Kommentar: Die Grünen könnten die Gewinner sein

Läutet der Nahles-Rücktritt das Ende der Merkel-Ära ein?

Wichtiger als die Personalie Nahles ist, dass hinter der liberal-grünen Kooperation, die seit Jahren von Publizisten herbeigeschrieben wird, ein bestimmtes kapitalistisches Akkumalationsmodell steht, dass von ihren Befürwortern wie dem Taz-Kommentator Peter Unfried als sozial-ökologische Modernisierung bezeichnet wird.

Nie hat die langjährige SPD-Politikerin Nahles so viel Lob und Respekt-Bezeugungen bekommen wie in den Stunden ihres Rücktritts. Selbst der SPD-Senior Franz Müntefering, für dessen Rücktritt die aufstrebende Jung-Sozialdemokratin Nahles 2005 mit verantwortlich war [1], verliert jetzt einige gute Worte über seine „Intimfeindin“ [2]. Nun gehört es in allen Parteien zum guten Ton, den Politikern, die man erst mit Intrigen weggemobbt hat, dann noch nachzurufen, dass sie…

… ja so integer waren. Dieses Schauspiel erleben wir jetzt im Fall von Nahles, die sich bestens in Sachen parteiinterner Intrigen auskannte.

Auch die Linke keine Option mehr für Nahles

Lange Zeit galt sie als Verbündete von Oskar Lafontaine. Nachdem der die Linke begründete hatte, rätselten manche auch über einen Parteiübertritt von Nahles. Doch sie entschied sich für eine Karriere in der SPD. Dass aktuell niemand ernsthaft fragt, ob Nahles ihren politischen Weg nicht bei der Linken fortsetzen könnte und wollte, zeigt auch den Bedeutungsverlust dieser Partei.

Lafontaine wird als grantelnder Opa aus dem Saarland gerade noch zur Kenntnis genommen. und auch Sahra Wagenknecht, die eine ähnlich mit Hindernissen versehene Karriere bei der PDS/Linke hinter sich hatte wie Nahles bei der sozialdemokratischen Schwesternpartei, hat erst einmal den Rückzug angetreten. Im Unterschied zum Fall Nahles verweigerten manche der innerparteilichen Gegner Wagenknechts sogar die Respektbekundungen beim Rückzug.

Tatsächlich gibt es einige Parallelen bei den Personalien Wagenknecht und Nahles. Beide begannen ihre Karriere in den jeweils linken Flügeln ihrer sozialdemokratischen Parteien, wurden auf dem Weg an die Spitze immer wieder von Männern mit guten Kontakten ausgebremst, eigneten sich selber gute Kontakte an und als sie schließlich an der Parteispitze waren, unterschieden sie kaum noch von denen, die dort vorher waren.

Dafür gaben beide ein kurzes Gastspiel und befanden sich praktisch von der ersten Stunde ihrer Wahl im Dauerclinch mit Teilen ihrer Partei. Es gelang weder Wagenknecht noch Nahles in ihren jeweiligen Parteien einen Zustand herzustellen, in dem sie die Führungsaufgaben hegemonial ausüben konnten. Es wäre eine wissenschaftliche Untersuchung wert zu erforschen, ob es daran liegt, dass Frauen noch immer, selbst wenn sie es schaffen aufzusteigen, von vor allem männlich geprägten Netzwerken bekämpft werden.

Zumindest ist auffällig, dass vor allem Wagenknecht auch aus der eigenen Partei häufig in die rechte Ecke gesteckt wurde, obwohl ihre Politik sich nur dem sozialdemokratischen Mainstream immer mehr anpasste. Auch bei Nahles fällt auf, dass ihre bekundete Abkehr von Hartz-IV, so halbherzig sie auch war, kaum im Gedächtnis ist. Dafür wird ihr vorgeworfen, was am wenigstens zu kritisieren wäre: Dass sie mal Ausdrücke gebrauchte, die in den Schulhöfen, Jobcenter-Warteräumen und Friseursalons der Republik verstanden werden.

Eine Sprechweise, die sich im Stil, nicht im Inhalt, vom manierierten Politsprech abhob, hat Nahles nichts mehr genutzt, weil die, die davon vielleicht vor 20 Jahren noch hätten angesprochen werden können, schon längst die Kopfhörer aufgesetzt und alle Politikerreden abgeschaltet haben.

Ende der Regierung Merkel?

