Wer würde mit der sozialkonservativen Initiatorin des "Aufstands für Frieden" ein neues Projekt starten? Gibt es überhaupt eines – und was bleibt dann von der "alten" Linkspartei?

Wagenknecht-Rückzug: Die Linke und das ominöse Neue

Die Frage ist auch, wie viele aktive Mitglieder der Linken mit Wagenknecht das Neue wagen, das auch ein neues Scheitern sein könnte. Dieter Dehm wäre sicher bereit – aber den als Egoshooter verrufenen Schlagermillionär und Ex-Bundestagsabgeordneten hält auch Wagenknecht auf Distanz.

Eine echte Überraschung war es nicht, als die wohl bekannteste Politikerin der Partei Die Linke, Sahra Wagenknecht, am Freitag bekanntgab, nicht mehr auf deren Listen zu kandidieren. Zumindest in NRW, wo sie zuletzt Spitzenkandidatin der Bundestagswahlliste war, wäre sie wohl auch nicht mehr aufgestellt worden. Schließlich wurde ihr dort vor einigen Monaten sogar verweigert, auf dem Landesparteitag eine Rede zu halten. Es stimmt schon, dass die Unterschiede zwischen den Gremien der Linken und ihr mittlerweile so groß sind, dass „die Vorstellung, …

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Innerparteiliche Reaktionen auf die Wagenknecht-Rede von letzter Woche lassen wenig Hoffnung auf friedliche Koexistenz. Aber wäre die Trennung nicht auch eine Chance?

Wagenknecht-Dilemma der Linken: Spaltung als Chance?

Da bekommt plötzlich eine Rede des als Wagenknecht-Anhänger geltenden ehemaligen Linkspartei-Abgeordeten Dieter Dehm Ende August auf dem Pressefest der kleinen Deutschen Kommunistischen Partei in Zeitungen eine besondere Bedeutung. Die taz interpretiert Dehms Forderung, zur Europawahl in einen breiten Bündnis anzutreten, als Absatzbewegung des Wagenknecht-Flügels: Die Europawahl, bei der man ohne Fünf-Prozent-Hürde ins Parlament einziehen kann, könnte nach dieser Lesart ein Probelauf werden.

Innerparteiliche Reaktionen auf die Wagenknecht-Rede von letzter Woche lassen wenig Hoffnung auf friedliche Koexistenz. Aber wäre die Trennung nicht auch eine Chance? Es gebe keine Redeverbote im Bundestag, lautet die hilflose Erklärung des Fraktionschefs der Linken, Dietmar Bartsch, im Deutschlandfunk. Nach der auch innerparteilich vieldiskutierten Rede von Sahra Wagenknecht im Bundestag wurde nicht nur deren Ausschluss aus der Fraktion, sondern auch sein Rücktritt als Fraktionsvorsitzender gefordert. Unterschriften für Offene Briefe werden zwar ständig gesammelt und sind meist schnell vergessen. Doch der Offene Brief, der von drei Politikerinnen der Linkspartei unter dem Motto „Es reicht“ initiiert wurde, könnte mit entscheiden, ob es künftig noch Die Linke in Fraktionsstärke in Parlament geben wird. In dem Brief wird …

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Große Aufregung über Wagenknechts Bundestagsrede. Zu kritisieren gibt es an ihr vieles, doch zielt die Empörung auf das Falsche ab. Ein Kommentar.

Gibt es einen Wirtschaftskrieg gegen Russland?

Hält man sich an die Fakten, hätte man sagen müssen, dass nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine ein "Wirtschaftskrieg" gegen Russland von großen Teilen des sogenannten Westens begann. Da bleibt die Frage, warum hier etwas Offensichtliches bestritten werden soll. Es gibt sicher gute Gründe Wagenknechts nostalgischen Blick auf den fordistischen Kapitalismus zu kritisieren. Doch die Aufregung um ihre Rede vom deutschen "Wirtschaftskrieg" soll wohl davon ablenken, dass auch ein Großteil ihrer Kritiker an ihrem Lob der Marktwirtschaft wenig auszusetzen hat.

Wieder Aufregung um Wagenknecht – vor allem in ihrer eigenen Partei. Knapp fünf Minuten dauerte die Rede der Bundestagsabgeordneten der Linkspartei. Sie fand sofort eine Aufmerksamkeit, die Bundestagsreden von den Linken heute selten haben. Doch ein Teil der eigenen Fraktion war gar nicht erfreut. Jetzt wird sogar wieder der Ausschluss von Wagenknecht aus der Fraktion oder gar der Partei gefordert. Nun gibt es genügend Gründe für linke Kritik an ihrer Rede. Denn sie hat sich dort als Politikerin bestätigt, die …

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Aus ökologischen Gründen ist ein schneller Ausstieg nötig, aber leider dominieren geopolitische Interessen. Was ist vom Vorschlag einer Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu halten?

Entscheidet sich die Zukunft der Grünen am Umgang mit der Gaskrise?

Vorbild könnte da der AKW-Kompromiss sein, wo ja auch kein sofortiger Ausstieg umgesetzt wurde. Als Übergangstechnologie könnte russische Energie genutzt werden, wenn es dazu keine ökologisch günstigere Alternative gibt. Es sollte um eine Energiepolitik mit ökologischem Hintergrund gehen, geopolitische Einflüsse sollten hingegen keine Rolle spielten.

„Herr Habeck, was braut sich da im Herbst zusammen?“ Diese Frage stellte Markus Lanz dem grünen Bundeswirtschaftsminister am 6. Juli und mit apokalyptischem Unterton zählte er auf: Corona, Inflation und am Ende: kalte Wohnungen. Der Minister konnte da wenig Beunruhigendes sagen und nur versichern, dass eine Triage bei Gas, das heißt eine Zuteilung nach der Wichtigkeit, aktuell nicht anstehe. Schließlich sind wir ja auch mitten im Sommer, akut wird die Frage aber nicht erst zum Beginn der kalten Jahreszeit. Schon in wenigen Wochen könnte es zu einem „D-Day“ beim Gas kommen, also dem Tag der Entscheidung, der eine klar militaristische Note hat, weil damit der Tag bezeichnet wird, an dem die westlichen Alliierten in der Normandie landeten. Jetzt ist damit der Tag gemeint, an dem sich zeigen wird, ob Russland nach den Reparaturen bei Nord Stream 1 die Gasmenge drosselt oder gar einstellt. Dann würde schnell deutlich werden, dass bei allem zur Schau getragenen Selbstbewusstseins …

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Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine kam hier die Stunde der Bellizisten, die bei Kritik an der Nato sofort Verbrüderung mit dem russischen Staatschef wittern

Feindbilder: Wer nicht für Aufrüstung ist, ist für Putin?

Das Desaster der vielen Kriege, die in den letzten Jahrzehnten schon mit Menschenrechtsargumenten geführt wurden, wird schlicht ausgeblendet. Wenn Putin seinen Angriff auf die Ukraine mit angeblichen Menschenrechtsverletzungen an russischen Bürgern begründet, unterscheidet sich die das nicht grundsätzlich von den Argumenten, mit denen der Angriff auf Jugoslawien 1999 von der damaligen "rot-grünen" Bundesregierung in Deutschland begründet wurde.

Zigtausende Menschen, nach unterschiedlichen Angaben 100.000 bis zu 500.000, demonstrierten am Sonntag im Regierungsviertel gegen den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine. Polizei war kaum zu sehen, fast zeitgleich wurde im deutschen Bundestag ein gigantisches Aufrüstungsprogramm, das schon lange in den Schubladen lag, von einer ganz großen Koalition aus SPD, Grünen, FDP und Union beschlossen. Der langjährige Friedensaktivist Willi van Ooyen hat den …

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… oder das Dilemma der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken

Unteilbar: „Für eine solidarische Gesellschaft“…

Hier liegt im Kern die Auseinandersetzung, die die Linke auch bei den aktuellen Wahlen lähmt und dafür sorgt, dass sie sich in Umfragen noch immer gefährlich nahe an der Fünfprozenthürde bewegt. In der Person von Wagenknecht und Oskar Lafontaine drückt sich das ganze Dilemma der Linken aus. Diese Personen mobilisieren Menschen bei ihren Wahlveranstaltungen wie kürzlich in Thüringen. Trotzdem weigern sich viele Ortsgruppen der Linken, mit Wagenknecht und Lafontaine Wahlkampf zu machen.


Am gestrigen Samstag sind Tausende Menschen in Berlin „für eine solidarische Gesellschaft“ auf die Straße gegangen. So lautete zumindest …

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Die Linkspartei sucht ein Führungsduo und muss verhindern, dass alte Streitigkeiten wieder aufbrechen. Die Nawalyn-Affäre konnte zusätzlichen Streit auslösen

Geht der Kelch der Regierungsbeteiligung noch einmal an der Linken vorbei?

Im Fall Nawalny sind die Töne selbst vorher eher außenpolitisch moderater Grüner wie Jürgen Trittin gegenüber Russland oft noch aggressiver als die von Unionspolitikern. Da scheint ein Bündnis mit der Linken undenkbar. Das sollte aber vor allem für die linken und bewegungsorientierten Kräfte eine gute Nachricht sein. Schließlich würde die Linke als Teil einer Bundesregierung die Partei ebenso ruinieren, wie es bereits mit ihren Schwesterparteien in Frankreich und Italien passiert ist.

Die hessische Linksparteipolitikerin Janine Wissler [1] war bisher bundesweit wenig bekannt. Das könnte sich ändern. Sie hat sich für das Amt der Parteivorsitzenden beworben. Kurz nach Wissler hat sich auch ….

