 12 Uhr soll über die Theorie und Praxis der deutschen Stadtguerilla diskutiert werden. Das ehemalige RAF-Mitglied Margrit Schiller wird am Sonntag um 10 Uhr über ihre Fluchtgeschichte berichten, über die sie ein Buch geschrieben hat. Eine „antipolitisch-sozialrevolutionäre Tendenz“ will am Sonntag ab 14.30 Uhr ihre Thesen zur „Möglichkeit der Weltrevolution“ vorstellen.
Im NewYorck, dem Ostflügel des ehemaligen Bethanienkrankenhauses in Kreuzberg, soll sich vom 5. bis zum 8. September alles um das anarchistische Buch drehen. Dort finden die anarchistischen Buchtage statt. Es gehe ihnen nicht darum, nur einige Bücherstände aufzustellen, betonen die Veranstalter*innen. „Nein es reicht nicht aus, denn was wir wollen, sind …
Eva Brunnemann, Tobi Rosswog (Hrsg): VW heißt Verkehrswende Konversion und Vergesellschaftung zwischen Theorie und Praxis Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2024 70 Seiten, 5 Euro ISBN 978-3-939045-52-6
Eine Broschüre zeigt, wo der Schlüssel für eine Verkehrswende liegt, die wirklich funktioniert. Interessant ist auch der Beitrag des langjährigen Bochumer Opel-Betriebsrats Wolfgang Schaumberg, der auch als Rentner noch seine Erfahrungen über linke Betriebsarbeit vermittelt.
VW steht für Volkswagen, den Inbegriff des deutschen Automythos – bekanntlich mit NS-Hintergrund …
Im Buch erfahren wir vom Kampf einer mutigen Sozialistin und
Feministin, die keine aufgezwungenen Linien anerkennt und daher auch manchmal mit eigenen Genoss:innen in Konflikt geriet. Auch heute noch wird Pinar Selek von der türkischen Diktatur verfolgt. Am 28. Juni wird in Istanbul erneut ein Prozess gegen sie eröffnet
«Ich wurde mit Gewalt eingeschlossen, wie eine Schauspielerin», sagte die Soziologin Pinar Selek über die Repression des türkischen Staates, die sie jetzt fast 30 Jahre erfährt. Im Juni 1998 explodierte auf einem Markt in Istanbul eine Gasflasche. Doch die türkische Justiz fabriziert daraus einen …
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Repression des türkischen Staates,
die sie jetzt fast 30 Jahre erfährt.
lm Juni 1998 explodierte auf einem
Markt in Istanbul eine Gasflasche.
Doch die türkische Justiz fabrizierte daraus einen Anschlag der kurdischen
Arbeiter"innenpartei (PKK) mit Selek als Verantwortlicher. Seitdem erlebt die Soziologin eine Odyssee von Verfolgung, Verhaftung, Folter. Schtießlich konnte sie in Ausland fliehen
und lebt heute in Frankreich.
Aber dem Langen Arm der türkischen Justiz kann sie bis heute nicht entfliehen. Reisen außerhalb von Frankreich könnten eine erneute Inhaftierung und womöglich eine AusLieferung in dLe TürkeL zur Folge haben. Denn die türkischen Behörde haben einen internationalen Haftbefehl gegen Selek ausgestellt. Wenn auch ihr Aktionsradius durch die türkische Justiz noch immer beschränkt ist, so haben wir doch die Gelegenheit mehr über diese Frau, ihre Gedanken und Träume zu erfahren. Unter dem Titel …
Es ist zu begrüssen, dass der Verlag Graswurzelrevolution das bereits 2009 in den USA erschienene Buch von Lou Marin ins Deutsche übersetzt, veröffentlicht hat. Wird doch mit der Kibbuzim-Bewegung an ein wichtiges soziales Experiment erinnert, das einmal Menschen in aller Welt faszinierte.
„Von allen utopischen Sozialexperimenten ist die Kibbuz-Bewegung Israels zugleich ein Archetyp und eine einzigartige Ausnahme. Aus einer reizlosen Ansammlung von Lehmhütten am Ufer des Flusses Jordan nahm die nahe liegende Idee einer kommunitären Gesellschaft ohne Ausbeutung und Herrschaft in Palästina schnell Gestalt an und erblühte in einem Netzwerk egalitärer Gemeinschaften“, schreibt der britische Politikwissenschaftler James Horrox in einer leidenschaftlichen Streitschrift, in der er …
. Ob vor Flüchtlingsheimen, Gefängnissen oder im Kohletagebau bei Garzweiler, immer wieder lässt Lebenslaute widerständige Töne in einer unmenschlichen Umgebung laut werden. Da#bei fragen die Musiker*innen nicht bei denen um Erlaubnis, die für diese Zustände verantwortlich sind.Deshalb wurde Iskenius wegen Hausfriedensbruchs verurteilt. Mit dem Konzert im vorigen August hatten er und seine Mitstrei#ter*innen die Unterbrechung der Kohleab#aggerung für mehrere Stunden erreicht.
