Rezension auf kritisch lesen.de: Bewährungsprobe für linke Solidarität

Corona und linke Kritik(un)fähigkeitBuchuntertitelKritisch-solidarische Perspektiven „von unten“ gegen die Alternativlosigkeit „von oben“Der Sammelband appelliert an das vielfältig gespaltene linke Milieu, die Pandemie für einen konstruktiven Dialog zu nutzen, anstatt in einer Freund-Feind-Stellung zu verharren.

Bereits der Buchtitel provoziert: Er bezweifelt die Kompetenz der politischen Linken, die gesellschaftlichen Verhältnisse herrschaftskritisch zu analysieren. Teile von ihr, so die These der Herausgeber*innen, zeigten sich von der Corona-Krise schlicht überfordert und seien „staatstreu“ geworden. So stellt Gerhard Hanloser fest, die von vielen Linken auf antifaschistischen Gegenaufzügen zu den Corona-Demos herausposaunte Parole „Wir impfen euch alle!“ lasse auf eine administrativ-autoritäre Position schließen. Für Elisabeth Voß spiegelt diese verbale Attacke eine dominant vorgetragene Haltung wieder, die anderen Menschen abspricht, als mögliche Gesprächs- oder Bündnispartner*innen zu gelten. Anstatt feindliche Angriffe gegen „die Anderen“ zu starten, sollte Stellung gegen „die Mächtigen in Wirtschaft und Politik“ (S. 40) bezogen werden. 

Auch andere Autor*innen des Bandes halten die überhebliche Position radikaler Linke gegenüber den neuen Protestphänomenen für verfehlt, denn sie stütze letztlich die herrschende Gesellschaftsordnung unter dem Vorwand der Krisenbewältigung. Die sozialen Interessen und Motive der sogenannten Corona-Rebellen würden ebenso ausgeblendet wie die Beobachtung, dass sich sehr unterschiedliche Milieus bei den Corona-Demos zusammenfänden.

Gegen eine Politik der Angst

Autor Andreas Benkert, bekennender Lockdown-Gegner, setzt der kritisierten Parole ein klares Statement entgegen: „Keine Angst!“ (S. 31) Linke sollten die Produktion von Angst immer bekämpfen, da diese nur den herrschenden Interessen dienen würde. Die aus Angst resultierende Konformität nutze der Aufrechterhaltung der herrschenden Gesellschaftsordnung. Damit spricht er ein Motiv an, das auch andere Beiträge des Bandes durchzieht. Nämlich, dass sowohl das Virus wie die staatlichen Verfügungen (Lockdown, Abstandhalten) Ängste und eine tiefgreifende Vereinzelung erzeugen, die sich politisch instrumentalisieren lassen: Ängste vor der Gefährdung der eigenen Gesundheit, vor dem Verlust des sozialen Status oder auch nur davor, nicht weiterhin das Leben eines „freien“ Konsumbürgers führen zu können. „Angst und Angstproduktion ist ein entscheidendes Thema in der Pandemie“ (S. 33), bringt es Benkert auf den Punkt. Er setzt dem ein solidarisches Miteinander entgegen, das „nur im Beieinandersein Bestand haben kann“. (ebd.) Damit wendet er sich gegen staatliche Aufforderungen zu einer Solidarität, die sich auf Maskentragen, Videokonferenzen oder „Stay-at-home“ Aufrufen beschränkt und die Menschen auf Distanz zueinander hält. 

Neben der Beschreibung des prekären Zustandes der Linken, der daran ablesbar ist, dass die Pandemie linke Akteur*innen gegeneinander in Stellung bringen konnte, bildet die unterschiedliche Betroffenheit verschiedener Bevölkerungsgruppen einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt des Buches. Anne Seeck bemängelt, Linke hätten sich vielerorts von Marginalisierten, Proletarisierten und Ausgebeuteten abgekoppelt und offenbar die Normen der Mittelschicht übernommen. Damit spielt sie darauf an, dass viele Linke offenbar ihren akademischen Status und die Beherrschung von „Szenecodes“ (S. 11) – kurz: ihr kulturelles Kapital – herausstellen, ein Interesse an den alltagspraktischen Problemen der Menschen aber vermissen lassen. 