Mit dem Nahles-Rücktritt kommt erneut die Stunde der Auguren, die nun im Kaffeesatz lesen, dass die SPD vielleicht die Koalition mit der Union verlassen könnte, die aus Bequemlichkeit fälschlich noch immer mit dem Adjektiv „groß“ bezeichnet wird. Die Union gibt sich mehrheitlich staatstragend und betont, sie stehe dafür, dass alles so weitergehen muss wie bisher. Dabei weiß jeder, dass der kapitalistische Normalbetrieb auch bei einer nur geschäftsführenden Regierung weitergeht, dass zeigte sich nach den letzten Wahlen.

In Belgien war die Zeit ohne amtierende Regierung noch länger. Doch auch in der Union gibt es unterschiedliche Akzente bei der Frage des Umgangs mit der SPD. Während vor allen die Unterstützer der neuen CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer eher das staatstragende „Weiter so“ ventilieren, hat der wirtschaftsnahe Flügel, der sich noch immer nicht mit der Niederlage von Friedrich Merz abgefunden hat, schon mal daran erinnert, dass die Union auch Optionen ohne die SPD habe.

Da gibt es schon einige, die in einer Einbindung der Grünen – möglichst mit der FDP – in eine neue Regierung bessere Verwertungsbedingungen für das deutsche Kapital sehen. Die SPD ist ja nun bekanntlich seit über 100 Jahren keine Gefahr mehr für das Kapital, trotzdem wurde sie von führenden Kapitalkreisen immer noch so behandelt. Selbst zaghafte soziale Zugeständnisse wurden als Zumutung empfunden.

Da teilt die SPD das Schicksal mit den ihr nahestehenden staatstragenden Gewerkschaften. Die müssen heute in manchen Branchen regelrecht darum betteln, doch als Tarifpartner auch für den Wirtschaftsfrieden sorgen zu dürfen. Trotzdem gibt es genügend Branchen, für die selbst ein braver DGB-Gewerkschaftler im Betriebsrat eine Einschränkung des Herr-im-Haus-Standpunkts ist.

Übertriebene Diskussion um Rezo-Video

In der Union sind die Machtkämpfe, die vor allem durch die Kandidatur von Merz für den Parteivorsitz offensichtlich wurden, nur vermeintlich beendet. Allein die völlig übertriebene Diskussion um das Rezo-Video zeigt, dass da manche in der Union einen Anlass suchen, Kramp-Karrenbauer die innerparteilichen Grenzen zu zeigen. Allerdings haben auch Linke der unterschiedlichen Couleur nach Kramp-Karrenbauers Rezo-Kritik gleich den großen Zensur-Hammer geschwungen.

Etwas mehr Gelassenheit und Analyse hätte doch zumindest zur Erkenntnis geführt, dass YouTuber und Influencer heute tatsächlich einen enormen Einfluss auf Menschen haben, von denen nicht nur viele Politiker träumen können. Vor dem Rezo-Aufreger hat der Kulturkritiker Guillaume Paoli einen kritischen Blick [3] auf diese Szene geworfen.

Die gegenwärtige Gesellschaft teilt sich mehr und mehr in diese zwei Klassen: Influencer und Follower. Längst wurde vom Marketing das Potenzial von Selbstdarstellern erkannt, die auf Social-Media-Kanälen die Aufmerksamkeit ihrer Anhängerschar auf sich ziehen. So wird für die postalphabetische Jugend der alte amerikanische Traum aktualisiert: vom Youtuber zum Millionär. Vergiss das Tellerwaschen, berühmt und reich kannst du werden, indem du dein Privatleben authentisch und identifikationsstiftend öffentlich machst.

Guillaume Paoli, Verdi Publik

Später beschäftigt sich der Autor auch mit dem ambivalenten Verhältnis von Politik und Kommerz in dieser Szene:

Die meisten Influencer haben ja eine Botschaft. Sie werben zugleich für Kosmetika und Toleranz, gegen Übergewicht und Rechtspopulismus. Manchmal vermischen sich beide Anliegen. Einem AfD-Politiker kontert die prominente Influencerin Enissa Amani mit dem merkwürdigen Argument: „Meine Netflix-Gage ist dein ganzer Lebenslohn!“ Neulich hat selbige Amani ihre halbe Million Instagram-Abonnenten mobilisiert, um eine Journalistin zu beschimpfen, die sie in einem Artikel verspottet hatte. Denn die Botschafter und Botschafterinnen des Guten verfügen über eine schmutzige Waffe. So wie das Führerprinzip auf Sturmabteilungen, beruht das Influencerprinzip auf Shitstorms.

