Buchrezension von Elisabeth Voss auf ihren Freitag-Blog

Kritik an Corona-Maßnahmen von links

Die gesellschaftliche Linke scheint die vielen Ungereimtheiten rund um Corona hinzunehmen und überlässt die Proteste den Rechten. Aber es gibt Ausnahmen.

Mitte Mai erschien der Sammelband „Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik“ der drei Autoren Gerald Grüneklee (Sozialpädogoge und Publizist), Clemens Heni (Antisemitismusforscher) und Peter Nowak (Journalist). Was seit Beginn der Pandemie geschieht, halten sie für „Panikmache in nie dagewesenem Ausmaß seit 1945 für die größte Katastrophe, die uns in diesem Land je widerfahren ist, schlimmer noch als der deutsche Herbst 1977“. Der gesellschaftlichen Linken kreiden sie an, dabei mitzumachen, was der extremen Rechten einen Zulauf bereite. Zum Buch motivierte sie ein „Impuls der Empörung und der Wut über das, was sich in den letzten Wochen abspielte“. Dabei sei der Verstand „auf der Strecke geblieben“.

In einem Geleitwort positioniert sich die Schriftstellerin Rebecca Niazi-Shahabi ganz klar gegen den „Gesundheitswahn“ und seine autoritären, ja totalitären Folgen und ruft dazu auf, dabei mitzuhelfen, „die ‚neue Normalität‘ wieder rückgängig zu machen“.

Wer soll hier eigentlich geschützt werden?

Gerald Grüneklee fragt, wer eigentlich mit all den Maßnahmen geschützt werden soll und geht auf die vielen Bevölkerungsgruppen ein, denen im Gegenteil Schaden zugefügt wird, wie Frauen und Kindern, Geflüchteten und armen Menschen. Er weist auf den Film „Die Hamburger Krankheit“ von Peter Fleischmann aus dem Jahr 1979 hin (2019 neu geschnitten), in dem es um rätselhaftes Sterben, Quarantäne und Gegenwehr geht. Grüneklee kritisiert blinden Gehorsam und „Staatsverehrung“, sieht eine „Lust zum Gehorchen“ und eine „neue Volksgemeinschaft“ bis weit „in die linke Szene hinein“, die Ausgangssperren und Maskenpflicht fordert. Die Polizei erfahre einen „enormen Akzeptanzgewinn“. Der Autor fragt, ob „wir noch auf dem Weg in die Gesundheitsdiktatur“ seien, oder ob diese schon begonnen habe.

Angesichts von Privatisierungen des Gesundheitswesens, Klimawandel und Abbau von Arbeitsrechten sieht Grüneklee gute Chancen, dass der Kapitalismus „abgewrackt“ werden könne, „wenn es noch eine Bewegung gäbe, die derlei Anliegen endlich einmal angeht.“ Eher befürchtet er jedoch zunehmenden Nationalismus sowie Vereinzelung und Kontrolle durch Digitalisierung, denn die Linke habe „die Entwicklung verschlafen“ und nähe Masken statt Kritik zu üben. „Die wahre Seuche heisst Kapitalismus“, darum seien gerade jetzt Utopien wichtig, und dass sich diejenigen „eine andere Zukunft“ erkämpfen, die „Gründe genug hätten, sich gegen die Zumutungen von Staat und Kapital kollektiv zur Wehr zu setzen“.

Befolgung der Maskenpflicht als „Selbstfaschisierung“

Mit teils drastischen Formulierungen kritisiert Clemens Heni das aktuelle Geschehen. Kita- und Schulschließungen seien „empirisch Schwachsinn und Panikmache“, noch nie seien „Überwachen und Strafen, Gesundheit und Wahn so eng beieinander“ gewesen wie heute. Dabei gehe es „nicht primär um die Rettung des Kapitalismus“, sondern „um den Staat“. Bei vielen Menschen gäbe es ein „Bedürfnis nach dem starken Führer“, und ohne eine gesellschaftliche Diskussion, um den Ausnahmezustand zurückzuweisen, würde „die Demokratie in ihren Grundfesten zerstört“. Heni kritisiert „die Diskrepanz zwischen dem Nicht-Handeln bezüglich der Klimakatastrophe und dem völlig irrationalen, panischen Soforthandeln bei diesem Virus“, das nicht gefähricher sei „als die schleichende Zerstörung der Natur“.

Heni beklagt, dass kritische Meinungen von Virolog*innen und Ärzt*innen von extremen Rechten und Querfront-Medien okkupiert würden. Er fürchtet, dass dieses Land nie wieder eine Demokratie sein würde, denn jederzeit könnten innerhalb weniger Stunden „alle unsere Grundrechte (Bewegungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Religionsfreiheit, Recht auf Bildung und Forschung etc. pp.) entzogen werden“. Die Maskenpflicht und deren Befolgung ist für ihn Ausdruck einer „Selbstfaschisierung“. Der Mundschutz sei „eine Art Selbstverleugnung all dessen, woran wir glauben: Vernunft, selbst denken, Rationalität, Verhältnismäßigkeit und Freiheit. Menschen wollen als Menschen leben und nicht als uniformierte Mundschutzträger*innen.“ Sowohl Medien als auch Politik würden die Bevölkerung aufhetzen und zur Denunziation anstiften. Heni wütet: „Die faschistoiden Politiker*innen wollen exakt das hervorkitzeln und alle machen mit. Volksgemeinschaft 3.0.“