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Die Wahlschlappe bei der EU und die Verluste der Linkspartei vor allem in Ostdeutschland sorgen in der Partei für Diskussionen

Welche Arbeiter wenden sich von den Linken ab?

In ganz Europa und auch darüber hinaus ist zu beobachten, dass mit dem Verschwinden der fordistischen Klassenformationen - die darauf basierten, dass eine mehr oder weniger weitgehend in den Staat integrierte Arbeiterklasse von Gewerkschaften vertreten und in unterschiedlichen Formationen der Sozialdemokratie repräsentiert wurde - auch das eben genannte Arrangement brüchig geworden ist.

Verdächtig ruhig war es in der Linkspartei nach dem schlechten Abschneiden der Partei bei der Europawahl. Vielleicht war die Stille auch der Einsicht geschuldet, dass ein interner Streit über die Ursachen des schlechten Wahlergebnisses die Krise nur verschärften würde.Schließlich ist ja schon lange bekannt, dass die Linke….

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Auch nach dem Rückzug Sahra Wagenknechts sind die Richtungsstreitigkeiten in der Linkspartei nicht vorbei

Nach dem Aufstehen kommt das Organizing

Populismus, Klassenkampf oder Politik für die akademische Mittel­schicht? Grenzen dicht oder Solidarität mit Migranten? Auch nach Sahra Wagenknechts Rückzug geht in der Linkspartei die Debatte über diese Fragen weiter.

»So schnell knallen bei uns keine Sektkorken mehr«, antwortete der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus, Udo Wolf, jüngst auf die Frage der Taz nach der Reaktion seiner Genossen auf die Ankündigung Sahra Wagenknechts, sich vom Vorsitz der Bundestagsfraktion zurückzuziehen. »Es ist kein Geheimnis, dass wir …

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Ehe für Alle nur glitzernde Hülle?

Streit um eine eigentlich richtige Erkenntnis von Wagenknecht, die aber so formuliert wurde, dass sie Kritik herausfordert

Die Fraktionsvorsitzende der LINKEN steht parteiintern seit Langem in der Kritik. Stichpunkte sind die linke Sammlungsbewegung und die Positionierung zur Forderung nach offenen Grenzen. Nun hat sich auch der Lesben- und Schwulenverband mit der Linkspolitikerin angelegt. In einem Offenen Brief[1] kritisieren sie ihren Gastbeitrag[2] in der konservativen Welt, in dem sie ihren Einsatz für eine Sammlungsbewegung begründet.

Dort geht sie auf den nun nicht besonders neuen Fakt ein, dass sich extrem wirtschaftsliberale Politiker in kulturellen Fragen liberal geben. Die Grünen sind hier Pioniere, aber auch die SPD und die Merkel-Union haben längst erkannt, wie man sich eine gute Presse verschafft, in dem man sich eben kreativ, flexibel und divers gibt, wie die Labels des modernen Kapitalismus heute lauten. Über die Politiker einer großen Koalition von der Merkel-Union bis zu den Grünen schreibt sie:

Sie alle predigen die vermeintliche Unfähigkeit des Nationalstaats, seine Bürger vor Dumpingkonkurrenz und dem Renditedruck internationaler Finanzinvestoren zu schützen. Sie alle vertreten somit einen Wirtschaftsliberalismus, der die Warnungen der Freiburger Schule vor der Konzentration von Wirtschaftsmacht in den Wind geschrieben hat und deren fatale Folgen nicht nur für Innovation und Kundenorientierung, sondern auch für die Demokratie ignoriert.

Und sie alle haben diesem Uralt-Liberalismus, der aus der Zeit vor der Entstehung moderner Sozialstaaten stammt, die glitzernde Hülle linksliberaler Werte übergestreift, um ihm ein Image von Modernität, ja moralischer Integrität zu geben. Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten.

Sahra Wagenknecht

Dagegen wenden sich die Verfasser des Briefes des Kritikbriefes:

In Ihrem Beitrag bleiben Sie zwar eher vage, für welche Politik und Ziele diese „neue Sammlungsbewegung“ oder „progressive Stimme“ steht. Allerdings drängt sich aufgrund Ihres Tenors der Eindruck auf, dass diese sich deutlich von Antidiskriminierungspolitiken, Antirassismus oder einer Politik die Menschenrechte verabschieden sollte, diese jedenfalls auf keinen Fall von ihr verteidigt werden wird.

Denn diese sind doch angeblich „Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten“. Zusammengefasst behaupten Sie weiter, dass „die glitzernde Hülle linksliberaler Werte“ nur von durch neoliberalen Politiken verursachte Armut und wachsender ökonomischer Ungleichheit ablenken sollen. Damit Ihre These aufgeht, verschweigen Sie, vermutlich bewusst, dass diese gesellschaftlich hart erkämpft werden mussten.

So ein mehr oder weniger von der Politik als Ablenkungsmanöver hingeworfenes Häppchen ist für Sie die „Ehe für Alle“, die Sie in einem Satz mit dem sozialen Aufstieg von wenigen verknüpfen. Zwar schreiben Sie, dass beides sich nicht widerspreche, aber dennoch stellen Sie beide Entwicklungen in einen Zusammenhang und suggerieren, dass das eine mit dem anderen zu tun hätte.

Auch das ist ja eine bewusste Entscheidung von Ihnen. Und dieser Tenor zieht sich durch den gesamten Beitrag.

Das demontiert und dementiert ein Stück sogar die eigene Politik der Linken. Schließlich hat sich die Fraktion Die LINKE über mehrere Wahlperioden im Bundestag nachdrücklich für die Öffnung der Ehe eingesetzt und alle anwesenden Abgeordneten der Linken haben bei der Ehe für alle mit Ja gestimmt.

Offener Brief des LSVD

Seitdem tobt im Umfeld der LINKEN und ihr nahestehenden Medien ein weiterer Streit um die Fraktionsvorsitzende.

Warum missverständliche Formulierungen in Wagenknechts Text?

Nun hat sie sich das auch selber zuzuschreiben. Denn Wagenknecht weist auf einen nun wahrlich nicht originellen Fakt hin, dass in der kapitalistischen Weltordnung eine unter den Füllwörtern wie Diversität und Vielfalt gelabelten Minderheitenpolitik als Standortvorteil im innerkapitalistischen Wettbewerb eine wichtige Rolle spielt. Man muss sich nur die Werbetafeln von transnationalen Konzernen ansehen, die genau diese modernen Kapitalismus repräsentieren. Die Botschaft ist klar: Wir sind bunt, wir sind divers, wir kennen keine Ressentiments, wenn Du nur finanziell liquide bist. Wenn Du aber kein Geld hast, hilft Dir keine Buntheit, keine Diversität. Du bist ausgeschlossen aus der schönen kapitalistischen Warenwelt.

Organisationen wie der LSVD fungieren so längst als Botschafter dieses modernen Kapitalismus und haben die Rolle gerne angenommen. Sie prägen in ihrem ganzen Auftreten das Bild von wohlhabenden, konsumorientierten Menschen. Den Fakt, dass es Schwule und Lesben gibt, die kein Geld haben, kommt da kaum vor. Hier müsste linke Kritik einsetzen, die genau Wagenknecht nicht leistet. Sie erinnert in einem Satz daran, dass sich der Kampf um soziale Rechte und der Kampf für die Rechte von Schwulen und Lesben nicht ausschließen. Das liest sich aber wie eine vage Absicherung.

Warum erwähnt sie als Politikerin der LINKEN nicht, dass bereits die Sozialdemokratie vor mehr als 120 Jahren diesen Kampf führte. Es waren frühe Sozialdemokraten wie August Bebel, die auch parlamentarisch für die Entkriminalisierung von Homosexualität eintraten. Es gab in der Geschichte vor allem des linken Flügels der Arbeiterbewegung immer wieder eine solche Position, die eben den Kampf gegen alle Formen von Unterdrückung und Ausbeutung in den Fokus rückte. Hinter eine solche Position sollte heute niemand von den Linken zurückfallen.

Es gab aber auch in der Arbeiterbewegung immer wieder Versuche, soziale Rechte gegen Rechte von den unterschiedlichen Minderheiten auszuspielen. Gerade eine Strömung der Arbeiterbewegung, die im Zuge der Stabilisierung dem Mythos des männlichen Arbeiterhelden frönte, vertrat auch explizit schwulen- und lesbenfeindliche Positionen. Doch diese patriarchalen Elemente waren selbst in Teilen der Strömungen in der Arbeiterbewegung zu finden, die sich klar gegen die stalinistische Konterrevolution wandten.

Die selbständige Organisierung von Frauen, Schwulen und Lesben ist auch mit den schlechten Erfahrungen verbunden, die sie mit einer arbeitertümelnden Bewegung gemacht haben, für die Minderheiten nur bürgerliches Getöns waren. Es wäre daher für eine Politikerin der LINKEN angebracht gewesen, darauf hinzuweisen und sich explizit auf jene Teile der Arbeiterbewegung zu beziehen, die einen umfassenden Begriff von Emanzipation vertraten und damit nicht nur den Arbeitermann und die genauso fleißige Arbeiterfrau damit meinten. So hat sich also Wagenknecht einen Teil der Kritik selber zuzuschreiben.

Warum fehlt im LSVD-Brief die Klassenunterdrückung?