6050 Euro Strafe soll Ernst-Ludwig Iskenius zahlen. Dazu wurde der Arzt vom Amtsgericht Grevenbroich am 12. Mai verurteilt. Iskenius ist gesellschaftspolitisch unter anderem in der Friedensorganisation IPPNW und der Musikgruppe Lebenslaute engagiert. Seine zivilgesellschaftlichen Aktivitäten sind auch Grund für die hohe Strafe.Ihm wurde zur Last gelegt, im vorigen Jahr am 15. August …
Anton Brokow-Loga, Frank Eckardt: Stadtpolitik für alle Städte zwischen Pandemie und Transformation Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2021 62 Seiten, 9,90 Euro ISBN 978-3939045-45-8
Der knappe Text liefert viele Anregungen für eine an den Belangen der Mehrheit interessierte Stadtpolitik. Das einzige Manko ist die sehr pessimistische Sicht auf die aktuelle Stadtentwicklung.
Während der Corona-Krise waren manche Veränderungen in den Städten, über die lange gesprochen wurde, auf einmal in kurzer Zeit durchsetzbar. Erinnert sei nur an die neuen Fahrradstreifen in vielen Großstädten, die schnell eingerichteten Spielstraßen in vielen Stadtteilen und die Erweiterung von Restaurantflächen auf Parkplätze. Das sind nur einige Beispiele, wie unter Corona-Bedingungen der bisher unumschränkten Herrschaft des Automobils in den Städten Grenzen gesetzt wurden. Daher ist es sehr zu begrüßen, wenn sich Menschen verstärkt über die Stadt von morgen Gedanken machen. Dazu tragen Anton Brokow-Loga und Frank Eckardt mit ihrem Büchlein bei. Ihr erklärtes Ziel ist, die Veränderungen im Stadtbild …
Anatole Dolgoff: Links der Linken. Sam Dolgoff und die radikale US-Arbeiterbewegung. Verlag Graswurzelrevolution, Münster 2020, 426 Seiten, 24,90 Euro
Anatole Dolgoff porträtiert seinen Vater Sam Dolgoff, der Malerarbeiter, Anarchist und Wobbly war, und erzählt eine subjektive Geschichte der radikalen Arbeiterbewegung in den USA im 20. Jahrhundert.
Das Cover des gerade auf Deutsch erschienenen Buchs »Links der Linken« von Anatole Dolgoff zeigt dessen Vater Sam Dolgoff, einen Mann mit Brille und einem verschmitzten Lachen. Geboren 1902 in einem weißrussischen Schtetl, wanderte er als Kind mit seinen Eltern in die USA aus und gehörte zu den Mitgründern der Industrial Workers of the World (IWW), deren Mitglieder oft als Wobblies bezeichnet werden. Zusammen mit seiner Ehefrau Esther stand er lange Zeit im Zentrum des …..
Der Rückblick auf anarchistische Gesellschaften im Altertum kann aber nur bedingt Anregungen für heute geben. Die Frage, wie in einer hochtechnologisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eine herrschaftsfreie oder herrschaftsarme Gesellschaft aussehen könnte, ist in aktuellen Kämpfen zu beantworten. Zudem: Auch herrschaftslose Gesellschaften kannten Strafen und Zwang, und die Geschlechterverhältnisse waren durchaus nicht egalitär.
Noch immer setzen viele linken Autor*innen Anarchie mit Chaos und Gewalt gleich. Die Vorstellung von herrschaftsfreien Gesellschaften wird auch in großen Teilen der Sozialwissenschaft bestritten oder auf vormoderne Gesellschaften beschränkt. Für die Gegenwart jedenfalls wird diesen kein hoher politischer Stellenwert beigemessen. Die Kulturwissenschaftler Thomas Wagner und Rüdiger Haude haben bereits 1999 …..
Sebastian Kalicha würdigt den gewaltfreien Anarchismus
»Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution« lautete das Credo des holländischen Anarchisten Bart de Ligt. Das mag alle überraschen, die Anarchismus noch immer mit Chaos und Gewalt in Verbindung bringen. Doch damit wird schlichtweg die lange Tradition eines gewaltfreien Anarchismus und Syndikalismus ignoriert, die Einfluss in vielen linken Bewegungen in aller Welt hatte und hat.
Der Wiener Autor Sebastian Kalicha hat sich seit Jahren mit dieser gewaltfreien Strömung befasst und sie in verschiedenen Veröffentlichungen bekannt gemacht. Jetzt begab er sich erneut auf die Suche nach den historischen Wurzeln und Spuren des anarchistischen Pazifismus. Es ist nur konsequent, dass sein sachkundiges wie streitbares Buch im Verlag Graswurzelrevolution erschienen ist, einem Editionshaus, das zur Infrastruktur der gewaltfreien Bewegung gehört und auch regelmäßig eine Zeitschrift gleichen Namens herausgibt.
Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel geht es um die theoretischen Grundlagen der gewaltfreien Bewegung, im zweiten werden 55 bekannte und unbekannte Aktivisten und Aktivistinnen vorgestellt, und im dritten Teil folgt ein Überblick über Organisationen und Bündnisse, die sich in der Vergangenheit und in der Gegenwart teilweise oder vollständig mit gewaltfreier Theorie und Praxis beschäftigen.
Als zentral für das theoretische Fundament der gewaltfreien Bewegung nennt der Autor die Zweck-Mittel-Relation, nach der mit Gewalt eine Bewegung vielleicht siegen kann, aber selber wieder neue Gewalt reproduziert. Dabei wird allerdings ausgeblendet, dass es historische Situationen geben kann (und auch hinlänglich gab), in denen auch überzeugte Gewaltfreie von diesem Credo abweichen müssen. Erinnert sei an den jüdischen Anarchisten Pierre Ruff, der im Zweiten Weltkrieg den Mut der Kommunisten lobte und hoffte, dass die Rote Armee das NS-System zerschlägt. Ruff erlebte die Befreiung nicht mehr, er starb im KZ Neuengamme.
In oder aus der Not geborene Widersprüche erkannten auch viele andere Gewaltfreie, was sie auch sympathisch macht. Zeigt dies doch zugleich, dass sie keine Doktrinären sind, sondern ihre Überzeugungen an der konkreten Praxis überprüfen und auch mitunter revidieren. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Kalicha den Mut aufgebracht hätte, diesen Widersprüchen in den 55 Kurzporträts von Menschen aus aller Welt Raum zu geben.
Der Autor erinnert an prominente Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi, Leo Tolstoi und Albert Camus, Bertram Russell und Aldous Huxley. Erfreulicherweise sind in dem Buch auch viele Frauen porträtiert, die Teil der gewaltfreien Bewegung waren und – wie in anderen Teilen der Linken – oft im Schatten der vermeintlich bedeutsameren männlichen Mitstreiter standen. Simone Weil gehört noch zu den einigermaßen bekannten Frauen der anarchistischen Bewegung. Doch wer kennt Marie Kugel, Ethel Mannin, Dorothy Mannin, Judi Bari und Utah Philips? Sie waren zu unterschiedlichen Zeiten aktiv und blieben ihren Überzeugungen zeitlebens treu, obwohl sie oft noch stärker von Repression betroffen waren als die Männer.
Erfreulich ist, dass Kalicha der syndikalistischen Strömung große Aufmerksamkeit widmet. Dieser Strang der Arbeiterbewegung zählte den Generalstreik und die direkte Aktion zu seinen Kampfformen. Die Syndikalisten lehnten die Verletzung von Personen ab, nicht aber Sachbeschädigung oder die Besetzung von Fabriken. Nur wenige von ihnen bezeichneten sich explizit als Anarchisten oder Anarchistinnen. Henriette Roland Holst, ebenfalls hier porträtiert, gehörte zur holländischen marxistischen linkskommunistischen Schule, die die Oktoberrevolution begrüßte, aber die folgende Entwicklung der Sowjetunion ablehnte.
Im letzten Kapitel zeigt Kalicha auf, welchen Einfluss gewaltfreie Theorien und Praktiken auf die Antikriegs- und Ökologiebewegung hatten. Die holländische Provobewegung beeinflusste beispielsweise die westdeutschen Spontis. Weniger bekannt ist die holländische Kabouter-Bewegung, die Kalicha als »freundliches Gesicht des Kropotkinismus« einführt. Interessant ist, dass die Kabouter Mitte der 1970er Jahre Wahllisten aufstellten und die Theorie vom parlamentarischen und außerparlamentarischen Standbein in die Diskussion brachten, die einige Jahre später die Grünen in der Bundesrepublik übernahmen. In einem sehr kurzen Kapitel geht Kalicha auch auf die Inspiration der gewaltfreien Anarchisten für die Oppositionsbewegung in der DDR ein. Dabei wird vor allem auf die Dresdner Gruppe »Wolfspelz« hingewiesen. Auch der israelischen Gruppe »Anarchists against the Wall« ist ein kurzes Kapitel gewidmet. Ausführlicher wird die globalisierungskritische Bewegung, darunter Occupy, behandelt. Gewaltfreie Aktionsformen werden hier mit einer marxistischen Staatskritik verbunden, was sehr zu begrüßen ist. Denn der Marxismus braucht die libertäre Staats- und Machtkritik ebenso, wie die Anarchisten von der oft moralisch grundierten Staatsablehnung der Marxisten lernen können.
Sebastian Kalicha: Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus.
