Rezension zu Gerhard Hanloser, Peter Nowak u.a. (Hrsg.): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit

Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Anne Seeck (Hrsg.): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit. Kritisch-solidarische Perspektiven „von unten“ gegen die Alternativlosigkeit „von oben“. AG SPAK Bücher (Neu Ulm) 2021. 240 Seiten. ISBN 978-3-945959-59-6. D: 14,00 EUR, A: 14,00 EUR, CH: 15,50 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand 
Kaufen beim Verlag

Kritik ist die Fähigkeit, unterscheiden zu können!

Es ist das alltägliche Ereignis, eine Situation, einen Vorfall, ein Geschehnis mit Verstand und aufgeklärtem Bewusstsein wahrzunehmen. Immanuel Kant hat diese Fähigkeit als Mut bezeichnet, die eigene Vernunft zu benutzen, also selbst zu denken und nicht andere für sich denken zu lassen. Es ist die Suche nach der Wahrheit, die im philosophischen Kontext Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit, ja sogar die Erfindung eines Lügners sein kann (Heinz von Foerster/Bernhard PörksenWahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011). Die „politische Linke“ baut auf sozialistischen Grundlagen auf, die von der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit aller Menschen ausgeht. Es sind evolutionäre und revolutionäre Protestbewegungen gegen Konservativismus, Kapitalismus, Klassenbildung, Kolonisierung und Diskriminierung. In der Präambel des Parteiprogramms „Die Linke“ wird festgestellt: „Wir, demokratische Sozialistinnen und Sozialisten, demokratische Linke mit unterschiedlichen politischen Biografien, weltanschaulichen und religiösen Einflüssen, Frauen und Männer, Alte und Junge, Alteingesessene und Eingewanderte, Menschen mit und ohne Behinderungen, haben uns in einer neuen linken Partei zusammengeschlossen. Wir halten an dem Menschheitstraum fest, dass eine bessere Welt möglich ist…“. Diese Wunschvorstellung und Hoffnung freilich kann von jeden demokratisch und human denkenden Menschen unterschrieben werden. So ist es nicht verwunderlich, dass es auch in jeder demokratischen Partei „linke Flügel“ gibt

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Die zunehmenden Krisensituationen in der Welt – ökonomische, Klima-, Umwelt- und pandemische Verwerfungen – haben im gesellschaftspolitischen, lokalen und globalen Diskurs über den Zustand der Menschheit und der Welt auch kontroverse Aktivitäten darüber hervorgebracht, mit welchen individuellen und kollektiven anthropologischen und politischen Mitteln den inhumanen Entwicklungen begegnet werden kann: Sind es „linke“ oder „rechte“ Visionen? Sind es marktwirtschaftliche oder feudale Strukturen? Wenn „linke“ Denker (auch) „linke Politik“ kritisieren, begeben sie sich auf das anerkannte, notwendige, intellektuelle Feld der wissenschaftlichen „Kritischen Theorie“, mit der jeder inhumanen Form von Ego-, Ethnozentrismus, Nationalismus, Rassismus und Populismus Widerstand entgegengebracht wird.

Der Berliner Publizist und Pädagoge Gerhard Hanloser (siehe u.a. auch: Linker Antisemitismus? 2020), der Journalist Peter Nowak und die Autorin Anne Seeck haben sich in einer Initiative zusammengeschlossen, um Fragen zur Corona-Pandemie aus der Position von „linker Politik“ zu thematisieren. Ergebnisse dieses öffentlichen Kommunikations- und Diskussionsprozesses, legen sie in dem Sammelband „Corona und linke Kritik(un)fähigkeit“ vor.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband wird in fünf Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel wird „Corona und die Linke“ getitelt. Zu Wort kommen DiskutantInnen wie Anne Seeck, die über ihre Beobachtungen zum Zustand der Linken reflektiert; Gerhard Hanloser, der sich mit „Corona-Rebellen“ und gesellschaftlichen Widerstandskräften auseinandersetzt; der Berliner Kommunalpolitiker Andreas Benkert fordert mit einem „Zwischenruf“ auf, hinter die Kulissen der weltweiten Pandemie zu schauen, um in den kapitalistischen Strukturen die Ursachen zu erkennen; die Betriebswirtin Elisabeth Voß verweist mit dem Beitrag „Linke Kritik(un)fähigkeit und patriarchaler Rollback“ auf feministische Perspektiven und zeigt Alternativen auf; Anne Seeck nimmt mit dem Text „Feministische Perspektiven in der Corona-Krise“ den Diskussionsstrang auf. Es sind Forderungen nach Gleichberechtigung und Mitbestimmung; die Initiative „Capulco“ als Zusammenschluss von Medien-AktivistInnen, warnt vor bürokratisierten Überwachungsstrukturen beim Bevölkerungsmanagement; der Baseler Wirtschaftsgeograph Christian Zeller plädiert mit dem Beitrag „ZeroCovid“ für ein solidarisches, globales Bewusstsein, dass der Ausbruch von Corona „auch eine Pandemie des Elends in den abhängigen, dominierten und verarmten Gesellschaften ist“; der Journalist Felix Klopotek diskutiert mit dem Beitrag „Die Kassengesellschaft in der Pandemie und die Probleme der Linken“ die Möglichkeiten und Versäumnisse der organisierten Arbeitnehmerschaft, die kapitalistischen Ursachen anzugehen; Peter Nowak nimmt sich des weitgehend vernachlässigten Themas „Senior:innen unter Corona“ an. Es ist ein Für und Wider im publizistischen Diskurs und ein Plädoyer dafür, „dass alle Menschen auch im Alter unabhängig vom Einkommen ein Leben führen können, wie sie es wollen“.

