Hinweis auf das Buch im ND Immer diese Widersprüche von Felix Klopotek

Die Coronakrise führte zu großen Verwerfungen in der Linken. Befürworter und Gegner drastischer Maßnahmen erschöpften sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Dass es so weit kommen musste, ist auch ein Versagen der Ideologiekritik

Wie viel sagt ein Wider­spruch aus? Was folgt aus ihm? In der Kon­tro­ver­se, wie sich die Lin­ke zur Coro­na­kri­se ver­hal­ten hat – und wei­ter ver­hal­ten soll –, sind Kri­ti­ker auf einen sol­chen gesto­ßen: Bekannt­lich haben vie­le Lin­ke die Lock­down-Maß­nah­men der Regie­rung dafür kri­ti­siert, dass sie zu lasch gewe­sen wären, zu zöger­lich, ver­spä­tet imple­men­tiert. Dafür stütz­ten sie sich auf die Exper­ti­se bestimm­ter Wis­sen­schaft­ler – allen vor­an Chris­ti­an Dros­ten – und beeil­ten sich, die Exper­ti­se ande­rer Wis­sen­schaft­ler her­ab­zu­wür­di­gen – hier war der bekann­tes­te Hen­drik Stre­eck, der ins Zwie­licht geriet, das Virus zu ver­harm­lo­sen. Bei­de Wis­sen­schaft­ler sind übri­gens regie­rungs­nah und sich in vie­len Fra­gen einig – das nur nebenbei.Die Lin­ken, die sich für Dros­ten und gegen Stre­eck aus­ge­spro­chen haben, kamen über­wie­gend aus einem grün-lin­ken, aka­de­misch gepräg­ten Milieu, das gen­der­sen­si­bel ist, anti­ras­sis­tisch und Aus­beu­tung unter dem Label »Klas­sis­mus«, als dis­kri­mi­nie­ren­des Ver­hal­ten gegen­über Arbei­tern, ver­han­delt. Ein Milieu, das dezi­diert anti­na­tu­ra­lis­tisch, sprach­kri­tisch, dis­kurs­ana­ly­tisch und kon­struk­ti­vis­tisch ist. Und dann das: Die­ses Milieu schloss sich ganz über­wie­gend einer wis­sen­schaft­li­chen Hal­tung und einer Sicht­wei­se auf das Virus an und bestritt in hef­ti­gen Pole­mi­ken ande­ren Stand­punk­ten ihre Legitimität.

Was für ein Wider­spruch, froh­lock­te die ande­re Sei­te! Denn in der Coro­na­kri­se gerier­te sich die­ses grün-lin­ke Milieu offen­sicht­lich nicht anti­na­tu­ra­lis­tisch und kon­struk­ti­vis­tisch, son­dern dog­ma­tisch, und die unkri­ti­sche Hal­tung gegen­über Dros­ten und Lau­ter­bach war nun alles ande­re als dis­kurs­ana­ly­tisch. Auf Twit­ter und ande­ren Netz­wer­ken ging es hoch her, letzt­lich war­fen sich bei­de Sei­te herr­schafts­kon­for­mes, regres­si­ves und auto­ri­tä­res Ver­hal­ten vor. Wirk­lich auf­ge­löst wur­de der Wider­spruch aller­dings nicht. Das Ergeb­nis wäre näm­lich für bei­de Sei­ten nicht sehr schmei­chel­haft ausgefallen.

Alles dreht sich um das Ich

Den Wider­spruch auf­zu­lö­sen hät­te bedeu­tet, sich zu fra­gen, wofür die anti­na­tu­ra­lis­ti­sche, kon­struk­ti­vis­ti­sche Hal­tung eigent­lich steht. Kon­ser­va­ti­ve und Reak­tio­nä­re sehen sie als Aus­druck eines hem­mungs­lo­sen, alle Wer­te unter­gra­ben­den Rela­ti­vis­mus und Skep­ti­zis­mus. Die Urangst der Mäch­ti­gen und Pri­vi­le­gier­ten vor der zer­set­zen­den Auf­klä­rung hallt hier nach. So skep­tisch ist die­se Hal­tung aber gar nicht, ganz im Gegen­teil. Es geht ihr dar­um, eine ver­letz­li­che, ver­letz­ba­re Sub­jek­ti­vi­tät zu schüt­zen, ein Ich, das nicht wei­ter hin­ter­fragt wird und letzt­end­lich nicht als ein Gewor­de­nes und Wer­den­des ver­stan­den wird: Es ist immer schon mit sich iden­tisch. Alles, was die­ses Ich zu rela­ti­vie­ren droht, kann nur ein Aus­druck von Herr­schaft, von auf­er­leg­ter Beschrän­kung, Knech­tung und Dis­kri­mi­nie­rung sein. Im Gegen­zug geht es dar­um, alles, was die­ses Ich ein­schränkt, zurück­zu­wei­sen – ger­ne auch kate­go­risch ohne jede wei­te­re Dis­kus­si­on. Die­se Bedro­hung kön­nen domi­nan­te Sprach­re­ge­lun­gen sein, die – schein­bar oder tat­säch­lich – Ande­re aus­schlie­ßen­de Impli­ka­tio­nen auf­wei­sen. Die­se Bedro­hung kann aber auch ein Virus sein, des­sen nega­ti­ve gesund­heit­li­che Aus­wir­kun­gen man maxi­mal dys­to­pisch einschätzt.