Auf den Spuren einer revolutionären Theorie und Bewegung. Graswurzelrevolution, 278 S., br., 16,90 €
Die »Graswurzelrevolution« feiert ihren 45. Geburtstag. Sie ist das einzige anarchistische Printmedium des Landes.
Vielleicht hat sich der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen, Winfried Nachtwei, um die linke Publizistik verdient gemacht – auch wenn es gar nicht seine Intention war. 2001, als die Grünen zumindest im westfälischen Münster noch eine gewisse Distanz zur Bundeswehr ausdrücken wollten, geriet er mit einem Lehrbeauftragten der Universität aneinander. Bernd Drücke, tätig am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität, beschuldigte Nachtwei, bei einem großen Zapfenstreich der Bundeswehr auf der Bühne gestanden zu haben. Nachtwei bestritt das vehement, bezichtigte Drücke der Verleumdung – und musste schließlich doch zugeben, dass der Soziologe die Wahrheit gesagt hatte. Was nichts daran änderte, dass man am Lehrstuhl gründlich angefressen war. Einige, die in der akademischen Hierarchie über Drücke standen, betrachteten es als Majestätsbeleidigung, einen Politiker der Grünen öffentlich vorzuführen. Drücke flog raus, er verlor seine Stelle am Lehrstuhl für Soziologie und konzentrierte sich fortan ganz auf seine journalistische Tätigkeit bei einer Zeitschrift, für die der Anarchist und Pazifist regelmäßig Artikel geschrieben hatte: die Graswurzelrevolution – kurz auch GWR genannt.
Bis heute ist Drücke verantwortlicher Redakteur der GWR. Sicherlich ist es zum großen Teil sein Verdienst, dass das Monatsblatt bald seinen 45. Geburtstag feiern kann. Die Nullnummer der GWR erschien im Juni 1972.
Mit ihrer strikten Ablehnung jeglicher Gewalt hat sich die »GWR« auch bei Teilen der radikalen Linken Kritik eingehandelt.
Drücke hat dafür gesorgt, dass die Zeitschrift, deren Titel nach einer Mischung aus Guerilla Gardening und Landkommune klingt, auch von Kulturlinken und marxistischen Ideologiekritikern gelesen wird. Überhaupt ist das Blatt berüchtigt für diesen Spagat. In der aktuellen Ausgabe, der 419., berichten zwei Kommunen aus ihrem Alltag. Wenige Seiten weiter beschäftigt sich ein hochkomplexer Text mit der Kritik an Gewalt und im hinteren Teil der Ausgabe sind philosophisch unterfütterte Diskussionsbeiträge zu der Frage abgedruckt, ob es eine Natur des Menschen gebe. Das glaubten bekannte Anarchisten wie Pjotr Kropotkin, die der Ansicht waren, der Mensch sehne sich von Natur aus nach Freiheit und selbstbestimmten Kollektiven. Andere widersprachen vehement und warnten, dass Anarchisten mit unbewiesenen anthropologischen Grundannahmen ihrer Sache eher schadeten als nützten.
Doch nicht nur Themen, die die anarchistische Szene im engeren Sinne betreffen, werden in der GWR diskutiert. So hat Jens Kastner in der Ausgabe vom Dezember 2016 die postkolonialistische Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak wegen ihres Antizionismus heftig kritisiert. Für Drücke ist diese Mischung aus Kommunebericht und Theorie Programm.
»Es gibt in der undogmatischen linken Szene einen Bedarf sowohl nach libertärsozialistischen Theorien und Utopien als auch nach Gegenöffentlichkeit und kontroverser Diskussion«, sagt er der Jungle World. »Wir versuchen, das als Sprachrohr gewaltfreier, anarchistischer, antimilitaristischer, profeministischer und anderer sozialer Bewegungen abzudecken.« Ein schwarzroter Faden, der sich durch sämtliche Ausgabe zieht, ist der Antimilitarismus: »Kritik an Kriegseinsätzen und Aufrüstung suchen wir in den meisten Medien vergeblich. Wir wollen der militaristischen Propaganda etwas entgegensetzen«, schreibt Drücke im Editorial der Mai-Ausgabe. Es folgt unter anderem ein Beitrag über die Pläne, die Wehrpflicht in Frankreich wieder einzuführen. Ein Vorhaben, das nicht nur von Marine Le Pen und Emmanuel Macron, sondern auch vom linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon unterstützt wird. Die GWR widmet sich diesem Thema in einer Ausführlichkeit, die im deutschsprachigen Raum einzigartig sein dürfte.