Doch auch der Offene Brief des LSVD verdient kritische Fragen. Zunächst fällt auf, dass dort in keinem Wort auch nur eine Kritik an der Politik des sozialen Kahlschlags geschweige denn am Kapitalismus geübt wird. Es wird nur an einer Stelle zutreffend behauptet, dass es Transphobie und Rassismus bereits vor der Einführung von Hartz IV gab. Doch warum wird von den Verfassern des Briefes diese Gelegenheit nicht genutzt, um sich ganz klar von der Agenda 2010 zu distanzieren? Schließlich sind auch viele Schwule und Lesben Menschen, die davon betroffen sind. An einer Stelle wird Wagenknecht im Brief ermahnt:

Zuletzt möchten wir Sie daran erinnern, dass Homophobie, Sexismus und Rassismus wie alle anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und Abwertung Menschen auseinandertreibt und Solidarität gerade schwächt.

Ist es Zufall, dass bei der Aufzählung der Unterdrückungsformen die Klassenunterdrückung fehlt? Und schwächt diese Ignoranz des LSVD gegenüber dieser kapitalistischen Ausbeutung nicht auch den Kampf um eine emanzipative Gesellschaft? Wie eine solche Solidarität aussehen kann, die alle Formen von Ausbeutung und Unterdrückung einschließt, zeigt die Solidaritätsbewegung von britischen Schwulen und Lesben mit dem Bergarbeiterstreik[3] vor über 30 Jahren, die durch den Film Pride[4] dankenswerterweise wieder bekannter wurde.

Auch Lohnarbeit verdient Respekt

Nun müsste der LSVD nicht weit in die Vergangenheit zurückgehen, um sich auch für Klassenunterdrückung zu interessieren. Er hätte sich nur mit den Mitarbeiterinnen des Bildungswerk des LSVD Berlin solidarisieren können, die Ende letzten Jahres für bessere Arbeitsbedingungen stritten[5]. Ihr Arbeitskampf war auch deshalb erfolglos, weil der gesamte LSVH ihre Anliegen ignorierte.

Das Motto der Beschäftigten lautete: „Auch Lohnarbeit verdient Respekt“[6]. Die Beschäftigten mussten die Erfahrung machen, dass in einem Milieu, in dem so viel über Respekt geredet wird, ihnen als Beschäftigte genau dieser Respekt verweigert wird. Dieser Vorwurf fällt auch auf den LSVD außerhalb Berlins zurück, weil der sich trotz Aufforderung nicht für die Beschäftigten positioniert ist. Daher ist es zweifelhaft, ob ein solcher Verband des schwulen Mittelstands wirklich dazu taugt, über eine emanzipative Gesellschaft zu belehren. Dabei steht der LSVD stellvertretend für eine Mittelschicht, die sich schon längst von den Problemen der Einkommensarmen abgewandt hat.

Linksliberale Werte verhalten sich zum neuen Kapitalismus wie ein Schlüssel zum Schloss

Die Soziologin Cornelia Koppetsch[7] hat kürzlich in einem taz-Interview[8] diese Schicht treffend analysiert und ohne jegliches Ressentiment seziert:

taz am wochenende: Frau Koppetsch, Sie bescheinigen der urbanen Mittelschicht Spießigkeit, Angepasstheit und die Rückkehr zu konservativen Werten. Wer sind diese sogenannten Kosmopoliten, die Sie in Ihren Büchern beschreiben?

Cornelia Koppetsch: Als Kosmopoliten bezeichne ich die akademisch gebildete, zumeist in urbanen Zentren ansässige Mittelschicht, die sich an Werten wie Toleranz und Weltoffenheit orientiert, politisch interessiert und zivilgesellschaftlich engagiert ist. Angepasst sind sie insofern, als dass sie durch Selbstoptimierung und unternehmerisches Handeln das Projekt des Neoliberalismus verinnerlicht haben, auch wenn sie diesem eigentlich kritisch gegenüberstehen und sich gegen eskalierende Ungleichheiten aussprechen. Doch verhalten sich linksliberale Werte zum neuen Kapitalismus wie ein Schlüssel zum Schloss.

Sie meinen Werte wie Selbstverwirklichung, Kreativität, Toleranz und Diversity?

Ja. Das sind ja genau die Schlagworte, die sich der neue Kapitalismus auf seine Fahnen geschrieben hat. Die linksliberalen Werte sind der Motor der Globalisierung. So haben sich einst alternative Lebensformen in ihren Strukturen überall in der Wirtschaft etabliert.

Claudia Koppetsch

Der LSVD spielt hier die im Kapitalismus notwendige Rolle und auch das ist wichtig zu betonen, es geht dabei nicht um bösen Willen, sondern einen Prozess, der hinter dem Rücken der Beteiligten abläuft. Damit erklärt sich auch, warum eine einstmals linksoppositionelle Schwulen- und Lesbenbewegung, die die bürgerliche Ehe ablehnte, nun feiert, dass die Ehe für Alle eingeführt wurde.

In dem Brief an Wagenknecht wird die Ehe für Alle gar zum Ergebnis langjähriger Kämpfe verklärt. Dabei wird die historische Wahrheit unterschlagen, dass nur eine konservative Minderheit in den 1970er und 1980er Jahre die Ehe für alle forderte. Die Mehrheit der damals Linksoppositionellen erkannte den Zusammenhang von bürgerlicher Ehe und bürgerlicher Gesellschaft und bekämpfte sie.

Im Streit zwischen dem LSVD und Wagenknecht zeigt sich, dass auf beiden Seiten dieses Ziel keine Rolle mehr spielt, ja nicht einmal benannt wird. Es geht dann letztlich nur um darum, dass beide Seiten unterschiedliche Zielgruppen adressieren, aber keiner von beiden überhaupt nur über den Tellerrand des Kapitalismus hinausdenkt.

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.lsvd.de/fileadmin/pics/Dokumente/Politik/2018_06_29_Sahra_Wagenknecht.pdf
[2] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article178121522/Gastbeitrag-Warum-wir-eine-neue-Sammlungsbewegung-brauchen.html
[3] http://www.lesbiansandgayssupporttheminers.org
[4] https://zeitgeschichte-online.de/film/prid
[5] https://berlin.fau.org/presse/pressemitteilungen/konflikt-im-lesben-und-schwulenverband-kocht-hoch
[6] http://
[7] https://www.ifs.tu-darmstadt.de/?id=3035
[8] http://www.taz.de/!5516398/

Parteitag der Linken: Wie passen offene Grenzen mit realen Abschiebungen zusammen?

Die Linke zerstreitet sich auf ihren Parteitag erwartungsgemäß über offene Grenzen. Doch die Abschiebungen in von ihr mitregierten Bundesländern wurden erst am Ende ein Thema

Am Ende kam es doch noch zum Eklat auf dem Parteitag der Linken. In einer teilweise sehr emotionalen, extra anberaumten einstündigen Diskussion über die Flüchtlingsfrage[1] zeigte sich, wie sehr die Delegierten das Thema umtreibt. Es hatten sich fast 100 Delegierte für eine Wortmeldung angemeldet. Nicht mal ein Viertel konnte sich aus Zeitgründen äußern.

Es war seit Monaten vorauszusehen, dass die Flüchtlingspolitik zum Knall führen wird. Dabei bemühte man sich zwei Tage um Formelkompromisse. Es sah auch erst so aus, als könnte das gelingen.

„Bleiberecht für Alle“ oder „Bleiberecht für Menschen in Not“

Sahra Wagenknecht erklärte ausdrücklich, dass sie mit dem vom Parteivorstand eingebrachten Beschluss leben kann, weil dort nicht mehr ein Bleiberecht für alle Menschen, sondern für alle Geflüchtete gefordert wird. Nun handelt es sich hier auch wieder um viel Semantik. Denn natürlich wollen nicht alle Menschen fliehen und nur ein Bruchteil der Menschen in Not will überhaupt nach Deutschland.

Darauf wies Fabian Goldmann in einem Kommentar[2] in der Tageszeitung Neues Deutschland hin.

Von den 67 Millionen Menschen, die derzeit weltweit auf der Flucht sind, kamen im vergangenen Jahr 186.644 nach Deutschland. Rechnet man noch die 1,17 Millionen Geflüchteten aus den beiden Vorjahren hinzu, kommt man immer noch nicht auf „die ganze Welt“, sondern auf rund zwei Prozent der weltweiten Flüchtlingsbevölkerung.

Fabian Goldmann

Allerdings macht Goldmann seine Kritik an einer populistischen Äußerung der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles fest. Doch eigentlich zielte seine Kritik auf den Flügel um Sahra Wagenknecht und so wurde sie auch punktgenau vor dem Beginn des Parteitags der Linken im Neuen Deutschland platziert.

Hier wird einer der Gründe deutlich, warum in der Linken eine Debatte um Migration so schwierig ist. Goldmann schlägt Nahles und meint Wagenknecht, die manche schon nicht mehr als rechte Sozialdemokratin sehen, sondern gleich in die Nähe der AfD stellen. Und Goldmann hat auch noch exemplarisch gezeigt, wie man in der Migrationsdebatte in der Linkspartei künstlich Konflikte schafft.

Denn die Überschrift über Goldmanns Überschrift ist natürlich polemisch gemeint, was im Text deutlich wird. „Doch wir können alle aufnehmen“ – weil nur 2% der Migranten überhaupt nach Deutschland kommen. Es ist schon erstaunlich, dass sich vor allem der realpolitische Flügel der Linken in den Fragen der Migrationspolitik als Maximalisten der Worte geriert, während seine Mitglieder in fast allen gesellschaftspolitischen Fragen ansonsten jeden Wortradikalismus bekämpfen, weil er angeblich viele potentielle Wähler abschrecke.

Würde, so ließe sich fragen, in einem sozialpolitischen Leitantrag die Überschrift auftauchen, dass nur eine kommunistische Gesellschaft – nicht zu verwechseln mit dem untergegangenen Staatskapitalismus – die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigen kann? Einem Antrag mit einer solchen Wortwahl würden nicht mal 10 Prozent der Delegierten zustimmen. Warum also in der Flüchtlingsfrage die Liebe zur Wortradikalität?