Das zweite Kapitel „Wen Corona und Lockdown besonders trifft“ beginnt Anne Seeck mit dem Beitrag „zu den sozio-ökonomischen und psycho-sozialen Folgen der Corona-Krise“ in den Diskurs ein und zeigt auf, dass die Pandemie die real existierenden sozialen Ungleichheiten in der Gesellschaft sichtbar macht; der in Bochum ansässige „Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener“ist eine gemeinnützige Selbsthilfe-Organisation. Mit dem Text „Psychiatrie in Corona-Zeiten“ fordern sie einen sach-, und fachgerechten Umgang bei informativen, propädeutischen und therapeutischen Maßnahmen; der 1993 gegründete Verein „KLARtext“ konfrontiert mit dem Text „Behauptungen zur Lage der Pflegeheime“ die regierungsamtlichen Bekundungen, dass der Schutz vulnerabler Gruppen ein Kernanliegen der Politik sei. Warum die übergroße Mehrheit der mit oder an SARS-CoV-2-Verstorbenen Pflegebedürftige sind, gilt es aufzuklären; die Sozialarbeiterin Nicole Lindner setzt sich ein für „die Würde des obdachlosen Menschen in Coronazeiten“; der Sozialwissenschaftler Stefan Schneider fordert auf: „Ruft den Kältebus, wenn ihr einen Obdachlosen seht!“. An konkreten Beispielen erzählt er, wie es gelingen kann, die Not von Menschen mit lindern zu helfen; die Wohnungs- und Obdachlose Dietlind Schmidt stellt fest: „Wen Corona besonders trifft!“. Sie fordert die konsequente, politische und soziale Verwirklichung der in den allgemeingültigen und nicht relativierbaren Menschenrechten garantierten „Gute-Lebens-Rechte“; der Menschenrechtsaktivist Konstantin Behrends setzt sich mit dem Beitrag „Gefangen in der Pandemie“ ein für die von der Krise besonders, jedoch kaum beachteten, in Gefängnissen einsitzenden Gefangenen; der einsitzende Thomas Meyer-Falkmeldet sich mit „Corona im Knast“ zu Wort; Gerhard Hanloser formuliert die Philippika: „Superspreader, Opfer, Coronastreber oder neue Revoltegeneration?“, indem er thematisiert, wie die Politik und Öffentlichkeit während der Pandemie mit Kindern, Jugendlichen und Schüler:innen umgegangen sind, und welche Konsequenzen und mögliche Entwicklungen sich daraus ergeben; die Flensburger Psychologin Andrea Kleeberg-Niepage reflektiert mit dem Ausspruch „Dann nehmen wir eben Zoom“ die Situationen und Wirkungen der Pandemie für die schulische Bildung und Erziehung. Kann Digitalisierung die Lösung (aller) Probleme sein, oder ist sie (ein) ergänzendes Mittel?

Im dritten Kapitel werden die „Profiteure“ benannt. Elisabeth Voß setzt sich damit auseinander, dass sich Corona-Profiteure weltweit im Aufwind befinden. Es sind Formen von Privatisierungen von sozialen, bürgerrechtlichen Einrichtungen. Es ist „Kapitalismus-Washing“, die den notwendigen Perspektivenwechsel und „System-Change“ verhindern; KLARtext fragt: „Wem nützt der Lockdown?“; Gerhard Hanloser führt ein Gespräch mit dem Autor und Anwalt Detlef Hartmannüber „Digitalisierung und gesellschaftliche Zerstörung“. Es sind Widerhaken und Proteste gegen kapitalistische und machtbesessene Entwicklungen und Sehnsüchte nach antikapitalistischer Gesellschaftlichkeit; der Berliner Friedensaktivist Andreas Komrowski informiert mit dem Beitrag „Die Bundeswehr im Pandemieeinsatz“. Es ist ein Aufruf an antimilitärische und antifaschistische Kräfte, nach langfristigen und nachhaltigen Lösungen für freie, solidarische, gleichberechtigte Gesellschaften zu suchen.

