Wer Argumente gegen das Märchen. vom Sozialstaat Bundesrepublik
Deutschland sucht und den Werdegang von Hartz IV bis zum Bürgergeld sowie die dagegen entstandenen Widerstandsbewegungen ausführlich verfolgen möchte, dem sei der Band »KlassenLos« empfohlen. Hartz IV war demnach kein Bruch mit dem bürgerlichen Sozialstaatsgedanken, es war schlicht die Anpassung an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse. Betroffene wurden in Arbeitsverhältnisse gezwungen, die sie weder beruflich weiterbrachten noch vor Armut schützten. Allerdings wurde nicht mehr von Zwang gesprochen, sondern von »Angeboten« und von »Anreizen«. Profitiert haben die Unternehmen, die billige und wehrlose Arbeitskräfte bekamen, während Politik und Medien ein Klima der Stigmatisierung gegenüber Erwerbslosen erzeugten.
Die Einführung des Bürgergelds wurde von Arbeitsminister Hubertus Heil als »die größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren« angepriesen. Harald Rein entlarvt in seinen Ausführungen das Gesetz als Teil einer sozialstaatlichen Verarmungspolitik und stellt fest, dass die Bewertung und die Behandlung von Erwerbslosen und Armen heute stellenweise noch genauso wirken wie vor 100 Jahren. Geändert hätten sich nur die Begrifflichkeiten. Nach einem Rückblick auf die Geschichte werden die einzelnen Veränderungen aufgelistet, vor allem in Bezug auf die Einschränkung sozialer Rechte und Sanktionsregelungen. So hat sich unter den Sozialleistungsbezieherinnen ein Klima der Angst entwickelt. Sie sind häufig dem Gutdünken der Jobcenter ausgesetzt, denn die Paragrafen des Sozialgesetzbuchs werden oft willkürlich ausgelegt. In den folgenden Kapiteln werden die Protestformen ab 1995 analysiert, vom Aufbegehren regionaler Gruppen bis zu den Protesten der Gewerkschaften und Sozialverbände sowie einzelner Initiativen. Interviews mit Aktivistinnen verdeutlichen die Schwierigkeiten, zu großen gemeinsamen Aktionen zu kommen. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit der Mieterbewegung, die sich in der Defensive befindet und neue Formen des Widerstands sucht. Zudem geht es um die Energiekrise und die explosionsartige Verteuerung der Grundnahrungsmittel. Dabei wird. auch ein Blick in die Nachbarländer Frankreich, Italien und England geworfen, wo die Kampagnen sehr vielfältig waren und von deren Aktionsformen wir viel lernen könnten. Am Ende stellt sich die Frage, welche gesellschaftliche Gruppe den Widerstand anführt und in der Lage ist, im Kampf gegen die herrschende Macht alle gesellschaftlichen Kräfte zu mobilisieren. Eines ist klar: Es muss etwas geschehen, damit die Herrschenden nicht mehr ruhig in ihren Sesseln sitzen können. Insgesamt eine lesenswerte Darstellung von 20 Jahren sozialen
Widerstands gegen Verarmung und Ausgrenzung.
Larissa Peiffer-Rüssmann Anne Seeck u.a.: KlassenLos. Sozialer Widerstand
von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten. Berlin: Die Buchmacherei, 2023. 256 Seiten, 12 Euro
aus Contraste Nr. 493 vom Februar 2024