Das liegt auch an der Geschichte dieses Mediums. Die 1972 gegründete GWR hatte ein politisches Anliegen, das einige Autoren auf den Libertären Tagen, einem bundesweiten Anarchistentreffen 1993 in Frankfurt am Main, so beschrieben: »Die Zeitung GWR war mit dem Ziel angetreten‚ den Zusammenhang zwischen den beiden konsequentesten Handlungsansätzen gegen Herrschaft und Gewalt, zwischen Gewaltfreiheit und libertärem Sozialismus, aufzuzeigen und dazu beizutragen, dass die pazifistische Bewegung sozialistisch und die linkssozialistische Bewegung in ihren Kampfformen gewaltfrei werde.«
Über mehrere Jahre war die GWR eng mit der Föderation gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA) verbunden. 1980 als bundesweites Netzwerk anarchopazifistischer Gruppen mit antimilitaristischem Schwerpunkt gegründet, wurde die FöGA vom Verfassungsschutz als »größte anarchistische Organisation der Nachkriegszeit« bezeichnet. Von 1981 bis 1988 gab sie die GWR heraus, beteiligte sich an der Antiraketenbewegung in den achtziger Jahren und nutzte gewaltfreie Aktionen wie Sitzblockaden. Von der Krise der gesamten Friedensbewegung blieb sie nicht verschont. 1997 löste sich die FöGA ausgerechnet in einer Zeit auf, in der Deutschland wieder begonnen hatte, offen Kriege zu fühen. Die GWR, die seitdem von einem unabhängigen Kreis von etwa 45 Personen herausgegeben wird und alle Entscheidungen basisdemokratisch fällt, setzt die Kritik am Militarismus in Staat, Gesellschaft und auch in der Linken konsequent fort.
Dabei landet Drücke gerne mal zwischen allen Stühlen, wie er am Beispiel des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland aufzeigt: »Wir lassen Anarchisten und Antimilitaristen aus Russland und der Ukraine zu Wort kommen, unterstützen die Deserteure und Verweigerer aller Kriegsparteien und agitieren sowohl gegen das homophob-autoritäre Putin-Regime als auch gegen Nato, EU, ukrainische und ostukrainische Nationalisten.« So vermittelt die GWR auch jüngeren Lesern eine Vorstellung von einer antimilitaristischen Bewegung, die sich vom Mainstream der deutschen Friedensbewegung, deren Hauptfeind noch immer die USA sind, unterscheidet.
Mit ihrer strikten Ablehnung jeglicher Gewalt hat sich die GWR auch bei einigen radikalen Linken Kritik eingehandelt. Heute sind es aber nicht mehr primär die Militanzdebatten, die harsche Leserreaktionen hervorrufen. »Auf unsere Beiträge zum Thema Critical Whiteness gab es sowohl positive als auch negative Rückmeldungen«, berichtet Drücke. Solche Auseinandersetzungen bewertet er positiv. »Die anarchistisch-gewaltfreie, profeministische Lupe ist manchmal auch ein gutes Hilfsmittel gegen Sektierertum, damit das Denken die Richtung wechseln kann«, so Drücke. Er ist optimistisch, dass die GWR in Zukunft eine noch größere Rolle als Stimme gegen die herrschenden Verhältnisse spielen wird. Schließlich haben die beiden anderen größeren anarchistischen Printmedien ihr Erscheinen mittlerweile eingestellt. Die Publikation Schwarzer Faden gibt es bereits seit 2004 nicht mehr. Im vergangenen Jahr hat auch die Direkte Aktion, die Zeitung der FAU, ihre Printausgabe eingestellt. Die Entscheidung wird von Drücke noch heute heftig kritisiert.
In der kommenden Ausgabe der GWR, die am 8. Juni erscheint, wird es einen Schwerpunkt zum 45. Geburtstag der Zeitschrift geben. Die Jungle World gratuliert recht herzlich.
https://jungle.world/artikel/2017/22/feiern-statt-feuern
Peter Nowak
Hinweis auf den Artikel im Editorial der gwr:
im Juni 1972 erschien die Nullnummer der Graswurzelrevolution. Heute, 45 Jahre später, haben wir für Euch aus diesem Anlass eine dicke Jubiläumsausgabe mit 28 statt 24 Seiten im Berliner Tageszeitungsformat produziert.
In den 45 Erscheinungsjahren stand die GWR selten so im Fokus anderer Medien wie heute.
In den letzten Wochen tummelten sich mehrere Zeitungs-, Fernseh- und RadiomacherInnen in unserem kleinen Redaktionsbüro in Münster. Der WDR, NRWision-TV (1), Antenne Münster, die Westfälischen Nachrichten, Radio Q, diverse Bürgerfunk- und Video-Gruppen (2) berichteten unter anderem über den von uns initiierten ersten FreeDeniz-Fahrradkorso für die Pressefreiheit (vgl. GWR 418) oder über Veranstaltungen mit GWR-Beteiligung. (3)
Eine mexikanische Filmemacherin und ein US-amerikanischer Kameramann führten im Mai auf Englisch ein langes Interview u.a. zur GWR-Geschichte mit mir. Der Film ist eine Uni-Arbeit und soll bald auch auf youtube zu sehen sein.