Das vierte Kapitel ist getitelt: „Medizin ist politisch“. Der Bremer Arbeitswissenschaftler Wolfgang Hien stellt Thesen zum Pro und Contra von „Gesundheitsschutz versus Freiheit“ im Rahmen von Public Health auf; der Berliner Mediziner Michael Kronawitter setzt sich mit dem Beitrag „Malen nach Zahlen“ kritisch mit der offiziellen, regierungsamtlichen, ministerialen und institutionalisierten Informationspolitik auseinander und warnt vor Angstmacherei, Manipulation und Überwachung; die Politikwissenschaftlerin Detlef Georgia Schulze fragt: „Gefahren-Bewusstsein oder Angstkampagne?“. Sie identifiziert „Angst“ als ein Gefühl, mit dem warnend und manipulativ Einstellungen und Verhaltensweisen verändert werden können; das klassenkämpferische, traditionelle, etablierte Funktionen, wie z.B. gewerkschaftliche gemeinwohl-orientierte Politik negierende Kollektiv „Wildcat“ behauptet: „Pflegekräfte wissen, wie Streiken geht“. Sie fordert auf, Marktlogik und Profitstreben selbstbewusste und verdienstvolle Arbeitsqualität entgegen zu setzen; die Gesundheitsarbeiterin Ruth Luschnat übt „Feministische Medizin(-kritik)“. Es sind die dominanten, patriarchalen und hierarchischen Strukturen im Gesundheitswesen, die es zu überwinden gilt; Peter Nowak führt ein Gespräch mit dem Arzt Andreas Klein über die Krankenhaussituation: „Klassenlage und Corona-Erkrankung“. Es sind die weltweiten Entwicklungen der Privatisierung und Kapitalisierung, die das Gesundheitssystem zu einem Spekulationsobjekt macht; die Sozialwissenschaftlerin Laura Valentukeviciute informiert über „Klinikschließungen als Pandemie“. Sie widerspricht den Zielen, anstelle von kleineren, wohnortnahen Kliniken Zentralkrankenhäuer aufzubauen; der Berliner Arzt und Repräsentant von medico international, Andreas Wulf, plädiert für eine globale Impfkampagne.

Im fünften Kapitel „Soziale Kämpfe und Gegenwehr“ formuliert der Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter beim Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Alex Demirović, „Sozialistische Perspektiven auf die Pandemie“, als System- und Perspektivenwechsel; der Theologe und Philosoph Bruno Kern mahnt „System Change“ an. Er setzt sich für „industrielle Abrüstung“ und „Ökosozialismus“ ein: „Rückbau nicht Umbau“, „Revolution nicht Restauration“; die Lateinamerikanistin Raina Zimmering weist mit ihrem Beitrag „Digitalisierung und Corona aus zapatistischer Perspektive“ darauf hin, dass Krisen und fatale, lokale und globale Entwicklungen auch Widerstandskräfte gegen das kapitalistische, dominante System entwickeln können. Am Beispiel der lateinamerikanischen zapatistischen Bewegung zeigt sie auf, welche Möglichkeiten und Erfolge sich dabei auftun (siehe auch: Raina Zimmering, Zapatismus. Ein neues Paradigma emanzipatorischer Bewegungen, 2010). Den Schlussbeitrag „Klassenkämpfe in Zeiten von Corona“ liefert Peter Nowak. Der Kapitalismus ist längst zu einem Hemmschuh und einem „No go“ für ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben für alle Menschen geworden. 

Diskussion

Irritierend bei der aufgezeigten linken Kritik ist für den Rezensenten die Frontstellung zum Staat; etwa wenn „Capulco“ fordert, „die widerwärtige, pandemische Staatsgläubigkeit schleunigst abzuschütteln und zu einer tiefgreifenden Staatsfeindlichkeit zurückzufinden“. Bei aller berechtigten Kritik an den Missständen und Aktivitäten an den staatlichen, medizinischen und therapeutischen Ratschlägen und Beschlüssen zur Bekämpfung der Pandemie kommt es darauf an, ein Habacht auf die Verwendung von Begriffen zu haben: Ein demokratischer Staat ist kein Feind und kein Bösewicht, sondern eine notwendige, humane Einrichtung, in der das Staatsgebiet, das Staatsvolk und die Staatgewalt eine unverbrüchliche, integrative Einheit bildet. Eine Ablehnung und Verächtlichmachung führt nämlich genau hin zu den katastrophalen Entwicklungen, wie sie sich bei „Wutbürgern“, bei „Verquerdenkern“ und „Weltuntergangs-Chaoten“ zeigen. Eine Replik, eher vielleicht eine Neuvermessung ist angesagt (siehe dazu: Klaus Dörre/Christiane Schickert, Hrsg., Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie, 2019); und ein Paradigmenwechsel zum Begriff und zur Tat „Arbeit“ (Andrea KomlosyZeitenwende. Corona, Big Data und die Kybernetische Zukunft, 2022,).

Fazit

Wider den Stachel des Kapitalismus, das ist ein löbliches, notwendiges, herausforderndes Unterfangen. Es bedarf der Aufklärung und Überzeugungskraft, die gestärkt werden durch solidarische, kollektive Zusammenarbeit auf lokalen und globalen Gebieten. Auch wenn der Rezensent nicht mit allen Begrifflichkeiten und Aktivitäten konform ist, die diese Herausforderungen beschreiben und aktivieren, stellen viele der im Sammelband „Corona und linke Kritik(un)fähigkeit“ thematisierten Ansätze zielführende Hau-Rucks dar.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer 
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim 

https://www.socialnet.de/rezensionen/28952.php