Da lohnt ein Blick in die Geschichte der Arbeiterbewegung. Schon Jahre vor Beginn des 1. Weltkriegs, als ein Großteil der sozialdemokratischen Parteien ihren Burgfrieden mit Staat und Kapital schloss, hatten bekannte Parteifunktionäre diesen Schritt vorbereitet. Sie befürworteten den Kolonialismus, wollten Frauen aus der Arbeiterbewegung ausgrenzen – und auch die Liebe zu Nation und Staat hatten sie schon entdeckt. Doch diese Verstaatlichung der Sozialdemokratie wurde durch radikal klingende Parteiprogramme verdeckt, in denen man sich scheinbar orthodox auf Marx berief. Doch sie hatten wenig mit der konkreten Parteipolitik zu tun. Daher konnte man sie zu Beginn des 1. Weltkriegs so schnell über Bord werfen. Umgekehrt schien die Burgfriedenspolitik für viele überraschend, weil sie eben nur auf die radikal klingenden Programme und weniger auf die Praxis guckten.

Warum nicht auch ein würdiges Leben für die, die nicht migrieren wollen?

In der Debatte um die Flüchtlingspolitik in der LINKEN scheint sich das Muster zu wiederholen. Das wird schon daran erkennbar, dass die Aufregung von der Person abhängt, die sich zur Migrationspolitik äußert.

Es ist absolut richtig und mit linker Programmatik kompatibel, die Bedürfnisse und Interessen der Menschen in den Aufnahmeländern ebenfalls im Blick zu haben.

Wieder so ein Satz von Sahra Wagenknecht gegen Offene Grenzen? Nein, er stammt von einen Beitrag[5] des Bundestagsabgeordneten Michael Leutert[6] in der Wochenzeitung Jungle World. Dort verteidigt Leutert ein Einwanderungsgesetz der LINKEN, das er mit formuliert hat. In einen späteren Beitrag kritisiert[7] Caren Lay[8] dieses Einwanderungsgesetz vehement und sieht es als Versuch der Revision einer angeblich libertären Programmatik in der Flüchtlingspolitik der LINKEN.

Das Thesenpapier von Fabio De Masi, Michael Leutert und anderen folgt dagegen einer anderen Agenda: nämlich die bisherige programmatische Forderung der Linkspartei nach offenen Grenzen zu revidieren. Es spricht sich erstmalig in der linken Migrationsdebatte klar für die Regulierung von Einwanderung, vor allem die Begrenzung der Arbeitsmigration im Interesse der deutschen Bevölkerung, aus. Ich bin erschrocken, wenn behauptet wird, ‚ohne Grenzmanagement stünden die Staaten hilflos gegenüber der international organisierten Kriminalität und dem Terrorismus‘ da, denn das suggeriert, dass organisierte Kriminalität offenbar ausschließlich von außen importiert wird.

Anstatt Migration und Einwanderung als Normalfall und Grundlage moderner Gesellschaften anzunehmen und positive Leitbilder für eine solidarische Einwanderungsgesellschaft zu entwerfen, werden die Bedürfnisse von Eingewanderten und Einheimischen gegeneinandergestellt. Grundlage der Argumentation ist die Unterscheidung zwischen Asylsuchenden und sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen, wie es im Mainstreamdiskurs heißt, auch wenn die Formulierung „diejenigen, (…) die lediglich ein höheres Einkommen erzielen oder einen besseren Lebensstandard genießen wollen“ versucht, diesen Begriff zu umschiffen. Eine solche Unterscheidung bedeutet im Kern nichts anderes, als von Millionen Menschen im globalen Süden paternalistisch zu fordern, doch bitte zu Hause zu bleiben und dort für Gerechtigkeit und ein besseres Leben zu kämpfen. Garniert wird dies mit der abenteuerlichen Behauptung, nur die Wohlhabenden der Herkunftsgesellschaften würden den Weg nach Europa schaffen.

Caren Lay

Lay und Leutert sind aktiv im realpolitischen Flügel der LINKEN, stehen in der Einwanderungsfrage konträr und schaffen es doch, ohne persönliche Angriffe die Kontroverse auszutragen. Hier geht es also im Grunde um den Streit, der am Sonntagmittag zur Eskalation auf dem Parteitag der LINKEN beigetragen hat. Wagenknecht hatte in ihrer Rede betont, dass sie das Asylrecht verteidigt und daher offene Grenzen für Menschen in Not befürwortet, nicht aber eine Arbeitsmigration.

Tatsächlich wird in der Debatte von allen Seiten sehr selektiv geurteilt. Auch bei den Befürwortern einer Arbeitsmigration für Alle werden die Konsequenzen für die Gesellschaften außer Acht gelassen. Schon die heute legale Arbeitsmigration im EU-Raum zeigt diese Problematiken. Viele Kinder wachsen in Rumänien und Bulgarien ohne Eltern auf, weil die in Westeuropa arbeiten und nur wenige Tage im Jahr zu Hause sind. Wenn die wenigen Ärzte und Pfleger aus dem Subsahara-Raum migrieren, wer kümmert sich dann um die Ärmsten, die eben aus Alters- und Krankheitsgründen nicht fliehen können?

Müsste eine linke Position nicht nur das Recht auf Migration, sondern auch das Recht stark machen, dass Menschen in ihren Heimatländern ein würdiges Leben führen können? Und warum macht man sich nicht auch für die Ausbildung von Geflüchteten in Deutschland stark, mit der sie in ihren Heimatländern ein würdiges Leben für sich und andere aufbauen können? Es haben viele Geflüchtete aus Syrien, aber auch aus anderen afrikanischen und asiatischen Ländern immer wieder betont, dass sie gerne zurückgingen, wenn sich für sie Lebensperspektiven bieten würden. Könnten nicht derartige Ausbildungsprogramme zu solchen Perspektiven beitragen?

Auf dem Parteitag wurde etwas nebulös auch immer wieder davon geredet, dass die Fluchtursachen bekämpft werden müssen. Aber von Ausbildungsprogrammen für Migranten, die wieder in ihre Heimatländer zurückwollen, hat man wenig gehört. Dabei wäre das im Interesse für einen nicht unerheblichen Teil der Menschen, die migrieren mussten. Was auch nicht erwähnt wurde, war die gewerkschaftliche Organisierung der Migranten.

Erst kürzlich wurde in Italien Soumaila Sacko erschossen[9], der sich gewerkschaftlich organisierte[10]. Er sammelte Blech für seine Hütte, mit der er in Italien sich selber ein Dach über dem Kopf schaffen wollte. Doch diese Biographien von Lohnabhängigen in Europa kommen auch in den moralisch grundierten Refugee-Welcome-Erzählungen einer parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken viel zu wenig vor.

Der Film Eldorado[11] ist da eine Ausnahme. Der Regisseur Markus Imhooff begleitete einen Gewerkschafter in die Hütten der ausgebeuteten Tagelöhner, die in Italien Tomaten ernten. Doch ein Großteil der Migrantengeschichten in Filmen und Theatern nimmt die Perspektive eines linksliberalen akademischen Mittelstands ein, der heute in verschiedenen Orten der Welt zu Hause ist und sich dann fragt, wo ihre Heimat ist. Das gilt auch für künstlerisch sehr gelungene Theaterstücke wie Being here – hier sein[12]. Was für eine künstlerische Arbeit, die ein linksliberales Bürgertum anspricht, das auch sonst kaum mit der realen Arbeitswelt in Berührung kommt, verständlich sein mag, ist für eine Partei, die sich rhetorisch auf die Arbeitswelt bezieht, fatal.

Werden Kipping und Wagenknecht zusammen Abschiebungen behindern?

Am Ende sind die streitenden Personen innerhalb der LINKEN doch noch gemeinsam auf die Bühne gegangen und haben einen Vorschlag für die Weiterführung der Debatte vorgestellt. So soll nicht mehr über die Medien, sondern innerhalb der Partei und ihren Gremien diskutiert werden. Es wird sich zeigen, wie lange dieser Vorsatz Bestand hat. Zudem soll eine Tagung zur Flüchtlingsfrage mit Bündnisorganisationen und Experten beraten werden. Vielleicht kommt es dann doch noch dazu, darüber zu beraten, wie denn Abschiebungen von Migranten aus Ländern mit Regierungsbeteiligung der LINKEN be- oder gar verhindert werden können.

In der nach Wagenknechts Rede erzwungenen Diskussion haben mehrere Delegierte auf diese Abschiebungen hingewiesen. Das war implizit auch eine Kritik an die vielen Realpolitikern der LINKEN, die so vehement für offene Grenzen auf dem Papier eintreten und über darüber schwiegen, dass sowohl in Berlin und Brandenburg als auch in Thüringen die Polizei weiterhin Abschiebungen mit Polizeihilfe vollzieht.

Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach, die Wagenknecht in einem emotionalen Redebeitrag sehr stark angriff, äußerte sich nicht dazu. In der anschließenden Abschlussrede erklärte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow mit dem Parteibuch der LINKEN wie sehr er diese Abschiebungen bedauert. Doch leider müssen nun mal Bundesgesetze umgesetzt werden. Daher müsse die LINKE auch da so stark werden, dass sie die Gesetze verändern kann. Das ist allerdings eine Vertagung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Viel realistischer ist es, wenn eine starke zivilgesellschaftliche Bewegung Abschiebungen real be- oder auch verhindert. Das ist auch schon mehrmals geschehen und mittlerweile wird ein solcher Widerstand vermehrt kriminalisiert[15], wie im letzten Jahr in Nürnberg[16] und kürzlich in Ellwangen[17].

