Ein Sammelband über gescheiterte Versuche, die Armutsbevölkerung von links zu mobilisierenVon Joachim Maiworm
Das Bürgergeld sei »völlig außer Kontrolle«, titelte Mitte November die größte deutsche Boulevardzeitung und empörte sich darüber, dass die Ausgaben für die sogenannte Grundsicherung ungebremst in die Höhe schießen würden. Zuvor hatte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann auf eine »Jobpflicht« gedrängt – wer angebotene »Arbeit« ablehne, müsse mit Leistungskürzungen rechnen. Das wäre ein guter Ansatzpunkt für erwerbslose und prekär beschäftigte Menschen, sich sowohl gegen die Verarmungsspolitik zu organisieren als auch der öffentlichen Hetze gegen vermeintlich asoziale Erwerbslose die Stirn zu bieten.
Ein solches Protestverhalten der Betroffenen ist jedoch kaum wahrnehmbar. Diesem deprimierenden Phänomen geht ein jüngst erschienener Sammelband nach. Dessen Ausgangsfrage ist, warum in den vergangenen 20 Jahren alle Versuche von links scheiterten, die Armutsbevölkerung zu dauerhaft widerständigen Aktionen zu mobilisieren. Auch der angekündigte »linke heiße Herbst« im vergangenen Jahr fiel trotz steigender Energie- und Lebenshaltungskosten weitgehend aus.
In vier Abschnitten schlägt das Buch einen Bogen von den großen und kleinen Widerständen gegen Hartz IV bis zum eher »schmalen Opponieren« gegen die aktuellen Teuerungswellen. Neben analytischen Texten kommen in den insgesamt 26 Beiträgen und Interviews unterschiedliche Aktivistinnen und Aktivisten zu Wort, die ihre Schwierigkeiten reflektieren, Menschen gegen die aktuellen Verarmungsprozesse zu mobilisieren
Einen prinzipiellen Grund dafür sehen Harald Rein, Hinrich Garms und Mag Wompel in ihren Texten darin, dass die Armen durch unterschiedliche Formen des Arbeitszwanges und der Ideologie der »Leistungsgerechtigkeit« zugerichtet würden. Das im November 2022 beschlossene »Bürgergeld« mache da keine Ausnahme, trotz aller Beteuerungen der Regierung, das repressive Hartz-IV-System überwinden zu wollen. Anders als Hartz IV treffe die aktuelle Inflation zudem die gesamte Bevölkerung. Die staatlichen Entlastungspakete hemmten eine breite Mobilisierung.
Mehrfach wird in dem Band betont, dass es an inhaltlichen und organisatorischen Brücken zu anderen gesellschaftlichen Bewegungen fehle (Friedenspolitik, Ökologie, Mieterkämpfe). Auch sei die Linke zu akademisch geprägt, so dass sie kaum noch Kontakt zu den »normalen« Leuten mit ihren Alltagssorgen habe. Andererseits unterstreicht die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), dass notwendige langfristige Organisierungsprozesse nicht ohne Professionalisierung und bestimmte Formen von Institutionalisierung möglich seien.
Das Buch bleibt aber nicht retrospektiv bei der Analyse gescheiterter Organisierungsversuche stehen, sondern bietet Perspektivisches. So plädiert die ALSO für den Aufbau »sozialer Zentren« in möglichst vielen Städten – als Ausgangspunkt für eine unabhängige Beratung und Aktionen in Ämtern und Behörden. Daneben wirbt der Politologe und Gewerkschafter Torsten Bewernitz für das Konzept des Organizing, um soziale Bewegungen zu fördern.
Der Band stößt in eine Lücke auf dem linken Buchmarkt, denn mit ihm liegt nach langer Zeit wieder eine profunde linke Darstellung und Bewertung jüngerer Sozialproteste vor. Es wird auch der Frage nachgegangen, wie die Krise der gesellschaftlichen Linken angegangen werden kann. Das Buch will denjenigen ein Hilfsmittel an die Hand geben, die aktuell und zukünftig soziale Kämpfe vorbereiten wollen und kann als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen dienen.
Anne Seeck, Peter Nowak, Gerhard Hanloser, Harald Rein (Hrsg.): KlassenLos – Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten. Buchmacherei, Berlin 2023, 256 Seiten, 12 Euro