Eine „Politik der Angst und des Schreckens“

Deutlich differenzierter, jedoch sich trotzdem klar positionierend, argumentiert Peter Nowak. Er kritisiert, dass die Gewerkschaft verdi wegen Corona ausgerechnet einen Warnstreik der ausgelagerten Beschäftigten an der Berliner Charité, und gleich alle weiteren Arbeitskämpfe absagte. Er konstatiert einen völligen „Bruch mit der aktuellen Doktrin des mündigen, selbstverantwortlichen Bürgers“, wenn die Einzelnen nicht mehr selbst entscheiden dürfen, ob und wie sie sich schützen möchten. Das Argument, dass die Schwächsten der Gesellschaft geschützt werden sollten, lässt er nicht gelten, denn es gäbe viele Krankheiten, „die vor allem die Ärmeren und Schwächeren treffen“. Er fragt, warum ausgerechnet bei Corona ein Notstand ausgerufen wird. Dieser diene der „Entglobalisierung der Weltwirtschaft“ und der „Einschränkung der Rechte von Millionen Menschen“, die isoliert und „nur noch über Streamingdienste mit der Aussenwelt verbunden sein sollen.“ Widerstand bliebe angesichts dieser Biopolitik und einer „Politik der Angst und des Schreckens“ aus, und die Panik nütze „nur den Rechten in aller Welt“.

Kritisch sieht Nowak auch die öfter geäußerten Hoffnungen, dass mit Corona „der Neoliberalismus nun endlich am Ende ist“ und erinnert daran, dass das Kapital in der Krise schon immer nach dem Staat gerufen habe, „um danach weiterzumachen wie bisher.“ Als „Umwelt-Leninismus“ bezeichnet er Vorschläge, „den Corona-Notstand als Blaupause“ für eine ökologische Umgestaltung nehmen zu wollen und ausgerechnet den Staat als Mittel zur Gesellschaftsveränderung zu sehen. Bei den Grundrechte-Demonstrationen vermisst er soziale Forderungen und betont, „dass autoritäre Staatlichkeit keine Verschwörung, sondern eine Konsequenz kapitalistischer Politik ist.“ Den Veranstalter*innen rät er, „die weiteren Aktionen abzusagen“ wenn es nicht möglich sei, „die Rechten rauszuhalten“.

Illusionäre Gemeinschaftlichkeit“

Der Soziologe Helmut Dahmer bringt es im Interview mit Peter Nowak für die Jungle World auf den Punkt: „Galt bis gestern noch, jedermann solle sich als Ich-AG im Überlebenskampf behaupten, wird plötzlich wieder zu Solidarität aufgerufen. Eine illusionäre Gemeinschaftlichkeit wird beschworen, besungen und beklatscht, um darüber hinwegzutäuschen, dass die Position in der Einkommenspyramide über Leben und Tod entscheidet. Wieder einmal heißt es, alle säßen in einem Boot, nur ist es für die einen das Schlauchboot, für die andern die Hochseejacht, und Rettungswesten sind knapp.“

Es ist schade, dass es – mit Ausnahme des Geleitworts – ein Buch ausschließlich von Männern ist. Der schnellen Herstellung ist es geschuldet, dass es eher ein Flickenteppich als ein durchkomponiertes Werk ist, was einige Wiederholungen mit sich bringt. Mir hat einerseits ein wenig Mitgefühl mit den echten Corona-Opfern gefehlt, also mit denjenigen, die an dieser Virusinfektion schwer erkrankt und gestorben sind. Andererseits sind die hier zusammengestellten kritischen Perspektiven von links in den Corona-Diskussionen recht selten, schon dafür haben die Autoren größte Anerkennung verdient.

Ein Diskussionsangebot

Clemens Heni hat Blogbeiträge aus März und April beigesteuert, deren grobe Sprache zunächst abschreckend wirkt, jedoch aufrüttelnde Positionen markiert, die für eine kritische Auseinandersetzung produktiv sein können. Die Texte von Peter Nowak wurden als Artikel von März bis Anfang Mai bereits veröffentlich. Nur die Beiträge von Gerald Grüneklee sind wohl für dieses Buch verfasst worden. Manches davon ist heute bereits überholt, so haben sich beispielsweise einige Maßnahmen geändert, und es gibt viel mehr wissenschaftliche Erkenntnisse – was jedoch nicht unbedingt mit einer Zunahme an zuverlässigem Wissen einhergeht.

Viele Aspekte der Maßnahmekritik und auch viele politische Reflektionen der Autoren sind nach wie vor wichtig und auch heute noch diskutierenswert, und sollten grade von denjenigen ernst genommen werden, die eine ganz andere Auffassung vertreten. In respektvollen kontroversen Auseinandersetzung könnte einiges vertieft und sicher von allen Seiten dazugelernt werden. Denn es sind Denkanstöße von kritischen Geistern, die heute gerade in den Corona-Debatten viel zu selten zu hören sind. Wer sich auch in diesen merkwürdigen Zeiten die Idee bewahrt hat, dass Demokratie nicht bedeutet, die endgültige Wahrheit herauszufinden oder einfach nur auf der (vermeintlich) richtigen Seite zu stehen, sondern dass Demokratie ein Prozess des Fragens und der laufenden Abwägung unterschiedlicher Fakten und Meinungen ist, wird dieses Buch wohl mit Genuss lesen.

Gerald Grüneklee, Clemens Heni, Peter Nowak: Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik. Mit einem Geleitwort von Rebecca Niazi-Shahabi. Edition Critic, Berlin 2020, 190 Seiten, 14,00 €, ISBN 978-3-946193-33-3.

https://www.freitag.de/autoren/elisvoss/kritik-an-corona-massnahmen-von-links