Warum positioniert sich die LINKE nicht hier, anstatt über offene Grenzen zu zerstreiten? Weil es dann für die Realpolitiker um ihre Ämter geht? Wie würde die Presse reagieren, wenn sich Katja Kipping und Sahra Wagenknecht gemeinsam auf einer Blockade unterhaken, um womöglich in einem von der LINKEN mitregierten Land die Abschiebung einer Roma-Familie zu verhindern? Das wäre doch ein Thema, mit der die LINKE ganz konkret in die Abschiebemaschine eingreifen könnte.

Der Sender Phönix habe die Ausstrahlung des Films „Kreuzzug der Katharer“ abgesagt, um die kurzfristig anberaumte Diskussion der LINKEN auszustrahlen, erklärte Dietmar Bartsch stolz. Ungleich größer wäre das Medienecho, wenn die Spitzenpolitiker der LINKEN dem Vorschlag eines Delegierten folgend tatsächlich in die Abschiebemaschine eingreifen würden.

Peter Nowak
https://www.heise.de/tp/features/Parteitag-der-Linken-Wie-passen-offene-Grenzen-mit-realen-Abschiebungen-zusammen-4075493.html

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[1] https://www.youtube.com/watch?v=cuWwA4AWdKM
[2] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1090349.obergrenze-fuer-fluechtlinge-doch-wir-koennen-alle-aufnehmen.html
[3] https://www.flickr.com/photos/die_linke/42688945811/
[4] https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/
[5] https://jungle.world/artikel/2018/20/regulieren-ist-notwendig
[6] https://www.michael-leutert.de/de/topic/3.bundestag.html
[7] https://jungle.world/artikel/2018/22/links-bleiben
[8] https://www.caren-lay.de/
[9] http://www.ilgiornale.it/news/vibo-valentia-fermato-presunto-killer-soumaila-sacko-1537727.html
[10] http://www.derstandard.de/story/2000081073354/mord-an-migrant-in-kalabrien-entflammt-tageloehnerdebatte
[11] http://www.majestic.de/eldorado/
[12] http://www.hellerau.org/being-here-2018
[13] https://www.flickr.com/photos/die_linke/42661563902/
[14] https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/
[15] https://www.heise.de/tp/features/Fall-Asef-N-Der-Rachefeldzug-3973990.html
[16] https://www.heise.de/tp/features/Fall-Asef-N-Nuernberger-Lehren-3744160.html
[17] http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.nach-polizeieinsatz-in-ellwangen-fluechtlinge-schildern-polizei-ihre-aengste.5dcc19ae-89aa-4a28-be3f-33aeec1e3ad4.html

Neuer Streit um Sahra Wagenknecht

Der kleinste gemeinsame Nenner ist der Versuch, die Macht der Politikerin zu begrenzen

Die Co-Vorsitzende der Linken, Sahra Wagenknecht ist eine viel gefragte Interviewpartnerin. Doch kaum jemand nimmt wahr, was sie zur Me-Too-Kampagne zu sagen hat und dass ihr es ein wichtigeres Anliegen ist, Frauen aus den Niedriglohngruppen zu unterstützen, als für eine Frauenquote in den Konzernzentralen einzutreten. Doch das Interview, das Sahra Wagenknecht vor wenigen Tagen der Tageszeitung Neues Deutschland gegeben hat, sorgt für Schlagzeilen. Hat sie doch dort noch mal ihre Position zur Migrationsfrage dargelegt, ihre Kritik am Parteivorstand wiederholt und auch betont, dass nicht der Mittelstand, sondern die Prekarisierten die Hauptzielgruppe ihrer Partei sein sollten.

Warum sollen die Armen aus Enttäuschung AfD wählen?

Natürlich müssen wir so viele Menschen wie möglich erreichen, vor allem solche, denen es nicht gut geht und deren Interessen von den Regierungen seit Jahren mit Füßen getreten werden. Seit der Agenda 2010 sind viele Menschen abgestürzt, sie arbeiten in Leiharbeit oder anderen Niedriglohnjobs, sie leben von Hartz IV oder schlechten Renten. Ein Teil von ihnen hat aus Enttäuschung und Wut AfD gewählt. Es ist nicht unsere Aufgabe, diese Wähler zu beschimpfen, sondern wir müssen uns fragen, warum es uns nicht gelungen ist, sie für die LINKE zu gewinnen.

Sahra Wagenknecht, Neues Deutschland

Grundsätzlich ist es natürlich richtig, dass eine linkssozialdemokratische Partei schwerpunktmäßig die Menschen anspricht, die ökonomisch an den Rand gedrängt werden. Doch warum erwähnt Wagenknecht nicht, dass die Menschen nicht einfach aus Frust und Enttäuschung mit der AfD eine Partei wählen, die noch wirtschaftsliberaler als die FDP ist?

Es wird eben von Wagenknecht nicht betont, dass Menschen eine Partei wie die AfD wählen, weil sie eine bestimmte Erklärung ihrer Lage und der Welt mit dieser Partei grundsätzlich teilen. Wer Migranten oder schlicht die „Anderen“, die angeblich nicht hierhergehören, und nicht die Parteien, die Hartz IV beschlossen haben, für die eigene schlechte soziale Lage verantwortlich macht, sollte sicher nicht beschimpft werden. Notwendig ist aber eine harte Kritik dieser Positionen. Genau diesen Punkt lässt Wagenknecht unerwähnt.

Ist es nationalistisch, eine Sozialpolitik in einem Nationalstaat zu fordern?

Dass macht es ihren Kritikern in und außerhalb er Linkspartei einfach, sie in die rechte Ecke zu stellen, was Unsinn ist. Sie ist eine linke Sozialdemokratin, die im Rahmen des Nationalstaats eine soziale Politik fordert. Dass kann und sollte man als naiv kritisieren, weil es beim heutigen Stand der globalen kapitalistischen Vernetzung kein Zurück zum keynisianistischen Sozialstaat der 1970er Jahre mehr geben kann. Aber eine solche Forderung ist nicht gleich nationalistisch.

Auch Kämpfe von Gewerkschaften finden überwiegend noch im nationalstaatlichen Rahmen statt, weil noch nicht einmal eine funktionierende europäische Gewerkschaft existiert. Wagenknecht hat auch Recht, wenn sie betont, dass soziale Probleme zur Spaltung im Kapitalismus ausgenutzt werden. Doch auch hier fällt wieder auf, dass sie richtige Aussagen durch Auslassungen zumindest deutungsfähig macht:

Es ist die herrschende Politik, die die Ärmeren in einen Interessengegensatz zu den Flüchtlingen bringt, am krassesten an den Tafeln, aber auch bei der Konkurrenz um Kita-Plätze, Niedriglohnjobs oder bezahlbare Wohnungen, von denen es viel zu wenige gibt. Oder auch an den überforderten Schulen in sozialen Brennpunkten, wo sich das Lernniveau weiter verschlechtert. Infolge der Flüchtlingskrise haben sich viele soziale Probleme verschärft, die es vorher schon gab.

Sahra Wagenknecht, Neues Deutschland

Die Konsequenz der kapitalistischen Spaltung kann aber nicht Abschottung sein, sondern der Kampf aller Menschen unabhängig von ihrer Herkunft für Wohnungen, für eine Grundsicherung, von der man leben kann etc. Genau dafür kämpfen soziale Initiativen in einigen Städten. Es ist schon merkwürdig, dass Wagenknecht diese linke Praxis nicht erwähnt. Dabei hat sie Recht, wenn sie kritisiert, dass auch in der Frage der Migration oft Moral die Analyse ersetzt und dass es die AfD stärkt, wenn Linke im Kampf gegen Rechts wirtschaftsliberale Positionen unterstützen. Das zeigte sich bei den Wahlen in den USA, aber auch in vielen anderen Ländern.

Das ND-Interview hätte also eine kritische Diskussion verdient. Doch die wird noch durch innerparteiliche Konfliktlagen erschwert: das Duo Wagenknecht/Bartsch an der Fraktionsspitze gegen die Parteiführung um Riexinger und Kipping. Diese Konfliktlage führte bei den LINKEN dazu, dass nicht von einem Streit um Positionen, sondern von einem Aufstand in der Fraktion gegen Sahra Wagenknecht die Rede ist. Etwa ein Drittel der Bundestagsabgeordneten verfasste eine Erklärung, in der sie statt einer kritischen Auseinandersetzung nur die innerparteiliche Frontlinie begradigten.

Zudem setzt sich die Logik des Verdachts fort, wo nicht ausgesprochen, sondern nur angedeutet wird. So wird Wagenknecht das Recht abgesprochen, die Parteispitze um Riexinger und Kipping zu kritisieren, ohne darauf hinzuweisen, dass die beiden Parteivorsitzenden ebenfalls nicht mit Vorwürfen gegen Wagenknecht geizen. Wenn, dann müsste schon an beide Seiten die Aufforderung gerichtet werden, die Kritik an der jeweils anderen Fraktion zu unterlassen. Dann müssten die Unterzeichner der Erklärung bei sich selber anfangen: Oder wie ist dieser Satz zu verstehen?

Wir würden es begrüßen, wenn ab sofort wieder das Bundestagswahlprogramm der Partei Grundlage auch des öffentlichen Wirkens der Fraktionsvorsitzenden wird.