Aber auch die ande­re Sei­te, die sich eben noch dar­an delek­tier­te, wie sich »Wokies« im Wider­spruch von Anti­na­tu­ra­lis­mus und Dog­ma­tis­mus ver­stri­cken, setzt die­ses unum­schränk­te, selbst­herr­li­che, von dunk­len Mäch­ten aber per­ma­nent bedroh­te Ich vor­aus. Daher ihr dröh­nen­der Frei­heits- und Grund­rech­te­pa­thos. Die­ses Pathos bezieht sich auf die nar­ziss­ti­sche Krän­kung, die man höchst­per­sön­lich durch Staats­ein­grif­fe zu erfah­ren glaub­te. Bei­de Sei­ten tref­fen sich in einer Mys­ti­fi­zie­rung des (eige­nen) Egos, das nicht wei­ter sozi­al hin­ter­fragt wird, als sta­bil gesetzt wird und streng genom­men geschichts­los kon­zi­piert ist. Selbst­be­schrän­kung gilt ihnen aus­schließ­lich als Zumu­tung, durch­ge­führt als staat­li­cher Zwangs­akt oder diri­giert von einer Ver­schwö­rung alter, wei­ßer Männer.

Ideologiekritik am Limit?

Die Coro­na­kri­se hat vor­ge­führt, wie stumpf kon­ven­tio­nel­les ideo­lo­gie­kri­ti­sches Besteck ist. Das Auf­de­cken von Wider­sprü­chen in Argu­men­ta­tio­nen, um ein fal­sches Bewusst­sein zu ent­lar­ven, und eine rela­ti­vie­ren­de, skep­ti­sche Hal­tung, um Ver­hält­nis­se, die sich den Anschein geben, unum­stöß­lich zu sein, zumin­dest gedank­lich zu unter­mi­nie­ren: Sie rei­chen offen­sicht­lich nicht aus, um die Kri­se zu begrei­fen. Anders gesagt: Die Ideo­lo­gie­kri­tik war nicht voll­stän­dig. Was hät­te sie voll­stän­dig gemacht? Ein Reflek­tie­ren dar­auf, was ihre Vor­aus­set­zun­gen sind.

In dem oben geschil­der­ten Fall fußt die Ideo­lo­gie­kri­tik, die bei­de Sei­ten für sich in Anspruch neh­men, auf der Annah­me eines Ichs, das es unbe­dingt gegen die Zumu­tun­gen der ver­kehrt ein­ge­rich­te­ten Welt zu schüt­zen gilt. Eine legi­ti­me Anstren­gung, die aber – un- oder halb­be­wusst voll­zo­gen – zuver­läs­sig das kon­for­mis­ti­sche Ich repro­du­ziert, das uns als klein­bür­ger­lich-öko­no­mi­sches ent­ge­gen­tritt: kon­sum­ori­en­tiert, Sor­ge nur als Sor­ge um sich selbst ken­nend, miss­trau­isch gegen alles Kol­lek­ti­ve, Soli­da­ri­tät aus­schließ­lich als gön­ne­risch und eigen­nüt­zig verstehend.

Die Ideo­lo­gie­kri­tik wäh­rend der Coro­na­kri­se hät­te sich also selbst – spä­tes­tens als abseh­bar war, dass die Kri­tik sich in gegen­sei­ti­gen Schuld­zu­wei­sun­gen erschöpft – hin­ter­fra­gen müs­sen, um zu Ergeb­nis­sen zu kom­men, mit denen man in eman­zi­pa­to­ri­scher Absicht hät­te wei­ter­ar­bei­ten kön­nen. Was für Ergeb­nis­se? Zum Bei­spiel, dass jede Bezug­nah­me auf per­sön­li­che Befind­lich­kei­ten nur zu einer Über­hö­hung des indi­vi­du­el­len Stand­punk­tes führt, eine Über­hö­hung, die den Blick auf kol­lek­ti­ve Pro­zes­se ver­stellt. Die »Coro­na-Skep­ti­ker« haben dadurch »ver­passt«, dass es etwa in Ita­li­en zu Beginn der Kri­se zu mas­si­ven Pro­tes­ten kam, weil Beleg­schaf­ten nicht ein­se­hen woll­ten, dass der Lock­down für alle Aspek­te des öffent­li­chen wie pri­va­ten Lebens gilt – bloß nicht für die Arbeits­welt. Die­se Streik­ak­tio­nen waren ohne Zwei­fel legi­tim. Die »Lock­down-Befür­wor­ter« unter den Lin­ken haben ihrer­seits »ver­passt«, in den eben­falls in Ita­li­en – aber längst nicht nur dort – statt­fin­den­den Arbei­ter­pro­tes­ten gegen Gesund­heits­pass und Impf­pflicht mehr als nur­bor­nier­te und para­no­id irre­ge­lei­te­te Mani­fes­ta­tio­nen zu sehen.