Deshalb kommen in dem Sammelband – und das unterscheidet ihn wohltuend von anderen Publikationen zum Thema Corona – verschiedene der besonders von der Pandemie und den staatlichen Maßnahmen gebeutelten gesellschaftlichen Gruppen selbst zu Wort: Menschen aus dem Pflegebereich, Psychiatriebetroffene, Obdachlose und Häftlinge. Der Bundesverband Psychiatrie-Betroffener kritisiert zum Beispiel, dass die eingeführten Abstandsregeln die Arbeit von Selbsthilfegruppen wegbrechen ließ und die Stigmatisierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen neue Ausmaße angenommen hätte. Denn das Vertreten von rechten Verschwörungstheorien werde oftmals mit einer psychiatrischen Diagnose gleichgesetzt. Ein interessanter Hinweis, der so wohl kaum von Nicht-Betroffenen zu erwarten ist. Außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung bleiben ebenfalls die etwa 60.000 dauerhaft in Justizvollzugsanstalten inhaftierten Menschen, die zu Beginn der Pandemie mit einem totalen Besuchsverbot und dem Wegfall des Freizeitangebots konfrontiert waren. Autor Thomas Meyer Falk, selbst in Bruchsal inhaftiert, bezeichnet die coronabedingten Maßnahmen aus Gefangenensicht deshalb als „existenziell einschneidend“ (S. 106).

Wirtschaftsdemokratie und Klassenkampf

Dass die kapitalistische Organisation der Produktion insgesamt und speziell des Gesundheitswesens sich für die Bewältigung der Krise als wenig geeignet erwiesen hat, ist unter den Autor*innen des Buches unstrittig. Die notwendige Demokratisierung der wirtschaftlichen Prozesse, unter anderem die Vergesellschaftung nicht nur von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, erfordert daher soziale Kämpfe und eine breit gestreute Gegenwehr. Welche vielseitigen Anknüpfungspunkte es dafür gibt – davon zeugen die vier Beiträge im Schlusskapitel. Um die sozialen Kämpfe auch unter Corona-Bedingungen führen zu können, muss die Pandemie als gesellschaftliches Problem wahrgenommen werden, denn sie führt vielfach zu individuellen Überforderungen. Deshalb kristallisiert sich die notwendige Selbstorganisation der Betroffenen (nicht nur im Gesundheitssektor) als ein wesentlicher Fixpunkt von sozialen Kämpfen heraus: sowohl der abhängig Beschäftigten als auch beispielsweise der von Verdrängung bedrohten Mieter*innen in immer mehr Regionen des Landes. Die Mahnung des Autors Detlef Hartmanns, dass die Linke zudem neue Formen der Gemeinschaftlichkeit gegen den steigenden Individualisierungsdruck finden müsse, darf sicherlich auch als Aufruf an das linke Milieu verstanden werden, Spaltungen und enge Diskursgrenzen in Coronazeiten zu überwinden – ganz im Sinne der Herausgeber*innen des Sammelbandes. 

Das breit gefächerte Spektrum der Autor*innen eint zwar eine ausgeprägte Haltung gegen die Tendenz zu einem autoritären Staat, ihre Ansichten über angemessene Vorgehensweisen gegen die Bedrohungen durch Virus und Politik im Ausnahmezustand unterscheiden sich zum Teil jedoch erheblich. Christian Zeller favorisiert zum Beispiel die Idee einer europaweiten „ZeroCovid“-Strategie (S. 56ff.), für Alex Demirović ist ein „radikaler Shutdown“ (S. 255) gerade keine Option.

Die Vielfalt der Beiträge bietet gerade deshalb die beste Voraussetzung dafür, denjenigen Leser*innen auf die Sprünge zu helfen, die ihren politischen Standpunkt im Kontext der komplexen Pandemie überprüfen wollen und bereit sind, eigene Vorurteile – auch gegenüber Coronaskeptiker*innen – auf den Prüfstand zu stellen.

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