Aus der Erklärung von Mitgliedern der Linksfraktion im Bundestag zu den jüngsten Äußerungen der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht

Es wird der harte Vorwurf erhoben, dass Wagenknecht nicht das Bundestagswahlprogramm zur Grundlage ihrer Arbeit macht, ohne nur zu erwähnen, an welchen Punkt sie das festmachen. Wird hier nicht die Logik der Unterstellung und des Verdachts fortgesetzt? Auffällig ist, dass in der Erklärung nicht konkret auf die Differenzen in der Einschätzung der Migration eingegangen wird, die sehr wahrscheinlich hinter diesem Vorwurf steht.

Stehen die Regierungslinken in Berlin und Thüringen auf den Boden der Programmatik der Linkspartei?

Der Grund für diese Leerstelle ist ziemlich einfach. Es geht um den kleinsten gemeinsamen Nenner, der darin besteht, den Einfluss der manchen innerparteilich zu mächtig werdenden Wagenknecht zu beschränken. Da gibt es dann Allianzen vom linken Parteiflügel, der sich schon längst von Wagenknecht emanzipiert hat, bis zu erklärten Anhängern eines engen Bündnisses zwischen SPD und Grünen. Schließlich hat die Fraktionsvorsitzende mit ihrer Feststellung, dass diese rot-rot-grüne Machtoption schon rein rechnerisch auf Bundesebene nicht besteht, eigentlich nur einen Istzsutand beschrieben. Und dass ein solches Bündnis, das bis zur letzten Bundestagswahl eine rechnerische Mehrheit im Bundestag hatte, nie realisiert wurde, zeigt eigentlich nur, dass es eine Chimäre ist.

Doch sofort meldeten sich mit Benjamin Hoff und Alexander Fischer zwei Linkenpolitiker aus Thüringen und Berlin zu Wort, die ein Loblied auf das Bündnis mit SPD und Grünen sangen. Interessant, wie sie ihrerseits mit Unterstellungen arbeiten:

Rot-Rot-Grün sei tot, werden die Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Bundestag zitiert. Doch während Dietmar Bartsch auf die arithmetische Realität aufmerksam macht, steckt bei Sahra Wagenknecht ein weitergehendes politisches Kalkül dahinter. Ihre Idee einer neuen „Sammlungsbewegung“ soll jenseits der und gegen die bestehenden Parteien Wirkung zeigen. Dafür muss die Option Rot-Rot-Grün, also eine Bündnispolitik dreier unterschiedlicher Parteien auf Augenhöhe, vom Tisch. Bartsch aber auch die Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger verorten die Linkspartei als „Bollwerk für Menschlichkeit“ gegen eine ständige Verschiebung des politischen Mainstreams nach rechts.

Alexander Fischer und Benjamin Hoff, Neues Deutschland

Der ihrem Realoflügel nahestehende Dietmar Bartsch spricht also nur von der Wahlarithmetik, wenn er Rot-Rot-Grün für tot erklärt, Wagenknecht aber wolle damit ihre ominöse Sammlungsbewegung befördern. Die wollen vor allem diejenigen verhindern, die dort nicht mit eingebunden sind. Dabei haben Hoff und Fischer nur mehr alten Wein in alten Schläuchen im Angebot

SPD, Grüne und LINKE sind bei Strafe ihres Bedeutungsverlustes dazu aufgerufen, den Willen und die Fähigkeit auszustrahlen, der Union das Kanzleramt zu entreißen.

Alexander Fischer und Benjamin Hoff

Da wird nicht einmal erwähnt, dass SPD und Grüne die größten Beförderer des Projekts EU-Deutschland sind, wo andere Ökonomien niederkonkurriert würden. Dass in dem von Fischer und Hoff skizzierten Projekt die Linke ein Feigenblatt neoliberaler Parteien würde und auch Ja zu Nato sagen müsste, wird natürlich nicht erwähnt. Verschwiegen wird auch, dass in dem einzigen von einem Linken regierten Bundesand Thüringen 2017 die Abschiebungen entgegen den bundesweiten Trend nicht zurück gegangen sind.

Wie passt die Forderung nach offenen Grenzen zur Regierungslinken?

Hier liegt auch der Grund für die seltsame Leerstelle in der Erklärung der Wagenknecht-Kritiker. Wenn sie der Fraktionsvorsitzenden vorwerfen, sie würde mit ihrer Kritik an der Forderung nach offenen Grenzen nicht auf dem Boden des Programms stehen, müsste doch diese Kritik der Regierungslinken noch viel mehr gemacht werden. Weil man aber das informelle Bündnis gegen die Machtambitionen Wagenknechts nicht sprengen will, bleibt man im Ungefähren. Wie man von offenen Grenzen zu Mut zur Einwanderung im Interesse des deutschen Standorts kommt, zeigte eine Taz-Kommentatorin vor wenigen Tagen: „Was noch fehlt, ist das Bewusstsein, dass Einwanderung eine Chance ist – die Bevölkerungspyramide wird zum Pilz, die Sozialsysteme brauchen junges Blut, die Wirtschaft Arbeitskräfte. Diese Chance muss man nutzen.“

Das können auch die Linksliberalen in der Linkspartei unterschreiben, doch im Kampf gegen Wagenknecht und Co. macht es sich besser, sich als Streiter für offene Grenzen zu gerieren. Eine solche Forderung ist für aber für eine Linke, die mitregieren will, ein leeres Versprechen. Etwas Bluttransfusion für die heimische Wirtschaft durch die Migration ist da schon wesentlich realitätsnäher.

Ob diese Kritiker Wagenknechts Position in der Linken gefährden könnten und ob damit die Spaltung in eine linkssozialdemokratisch-keynisanistische Sammlungsbewegung und eine linksliberale Formation, die dann irgendwann mit SPD und Grünen fusioniert, noch befördert wird, dürfte sich in den nächsten Monaten zeigen.

https://www.heise.de/tp/features/Neuer-Streit-um-Sahra-Wagenknecht-4003443.html

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.sahra-wagenknecht.de/
[2] https://broadly.vice.com/de/article/d35z7x/frauen-haetten-allen-grund-zu-rebellieren-sahra-wagenknecht-im-interview
[3] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1083015.sahra-wagenknecht-empoerung-darf-argumente-nicht-ersetzen.html
[4] http://www.tagesspiegel.de/politik/linksfraktion-im-bundestag-aufstand-gegen-sahra-wagenknecht/21103582.html
[5] http://www.neues-deutschland.de/downloads/Erkl_rung_Wagenknecht.pdf
[6] http://www.taz.de/!5489946/
[7] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1082646.buendnis-von-spd-gruenen-und-linke-die-rot-rot-gruene-unfaehigkeit-beenden.html
[8] https://www.thueringen24.de/thueringen/article212935443/Thueringen-2017-Routine-aus-Abschiebung-und-freiwilliger-Ausreise.html
[9] http://www.taz.de/!5489566/

Geht es um Rassismus oder um Regierungsfähigkeit?

vom 16. Februar 2023

Der Streit in der Linkspartei ist nicht monokausal zu erklären

Nun herrscht vorerst wieder Burgfrieden in der Linkspartei. Doch wie lange er hält, ist unklar. Jedenfalls ist dem Taz-Kommentator Pascal Peucker zuzustimmen[1]:

„Geht es um Rassismus oder um Regierungsfähigkeit?“ weiterlesen

Grüne und die Jamaica-Vibes

Am Ende könnte die FDP die Grünen bremsen, wenn die mal wieder der Meinung ist, dass der deutsche Umweltstandard die Formel für die Weltrettung ist

Ob der Grüne Co-Vorsitzende Cem Özdemir [1] noch einen Nebenjob als Werbeträger für Kosmetika hat? Fast scheint es so, wenn man seine Twittermeldung[2] von vor einigen Tagen sieht. Unter dem Foto mit Tube Duschgel, das die Aufschrift „Jamaica Vibes“ trägt, schrieb der Grüne Realo: „Ich hatte keine Wahl. Einziges Duschgel heute Morgen.“

Damit schaffte es Özdemir in die Bildzeitung[3] und damit hatte er wohl einen Hauptzweck schon erreicht. Özdemir hat es wieder in die Medien geschafft und sich damit unmittelbar vor dem Parteitag der Grünen noch mal politisch positioniert. Dass Özdemir genau so wie seine Partnerin im Grünen-Vorsitz Katrin Göring Eckardt eine Koalition mit der Union präferieren, ist schon länger bekannt. Dass sie damit parteiintern keineswegs isoliert sind, ist auch kein Geheimnis.

Doch, dass auch die von vielen Grünen politisch schon abgeschriebene FDP nun womöglich mit ins Regierungsboot soll, ist vielen Grünen schon schwerer zu vermitteln. Das hat aber weniger politische Gründe, im neoliberalen Staatsumbau können Grüne und FDP schließlich gut konkurrieren. Das Programm der Jamaica-Koalition in Schleswig-Holstein ist sogar für die grünennahe Taz eine sozialpolitische Bankrotterklärung[4].

Es sind eher geschmäcklerisch-kulturalistische Differenzen, die vielen Grünen ein Bündnis mit der FDP nicht leicht machen. Das gilt übrigens auch umgekehrt. Schließlich hat sich die wiedererstarke FDP die Grünen zum Lieblingsgegner aufgebaut. Es handelt sich dabei um einen Streit im liberalen Spektrum. Historisch gab es da schon lange Differenzen zwischen National- und Sozialliberalen. In der Weimarer Republik waren sie auch auf zwei Parteien aufgeteilt.

Der FDP war es zeitweise gelungen, die differenzierte liberale Szene in einer Partei zu vereinen. Das wird FDP und Grünen so schnell nicht gelingen, weil eben die kulturellen Milieus doch zu verschieden sind. Das heißt nicht, dass sie bald auch bundesweit zusammen Politik machen können.