Der WDR besuchte zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen für mehrere Stunden das GWR-Büro und machte für die Aktuelle Stunde (Lokalzeit Münsterland) einen Fernsehbeitrag zum Internationalen Tag der Pressefreiheit am 3. Mai (4).
Die taz erwähnte am 31. Mai 2017 in ihren Schwerpunkt zum Thema Gegenöffentlichkeit unter dem Titel „Eine ganz andere Sicht. Geschichte linker Medien im Überblick“ u.a. auch die GWR:
„Von den Achtundsechzigern über Spontis bis zur Frauenbewegung entstanden teilweise mythenhafte, sagenumwobene Publikationen. Manche Blätter starben jung, andere hielten sich bis heute und neue kamen dazu. (…) Die Graswurzelrevolution lebt seit 1972, erscheint monatlich und wird mit Text von Menschen aus aller Welt befüllt, die dem losen Autor*innennetzwerk angehören. Diese arbeiten an einer ‚tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung‘ und ‚für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft‘. In großen Buchstaben schreibt die Zeitung Antimilitarismus und Ökologie auf ihre Fahnen.“ (5)
Die linke Wochenzeitung Jungle World widmete in ihrer Ausgabe vom 1. Juni 2017 der GWR zwei Seiten, die insbesondere den grünen Ex-MdB Winfried Nachtwei aus Münster und seine Fans nicht erfreuen werden. Die Graswurzelrevolution, „deren Titel nach einer Mischung aus Guerilla Gardening und Landkommune“ klinge, werde „auch von Kulturlinken und marxistischen Ideologiekritikern gelesen“, so die Jungle World. Überhaupt sei die GWR „berüchtigt für diesen Spagat. In der aktuellen Ausgabe, der 419., berichten zwei Kommunen aus ihrem Alltag. Wenige Seiten weiter beschäftigt sich ein hochkomplexer Text mit der Kritik an Gewalt und im hinteren Teil der Ausgabe sind philosophisch unterfütterte Diskussionsbeiträge zu der Frage abgedruckt, ob es eine Natur des Menschen gebe. (…) Doch nicht nur Themen, die die anarchistische Szene im engeren Sinne betreffen, werden in der GWR diskutiert. (…) So vermittelt die GWR auch jüngeren Lesern eine Vorstellung von einer antimilitaristischen Bewegung, die sich vom Mainstream der deutschen Friedensbewegung, deren Hauptfeind noch immer die USA sind, unterscheidet. Mit ihrer strikten Ablehnung jeglicher Gewalt hat sich die GWR auch bei einigen radikalen Linken Kritik eingehandelt.“ (6)
Herzlichen Dank für diese solidarische Kritik. Und herzlichen Glückwunsch zum zwanzigsten Jungle World-Geburtstag, auch wenn ich mich in den Jahren seit Nine-Eleven oft über antideutsche Kriegspropaganda in der Wochenzeitung geärgert habe.
„Finde den Fehler“ – Der Fehler heißt BILD!
Am 28. April 2017 rief ein BILD-Zeitungsredakteur im GWR-Redaktionsbüro an. Er erzählte, dass BILD etwas zum Hype veröffentlichen möchte, den ein Tweet von mir (siehe Abbildung unten) auf Twitter unter anderem bei den Grünen ausgelöst hat. Ich habe dem „Journalisten“ geantwortet, dass ich seine Zeitung extrem unseriös finde und auf keinen Fall möchte, dass irgendetwas von mir von BILD veröffentlicht wird. Daraufhin war er pikiert und meinte: „Wir sind immerhin so seriös, Sie anzurufen!“
Mein Kommentar: „Trotzdem, BILD ist wirklich das Allerletzte. Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie irgendetwas von mir veröffentlichen.“
Der BILD-Redakteur war hörbar verärgert. Sein rassistisch-sexistisches Hetzblatt setzte sich erwartungsgemäß über meine Forderung hinweg und veröffentlichte gegen meinen Willen unter dem Titel „Finde den Fehler. Witzbold legt Hand an Grünen-Plakat“ einen Artikel (7), in dem sowohl mein Tweet als auch ein zusätzlicher Hinweis auf den „Münsteraner Bernd Drücke“ erschien.
Self-Tracking ist zu einem schnell wachsenden Trend geworden.Immer mehr Menschen überwachen mittels tragbarer digitaler Geräte minutiös ihren Lebenswandel – und das freiwillig.
Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät verkündete am Bildschirm: «Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 10 000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 15 000.» Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Schritte und die Demoroute genau aufgezeichnet, auch konnte man die Laufgeschwindigkeit feststellen und obendrein erfuhr Schaupp noch, wie viele Kalorien er an der Demo verbraucht hatte. Solch ein perfektes Demonstrationsprotokoll dürfte der Polizei und den unterschiedlichen erfassungsämtern ungeahndete Überwachungsöglichkeiten offenlegen. Trotzdem erfreut sich Self-Tracking ungebrochener Beliebtheit. Simon Schaupp hat in seinem kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienene Buch mit dem Titel «Digitale Selbstüberwachung – Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus» dieses Phänomen eingeordnet, in die Bemühungen, den Kampf gegen alles, was die reibungslose Anpassung an die kapitalistischen Erfordernisse und Zumutungen behindert, ins eigene Individuum zu verlagern.