Kampf gegen Abhängigkeiten

Der legen­dä­re, hier­zu­lan­de bezeich­nen­der­wei­se unbe­kann­te fran­zö­si­sche Kom­mu­nist Roger Dan­ge­vil­le (1925–2006) hat­te in sei­ner Kri­tik an Tho­mas Mal­thus, dem ers­ten Theo­re­ti­ker respek­ti­ve Ideo­lo­gen des Kon­sum­in­di­vi­dua­lis­mus, fest­ge­hal­ten, dass der wich­tigs­te Kampf der Arbei­ter­klas­se vor der Revo­lu­ti­on dar­in bestehe, nicht noch tie­fer in den Sumpf der man­nig­fal­ti­gen Abhän­gig­kei­ten von bür­ger­li­cher Poli­tik und Ideo­lo­gie zu gera­ten. Gemünzt auf die Coro­na­kri­se hät­te das bedeu­tet, den Kampf gegen Gesund­heits­ge­fähr­dung am Arbeits­platz und den mie­sen Wohn­quar­tie­ren nicht getrennt vom Kampf gegen neue For­men der digi­ta­len Kon­trol­le und Über­wa­chung zu ver­ste­hen, die unter dem Deck­man­tel der Pan­de­mie­be­kämp­fung ein­ge­führt wurden.

Leich­ter gesagt als getan. Denn wann sind eigent­lich die Vor­aus­set­zun­gen einer Kri­tik von die­ser so weit erfasst, dass sie sich nicht län­ger in ihren eige­nen Wider­sprü­chen ver­strickt? Hat doch jede Vor­aus­set­zung ihrer­seits Vor­aus­set­zun­gen, jeder Grund hat sei­nen Grund – und wenn wir nicht auf­pas­sen, lan­den wir am Ende wie­der beim lie­ben Gott als letz­te Ursa­che, also beim Dog­ma. Wo den Schnitt set­zen? In Gün­ther Anders‹ »Die molus­si­sche Kata­kom­be«, sei­nem gro­ßen, in den 1930ern ent­stan­de­nen Werk über die Lin­ke im Ange­sicht von Faschis­mus und Sta­li­nis­mus, lässt er die­ses Dilem­ma von zwei Gefan­ge­nen dis­ku­tie­ren. »Wenn ein Zie­gel vom Dach fällt«, fragt der eine, »haben alle Din­ge aller Zei­ten ihn mit vom Dach gewor­fen. Wol­len wir den Grün­den nach­lau­fen?« »Es genügt die Grün­de so weit zu ken­nen«, ent­geg­net der ande­re, »dass wir das Her­ab­fal­len des nächs­ten Stei­nes unwahr­schein­lich machen.«

Wer auf die nächst­lie­gen­den Grün­de zurück­greift, akzep­tiert nur die, die sei­ne eige­ne Befind­lich­keit bedie­nen. Das reicht nicht. Und die ferns­ten »lie­gen so fern, daß wir nicht hin­rei­chen, und die Gelehr­ten sind stolz dar­auf. Die mitt­le­ren aber nennt man Ver­hält­nis­se«. Die­se gilt es, um sie zu ändern, zunächst zu begrei­fen – und das ist im Gegen­satz zu einer per­sön­lich betrof­fe­nen wie zu einer in astro­no­mi­sche Wei­ten abschwei­fen­den Hal­tung immer mög­lich: »Die Ver­hält­nis­se sind noch so nah, daß man sie ändern kann; aber man kann sie nicht schla­gen im Wut­aus­bruch oder mit der Hand. Sie sind schon so weit, daß man, um sie zu errei­chen, die Tech­nik der Ver­all­ge­mei­ne­rung braucht und die Unter­drü­ckung der per­sön­li­chen Gereiztheit.«

In dem von Gerhard Hanloser, Peter Nowak
und Anne Seeck herausgegebenen Sammelband »Corona und linke Kritik(un)fähigkeit.
Kritisch-solidarische Perspektiven ›von unten‹ gegen die Alternativlosigkeit ›von oben‹« ist auch ein Beitrag von Felix Klopotek enthalten.

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163755.linke-und-corona-immer-diese-widersprueche.html