„Ehe für Alle“ kein Hindernis für eine Jamaika-Koalition

Der Bundesparteitag der Grünen hat hier zumindest eher die Signale für eine solche Koalition gesetzt. So wurde die „Ehe für Alle“[5] zur Voraussetzung jeder Koalition mit den Grünen beschlossen. Das wird schon als möglicher Stolperstein für ein Bündnis mit der Union interpretiert. Doch längst gibt es im modernistischen Flügel der Union Stimmen, die eine Ehe für Alle im Interesse einer Koalition mit den Grünen hinzunehmen bereit sind.

Hier könnte die FDP dann ins Spiel kommen, die mit der Ehe für Alle anders als mit sozialpolitischen Forderungen keine Probleme hat. So könnten auch bei einem Großteil des grünen Spektrums die Aversionen gegen die FDP an Bedeutung verlieren Wie man seinem Umfeld ein Bündnis mit dieser Partei schmackhaft machen kann, zeigt ein Kommentar, den der Chefredakteur des Greenpeace-Magazins[6] Kurt Stukenberg vor ca. einen Monat in der taz veröffentlichte.[7]

„Die Grünen sollten mutig auf ein Jamaika-Bündnis setzen. Rechnerisch und inhaltlich wäre das die beste Wahl“, meint die publizistische Stimme einer Organisation, deren Ziel schon immer darin bestand, den Kapitalismus effektiver zu machen und mögliche Schwachstellen zu enttarnen. Stukenbergs Argumentation für ein Bündnis mit der Union und der FDP wird im Umfeld der Grünen ähnlich wiederholt.

Der Glaube an die Machtperspektive Rot-Grün dürfte selbst den unerschütterlichsten Jüngern vergangen sein, eine solche Mehrheit ist schlicht unerreichbar. Und weil Sahra Wagenknecht nicht ablässt, vom verbotenen, süßen Apfel des Populismus zu kosten, und die Linke es versäumt hat, sich realpolitisch zu erneuern, gilt auch Rot-Rot-Grün als praktisch ausgeschlossen. Ein Bündnis mit der Union hat hingegen unter vielen Funktionären und Anhängern der Grünen seinen Schrecken verloren. Auch aufgrund der Erfahrungen in Hessen und Baden-Württemberg.
Kurt Stukenberg

Im nächsten Schritt muss man jetzt auch der Kooperation mit der FDP Vorteile abgewinnen und das fällt Stukenberg nicht schwer.

Da Dreierbündnisse wahrscheinlicher werden, könnte nach der Bundestagswahl auch die FDP auf der schwarz-grünen Regierungsbank Platz nehmen. Wer dabei kulturelle Unterschiede geltend macht, sollte auch hier kühl rechnen und auf die Kernthemen schauen. Denn mit der FDP hätten die Grünen einen Verbündeten, um ihr zentrales Anliegen einer offenen Gesellschaft und solider Bürgerrechte gegenüber der CDU durchzusetzen. Die Liberalen bieten sich als Partner bei der Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung und der Eindämmung von Onlinedurchsuchungen ebenso an wie bei der Durchsetzung der Ehe für alle.
Kurt Stukenberg

So war es eher eine Bestätigung und nicht eine Absage an eine Jamaika-Koalition, das die Grünen nun die Ehe für Alle zur Bedingung für eine Regierungsbeteiligung machten. Es wird in der Union, vor allem in der CSU, dagegen einigen Widerstand geben.

Doch, wenn es zur Abstimmung kommt, dürfte daran eine Koalition nicht scheitern. Zumal die Grünen mit ihren Forderungskatalog, der an einigen Punkten von den schon vor einigen Wochen beschlossenen 10 Punkte-Programm[8] abweicht, die Interessen des modernen deutschen Kapitalismus mustergütig ausformulieren. Ob es um den Ausstieg aus der Kohle oder den Diesel oder die Abwrackung der Tierfabriken geht, immer werden die Interesse des Standort Deutschland mit besonders viel Moralsülze überzogen.

Modell Deutschland gegen Russland und die USA

Natürlich drückt sich das auch in dem besonders innigen Bekenntnis der Grünen für die EU aus, solange diese im Interesse Deutschlands funktioniert, was auf absehbare Zeit der Fall sein wird. EU-Bestrebungen, die nicht in Deutschlands Interesse liegen, werden aus dem Grünen Umfeld besonders gerne als Populismus diffamiert. Hier wird auch eine neue grüne Totalitarismustheorie konstruiert, nach der rechte und linke Gegner einer von Deutschland dominierten EU unter das Populismusverdikt fallen.

Am Beispiel Frankreich wurde der rechte Front National und die linkssozialdemokratische Bewegung für ein unbeugsames Frankreich gleichermaßen aus dem grünen Umfeld bekämpft. Während die Grünen bei ihrer Pro-EU-Haltung immer ihre Abgrenzung zum deutschen Nationalismus betonen, wird nicht erwähnt, dass der sich in einen spezifisch deutschen EU-Nationalismus transformiert hat.

Dass mit Helmut Kohl, ein Politiker, der tief im deutschen Nationalismus verwurzelt war und in Bitburg auch die SS wieder rehabilitierte, auch bei den Grünen zum großen Europäer[9] verklärt wird, der mit großen Brimborium mit einem EU-Staatsakt beerdigt werden soll, zeigt einmal mehr, wie stark die EU ein deutsches Projekt ist.

Niemand kann es so wie die Grünen gegen Russland und die USA in Front bringen. Das ist durchaus nicht nur symbolisch gemeint. Die Grünen machen sich heute schon Gedanken, wie sie ihr EU-Projekt gegen Russland auch militärisch verteidigen wollen. Gegen die Trump-USA wurde auf den Parteitag zunächst mit SMS und Email geschossen, aber auch das kann sich noch ändern.

Die Grenzen der Offenen Gesellschaft

Wer Beispiele für die Doppelmoral der Grünen haben wollte, konnte die auf und um den Parteitag immer wieder finden. Während sich fast alle, die bei den Grünen einen Namen haben über die linke Sozialdemokratin Sahra Wagenknecht und ihre Rhetorik gegen Migranten echauffieren und sie sogar als Hindernis für ein Bündnis mit den linken Reformisten benennen, darf der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer weiter den grünen Sarrazin[10] geben.

Nachdem ihn die Kreuzberger Kandidatin für den Bundestag Cenan Bayram[11], eine der wenigen Linksgrünen, riet, doch endlich mal die Fresse zu halten, gab Palmer den Beleidigten und erntete viel Applaus[12]. Hätte Bayram diese Aufforderung an Wagenknecht gerichtet, wäre ihr der Applaus sicher gewesen.

Doch wenn man Parteikollegen wie Palmer, der es nicht als beleidigend findet, wenn er als Rechtsausleger oder Quartalsirrer bezeichnet wird, ebenso hart angeht, dann wird er als Opfer von Diffamierung uns Ausgrenzung gehätschelt. Die Doppelmoral des grünen Spektrums musste jetzt auch die grünennahe Taz feststellen.

Die hat nach dem Tod von Kohl mit einen frechen Titelbild unter dem Stichwort „Blühende Landschaften“[13] mal wieder einen Coup gelandet, für den man ihr sogar zehn Beiträge des ökoliberalen Chefkolumnisten Peter Unfried verzeiht.

Doch dass sich die Chefredaktion der Taz schon am nächsten Erscheinungstag der Zeitung für ihr Markenzeichen „frech und witzig“ mit einer so moralinsauren Erklärung entschuldigt, die sich liest, als wäre sie direkt Claudia Roth verfasst[14] lässt befürchten, dass die Zeitung auch noch ihr letztes Alleinstellungsmerkmal aufgibt und nur noch die Titanic sich dazu bekennt, nicht pietätsvoll zu sein.

Den Leserbriefen der grünennahen Klientel nach zu urteilen, ist die so viel strapazierte Offene Gesellschaft im grünennahen Bereich sehr eng. Da wird angeführt, dass man einen Mann, der „Deutschland die Wiedervereinigung schenkte“, nicht so beleidigen könne. Dabei waren in dem Beitrag zu Kohls Tod keinerlei Verbalinjurien erhalten, die bleiben Erdogan, Putin und Trump vorbehalten.

So bleibt sich das von den Grünen repräsentierte neue Deutschland doch sehr treu und das ist keinesfalls beruhigend. Man sieht sich als Ökoweltmeister umringt von lauter Umweltsündern. Dass Deutschland der Prototyp für den PKW-Export ist, bleibt ausgespart. Man ist so lange offen, wie es gegen Trump, Putin und Erdogan geht.