Den Feind in Dir bekämpfen
«Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Joggingrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen.» Schaupp zeigt in dem Buch anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie diese Selbstkonditionierung funktioniert. So findet man auf der Homepage des Self-Tracking-Anbieters «Runtastic» Selbstbezichtigungen dieser Art: «Gegen mich selbst anzutreten und mein Bestes zu geben macht Spass und ist dank der Rekorde-Funktion auch ganz easy! Es fühlt sich toll an, meine eigenen Bestleistungen immer wieder zu unterbieten und meine neuesten Rekorde auf Runtastic.com zu bewundern.» Auch Diätprogramme werben mit dem Grundsatz, dass mit eisernen Willen alles zu schaffen ist . Da ist es nur konsequent, dass ein Zeitsoldat das Abnehmen zu einer Frage der Disziplin erklärt. Sehr überzeugend hat Schupp den Begriff des kybernetischen Kapitalismus für die Bezeichnung der aktuellen Rgulationsphase eingeführt, der anders griffe wie Postfordismus, deutlich macht, dass weiterhin die kapitalistische Verwertungslogik dominiert. Schaupp bezeichnet Self-Tracking als «Teil einer kapitalistischen Landnahme, im Zuge derer sich Unternehmen die Produkte unbezahlter Arbeit in Form von Daten aneignen und dann als Ware zu verkaufen». Der Soziologe interpretiert den kybernetischen Kapitalismus als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus, wie den Zwang zur ständigen Rationalisierung und der Ausweitung der Warenproduktion. Hier liefert Schaupp einen materialistischen Erklärungsansatz für den Tracking-Boom. Wenn der kapitalistische Imperativ «Du bist nichts, Deine Arbeitskraft ist alles» so verinnerlicht ist, können die ideologischen Staatsapparate, die seit Beginn des Kapitalismus mit Ideologie und Repression dafür sorgen, dass sich die Subjekte der Kapitallogik beugen, etwas in den Hintergrund treten, werden aber nie ganz verschwinden. Die Situation ist vergleichbar mit einer Grossdemonstration, bei der die eigenen OrdnerInnen für Ruhe und Ordnung sorgen. Da aber auch da immer die Möglichkeit besteht, dass die störrischen Elemente die Oberhand gewinnen, ist sie jederzeit einsatzbereit. Nicht anders ist der Umgang mit der individuellen Polizei. Wenn man es doch nicht mehr als so an genehm empfindet, immer und überall kapitelgerecht zu agieren, gibt es vielfältige Druckmittel von aussen. Viele Self-Tracking-Technologien werden schon längst von diversen Firmen zur Totalüberwachung der Beschäftigten eingesetzt. «RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält, über ihre wertvollste Ressource», heisst es auf der Webseite der Zeitmanagement-Software. Die Überwachung wird dann als Kultur der Arbeitsplatztransparenz schöngeredet, tatsächlich handelt es sich aber um eine sehr ein seitige Form der Transparenz. In den fordistischen Arbeitsverhältnissen gab es immerhin wenigstens noch einige Nischen, in denen sich die Beschäftigten zumindest für kurze Zeit dem Diktat der Maschinen entziehen konnten. Das fällt im Zeitalter der neuen Technologien immer schwerer.
Self-Tracking per Rezept
Längst haben Politik und Wirtschaft Druckmittel in Stellung gebracht, falls die Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet ist. Schon hat das Gesundheitsministerium in Grossbritannien Ärztinnen und Ärzte aufgefordert, ihren PatientInnen Self-Tracking-Anwendungen zu verschreiben, «damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verntwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen». Krankenkassen belohnen besonders eifrige Self-TrackerInnen mit Prämien. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr. Auch die Europäische Kommission hofft, mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget zu erzielen. Im letzten Kapitel seines Buches stellt Schaupp die Frage, ob in einer Gesellschaft, die nicht von der Kapitalverwertung bestimmt ist, die Kybernetik im emanzipatorischen Sinne verwendet werden könnte. Eine Antwort gibt er nicht. Er hätte die Frage mit Blick auf ein historisches Beispiel bejahen können. Der von ihm mehrfach zitierte Stafford Beer, ein wichtiger Theoretiker der Kybernetik, war auch in Chile unter der Regierung der sozialistischen Regierung Allende an einem Projekt beteiligt, das eine wirtschaftliche Planung mit Hilfe kybernetischer Methoden erproben sollte. Dadurch sollte eine Planung mit den Belegschaften und grossen Teilen der Bevölkerung gewährleistet werden. Der rechte Putsch gegen die «Unidad Popular»-Regierung beendete den Versuch, Kybernetik in emanzipatorischem Sinne zu nutzen. Im Hier und Jetzt drängt sich nach der Lektüre von Schaupps empfehlenswerten Buch eine andere Frage auf: Ist es nicht höchste Zeit, dass sich die Menschen offensiver den Self-Tracking-Methoden verweigern, dem Markt und dem Staat definitiv erklären, sich nicht mehr ständig weiter optimieren zu wollen, nicht mehr immer neue Rekorde und Höchstwerte aus sich herausholen zu lassen?