Witze gegen die eigenen Heroen hingegen sind noch immer Majestätsbeleidigung wie einst in Preußen. Da könnte man ja noch hoffen, dass die FDP in einer Jamaica-Koalition die Grünen bremsen, wenn es wieder mal darum geht, dass mit dem deutschen Flaschenpfand die Welt gerettet werden soll.

https://www.heise.de/tp/features/Gruene-und-die-Jamaica-Vibes-3747188.html
Peter Nowak
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http://www.heise.de/-3747188

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.oezdemir.de
[2] https://twitter.com/cem_oezdemir/status/875250956161753088
[3] http://www.bild.de/politik/inland/cem-oezdemir/cem-oezdemir-scherzt-auf-twitter-ueber-jamaika-koalition-52211230.bild.html
[4] http://www.taz.de/!5418380/
[5] http://www.ehefueralle.de/
[6] https://www.greenpeace-magazin.de
[7] http://www.taz.de/!5408165/
[8] https://www.gruene.de/ueber-uns/2017/10-punkte-fuer-gruenes-regieren.html
[9] http://www.zeit.de/news/2017-06/16/deutschland-oezdemir-wuerdigt-kohl-als-grossen-europaeer-16180010
[10] http://www.focus.de/politik/videos/boris-palmer-gruenen-ob-fotografiert-fluechtlinge-beim-schwarzfahren-und-kontert-shitstorm_id_7125404.html
[11] http://bayram-gruene.de/
[12] http://www.focus.de/politik/deutschland/parteitag-in-nach-fresse-halten-attacke-tuebingens-ob-boris-palmer-knoepft-sich-gruene-vor_id_7254676.html
[13] https://www.facebook.com/taz.kommune/photos/pb.171844246207985.-2207520000.1497707801./1461765807215816/?type=3&theater
[14] http://www.taz.de/!5421768

Auf der Suche nach dem deutschen Corbyn

Die Linke sieht eine Chance auf einen Wahlerfolg. SPD und Grünen möchten, dass sie aufgibt, was sie von ihnen unterscheidet

Die Reformlinke in Deutschland hat periodisch neue Idole. Sie sind immer aus dem Ausland und ihre Verfallszeit ist kurz. Alexis Tsipras war solange ein Vorbild, mit dem die Linke Hoffnung verbreiten wollte, bis er sich dem wesentlich von „Deutsch-Europa“ erzwungenen Austeritätsdiktat unterwerfen musste. Hier wird ein Paradox der Reformlinken deutlich.

Weil in einem Land, das als EU-Hegemon auftritt, die Linke aus historischen und aktuellen Gründen besonders schwer Fuß fassen kann, macht man sich Hoffnung und zieht Inspiration von anderen Ländern. Aber der Linken in Deutschland gelingt es dann nicht einmal, die deutsche Politik daran zu hindern, dass sie diese Reformhoffnungen regelmäßig austritt, wie sich am Beispiel Griechenland zeigt. Zwischenzeitlich waren spanische Podemos-Politiker zum linken Hoffnungsträger avanciert und seit einigen Tagen nimmt Jeremy Corbyn diese Rolle ein.

Der britische Sozialdemokrat hat schließlich eine beachtliche Aufholjagd bei der Wahl absolviert, die weder seine Freunde noch seine Gegner für möglich gehalten haben. Nun wird auch in der SPD gerne auf Corbyn verwiesen, um ihre Anhänger in dem Glauben zu halten, dass auch in Deutschland die Wahlen noch nicht gelaufen sind.

Nur werden die Sozialdemokraten mit dem britischen Politiker nicht so recht glücklich. Schließlich sind seine Positionen eher mit dem unter Schröder erfolgreich marginalisierten Lafontaine-Flügel vergleichbar. Das hat auch dessen neue politische Heimat erkannt.

Die Linke sieht daher gerade im Wahlerfolg von Corbyn einen Beweis dafür, dass man eben nicht das Lied Wirtschaftsliberalismus singen muss, um gewählt zu werden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Sahra Wagenknecht, die am konsequentesten die Lafontaine-Linie in der Partei vertritt, sich nun positiv auf Corbyn bezieht[1].

Sie hatte die große Mehrheit auf dem Hannoveraner Parteitag auf ihrer Seite als sie bei ihrer Abschlussrede in den Saal rief, ihre Partei würde einen Corbyn sofort mit zum Kanzler wählen, aber sie habe keine Möglichkeit, aus einem Martin Schulz einen Jeremy Corbyn zu formen. Das ist nun keineswegs eine Absage an ein Bündnis mit der SPD und den Grünen, wenn es rechnerisch nach den nächsten Wahlen möglich ist.

Es ist eher eine Aufforderung an die SPD, sie solle, wie kurz nach der Nominierung von Schulz wieder mehr nach links blinken und selber auch ein Bündnis mit der Linken nicht ausschließen. Diese kurze Episode war nach der Saarland-Wahl beendet. Danach hat sich Schulz immer als rechter Sozialdemokrat präsentiert, mit dem es weder in der Innen- noch in der Sozial- oder Außenpolitik Experimente gibt.

Nun hat sich die Linke auf dem Parteitag für eine Gerechtigkeitswende eingesetzt (vgl. Linke: Hartz-IV abschaffen, Mindestsicherung von 1.050 Euro einführen[2]), wozu ein Ende der als Agenda 2010 bekannten Austeritätspolitik ebenso gehört wie eine armutssichere Altersrente und ein Mindestlohn von 12 Euro.

Wenn Sahra Wagenknecht polemisch vom Ende der „Betrugsrenten“ spricht, die nur die Versicherungen reich machen, wird der Graben zur SPD deutlich. Schließlich ist der Namensgeber dieser Riesterrenten ein immer noch angesehener Sozialdemokrat. Außenpolitisch positionierte sich die Linke gegen Kriegseinsätze und forderte den Abzug der Bundeswehr aus den Krisenherden dieser Welt[3].

Das aber steht dem Interesse des deutschen Imperialismus fundamental entgegen, die schließlich die späte symbolische Entnazifizierung der Bundeswehr genau deshalb veranstalten, um überall in der Welt scheinbar ohne historische Altlasten auftreten zu können. Wenn die Linke also wirklich irgendwie an einer Regierungskoalition beteiligt ist, müsste sie sich bedingungslos hinter Bundeswehr, Nato und EU stellen.


Wagenknecht als Hindernis für eine Selbstaufgabe der Linken in der Außen- und Sozialpolitik

Deshalb hatte der Taz-Kommentator Stefan Reinicke im Vorfeld des Linkspartei-Tags noch einmal den Fokus auf Wagenknecht gerichtet, die zumindest verbal deutlich macht, dass die Linke nicht über jedes Stöckchen springt, das ihr die SPD hinhält.

„Die Linkspartei bleibt derzeit unter ihren Möglichkeiten. Eigentlich gäbe es angesichts der in die Mitte strebenden Grünen und der unsicher wirkenden Sozialdemokraten Raum für eine entschlossene egalitäre, undogmatische Kraft. Doch die 8-Prozent-Partei kultiviert einen kuriosen moralischen Alleinvertretungsanspruch für das Volk und ist in Empörungsroutinen erstarrt. Solange sie den Eindruck vermittelt, dass ihr Rechthaberei wichtiger ist als politische Erfolge, ist sie unattraktiv für alle, die sich nach entschlossener linksliberaler, egalitärer Realpolitik sehnen“, schreibt[4] Reinicke.

Dabei lässt er keinen Zweifel, gegen wen sich seine Intervention richtet:

Wagenknechts überlebensgroße Rolle ist nur eine Seite der inneren Selbstblockade des politikfähigen Teils der Partei. Die kreative Fraktion der Reformer um Jan Korte und Stefan Liebich ist seit Jahren mit Katja Kipping und deren schmalem Anhang über Kreuz. Politisch ticken Reformer und Kipping in vielem ähnlich. Doch es gibt viele nie vernarbte Wunden aus vergangenen Machtscharmützeln. So ist das kreative Zentrum der Partei gelähmt. Es müsste Kipping, die Antennen ins grüne Milieu hat, ebenso umfassen wie pragmatische Westlinke, die sich von der Hassliebe zur SPD befreit haben, und jenen Teil der Ostreformer, die mehr wollen als bloß Apparate verwalten. Ein solches Bündnis könnte den Beton aufsprengen – und politikunfähige Fundis vertreiben.
Stefan Reinicke[5]

Hier wird formuliert, was sich die Reformer von Linken, SPD und Grünen wünschen: eine Linkspartei, die noch auch noch das letzte Stück überwindet, dass sie von den anderen beiden Parteien unterscheidet und die sich dadurch mittelfristig überflüssig macht.

Differenzen zwischen Wagenknecht und Bartsch?

Wenn Reinicke nun fordert, dass das Zweckbündnis zwischen Wagenknecht und Dietmar Bartsch beendet werden soll, wird die Axt an die Existenz der Linken gelegt. Denn dieses Bündnis hat dazu geführt, dass sich die Partei einigermaßen stabilisieren konnte. Nun gab und gibt Wagenknecht genügend Grund für Kritik, vor allem mit ihren immer wiederholten Äußerungen gegen Migration. Als Lafontainistin ist sie die Vertreterin eines keynsianistischen Kurses, die in der Außenpolitik noch gewisse linke Grundsätze hochhält, in der Flüchtlingspolitik aber eher rechts blinkt und damit kompatibel mit SPD und Union ist. Wenn Wagenknecht aber deswegen Nähe zur AfD unterstellt wird, wird unterschlagen, dass sie mit ihrer Migrationspolitik sich im bürgerlichen Mainstream bewegt und genau deshalb kritisiert werden muss.

Wenn Grüne, die selber ständig migrationsfeindliche Gesetze durchwinken, nun Wagenknecht wegen ihrer Äußerungen kritisieren, ist das Kalkül klar. Sie wollen wie Reinicke in Wagenknecht den Parteiflügel schwächen, der zumindest verbal noch Dissens zur herrschenden Außen- und Sozialpolitik äußert.

Die Hoffnung, dass das Zweckbündnis Wagenknecht – Bartsch aufgeweicht werden könnte, ergibt sich aus unterschiedlichen Äußerungen im Umgang mit dem SPD-Kandidaten Schulz. Während Bartsch schon erklärte, er könnte sich vorstellen, ihn mitzuwählen, wenn die Mehrheiten es hergäben, erklärt Wagenknecht, er müsste dann schon mehr nach links blinken. Doch bei aller Rhetorik sind sich sämtliche Flügel der Linken einig, dass es nur um einen reformistischen Weg geben kann.

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