Peter Nowak
vorwärts – 23. Dez. 2016
SIMON SCHAUPP: DIGITALE SELBSTÜBERWACHUNG – SELF-TRACKING IM KYBERNETISCHEN KAPITALISMUS. VERLAG GRASWURZEL-REVOLUTION, HEIDELBERG 2016. 14,90 EURO
Soziologe Bernd Drücke will mit Vorurteilen gegenüber Anarchismus aufräumen
Anarchismus wird immer wieder mit Gewalt, Terror und Chaos in Verbindung gebracht. Der Münsteraner Soziologe Bernd Drücke versucht seit vielen Jahren dieses Bild zu korrigieren. Er gibt die Zeitschrift »Graswurzelrevolution« heraus, die ein wichtiges Forum der gewaltfreien libertären Bewegung ist. Dass der Historiker Timothy Snyder in einem »Spiegel«-Interview die Behauptung aufstellte: »Hitler war kein Staatsmann oder Nationalist, sondern ein in rassistischen Theorien denkender Anarchist« ist für Drücke eine besondere Diffamierung von Menschen, die sich für eine herrschaftsfreie Gesellschaft einsetzen.
In dem kürzlich im Unrast-Verlag herausgegebenen Buch »Anarchismus Hoch 3« lässt er Menschen zu Wort kommen, die sich als Anarchisten oder Libertäre verstehen. Es ist der dritte Band einer Trilogie über die aktuelle anarchistische Bewegung. »Ja! Anarchismus« und »Anarchismus Hoch Zwei« hießen die beiden Vorgänger.
Auch im dritten Buch gibt Drücke wieder einen guten Überblick über das anarchistische Milieu. So berichtet Andreas Ess über das letztlich gescheiterte Projekt A. Es war der Versuch, in einer Kleinstadt ein libertäres Milieu zu etablieren, in dem Politik und Alltag verbunden werden. Ess schildert, wie er als Jugendlicher und Arbeiter in einer Kohlenzeche tunlich vermied, als Anarchist aufzutreten, dafür aber jede freie Minute für die anarchistische Arbeit nutzte. Der in Hannover lebende Krankenpfleger Heiko Maiwald hingegen verknüpft Politik und Beruf. Als Aktivist der Basisgewerkschaft FAU kämpft der Krankenpfleger für bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen.
Libertäre Tierrechterinnen werden in dem Buch ebenso vorgestellt wie ein Veteran des gewaltfreien Anarchismus. Mehrere Interviewpartner arbeiteten in libertären Verlagen wie Unrast, Edition Nautilus, Assoziation A und Black Pigeon. Auch die Regisseure Moritz Springer und Marcel Seehuber, die in ihren Anfang 2016 fertig gestellten Film »Projekt A« anarchistische Projekte aus verschiedenen europäischen Ländern dokumentierten, kommen in dem Buch zu Wort.
Vier Interviews widmen sich der anarchistischen Bewegung im Ausland. Ralf Dreis schildert beispielsweise die Situation der Anarchisten in Griechenland und kritisiert die SYRIZA-Regierung scharf. Anett Keller spricht über die oppositionellen Kräfte in Indonesien, die sich bis heute nicht von den Massakern erholt haben, mit denen die Opposition Mitte der 1960er Jahre zerschlagen wurde. Auch Ismail Küpeli nimmt in seinem Türkei-Überblick die gesamte oppositionelle Bewegung in den Blick. »Die sozialen Bewegungen sind noch da, trotz der Repression, trotz des brutalen Vorgehens des Staats«, zieht er ein vorsichtig optimistisches Fazit. Sehr treffend ist auch die Einschätzung des russischen Anarchisten Vadim Damier zum Ukrainekonflikt. »Für uns ist das vor allem ein Machtkampf zwischen den kapitalistischen Oligarchie-Cliquen, die leider imstande waren, die Massen für sich zu qualifizieren«, so Damier. Er lehnt daher die Parteinahme für eine Seite ab.
Mit dem Buch hat Drücke einen wichtigen Beitrag zur Bestandsaufnahme der aktuellen libertären Bewegung geleistet. Die politischen Widersprüche zwischen den Strömungen werden deutlich, aber auch das Potenzial und die Rolle, die die Bewegung für eine außerparlamentarische Linke spielen kann.