Guillaume Paoli, Verdi Publik

Dieser zweifellos polemische Beitrag sollte zumindest anregen, nicht gleich von Zensur zu reden, wenn die nun wirklich einflussreiche Szene mal kritisiert wird. Seltsamerweise haben die meisten derjenigen, die jetzt gleich in den Kampf für die angeblich von Zensur und Schlimmeren bedrohten YouTuber in die Schlacht ziehen, gar nicht bemerkt, dass ein linkes Internetforum wie Indymedia Linksunten tatsächlich seit fast zwei Jahren in Deutschland verboten [4] ist.

Würde nur ein Bruchteil der zensurkritischen Verve, die bei der Diskussion um das Rezo-Video deutlich wurde, auf ein tatsächlich zensiertes Medium abstrahlen, wäre das Verbot vielleicht schon Geschichte. Doch solch grundlegende Widersprüche, bei denen man sich auch mit den Staatsapparaten anlegen müsste, werden in der Gesellschaft kaum diskutiert.

Neues grünes Akkumalationsmodell

Selbst die Klimadebatte führt bei der Mehrheit der Aktiven nicht zur Hinterfragung einer Gesellschaft, die Mensch und Natur vernutzt, sondern zum Ruf nach Klimarettung und Klimanotstand. Staat und Politik werden so in die Pflicht genommen und maßgebliche Vertreter des deutschen Kapitals sehen in einer Umstellung auf scheinbar klimafreundliche Produkte eine große Chance für den Standort Deutschland. Daher ist für sie ein Regierungseintritt der Grünen keine Drohung, sondern eine Chance.

Sie sehen im technokratischen scheinbar garantiert ideologiefreien Regierungsstil der grünen Wirtschaftssenatorin Ramona Pop [5] ein Modell auch für die Bundesregierung. Denn auch bei ihr heißt „ideologiefrei“ „nah an den Wirtschaftsinteressen“, wie Pop in einem Taz-Interview [6] deutlich machte.

taz: Easyjet bietet seit Anfang Mai eine Direktverbindung Berlin-Sylt an. Dagegen müssten Sie als Grüne eigentlich protestieren.

Das ist nicht politisch zu entscheiden. Die Airlines legen selbst fest, welche Strecke sie anbieten, was für sie wirtschaftlich ist. Aber hier würde mich tatsächlich die Flugscham packen.

Ramona Pop, Taz

Der Flugscham ist für die grüne Seele, aber an Regularien für die Airlines denkt die Politikerin der Grünen nicht.

taz:Als Wirtschaftssenatorin sind Sie auch für Tourismus zuständig. Die wachsende Zahl von Flügen hat zur Folge, dass immer mehr BesucherInnen in die Stadt kommen. Viele BerlinerInnen sehen das kritisch.

Zunächst einmal: Berlin versteht sich als Stadt der Freiheit und Offenheit. Das ist wichtig, auch für die Wirtschaft. In den Digitalunternehmen sind rund 50 Prozent der Belegschaft nichtdeutscher Herkunft. Die Stadt ist mit ihrer Internationalität attraktiv und profitiert davon. Lange wurde beim Tourismus allerdings nur auf Quantität gesetzt. Das wollen wir so nicht mehr.

Ramona Pop, Taz

Auch Immobilienkonzerne haben von ihr nicht viel zu befürchten. Stellt Pop doch klar, dass sie keinesfalls – wie Teile ihrer Partei – das Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ unterstützt:

taz: Es macht Ihnen Probleme, als Wirtschaftssenatorin mit dem Schlagwort Enteignung in Verbindung gebracht zu werden.

Das Schlagwort Enteignung kommt im grünen Beschluss des Landesausschusses überhaupt nicht vor. Im Gegenteil: Darin steht, dass man in so eine Situation gar nicht geraten will, weil sie eine Polarisierung bewirkt. Die Welt ist nicht immer schwarz und weiß. Wir Grüne bieten komplexere Antworten als: Bist du dafür oder dagegen? Das finde ich auch angemessen angesichts der komplexen Problematik. Alle wären gut beraten, die Debatte zu versachlichen und Lösungen zu finden.

taz: Wirtschaftsvertreter sagen, Sie hätten sich mit der Unterstützung des Volksbegehrens für Ihren Job disqualifiziert.

Ich bedaure es, dass man auf so einer symbolischen Überschriftenebene miteinander spricht. Ich würde mich über eine differenziertere Debatte freuen. Wir müssen uns alle Gedanken darübermachen, warum Menschen überhaupt so verzweifelt sind, dass sie anfangen, Unterschriften für ein solches Volksbegehren zu sammeln. Wenn der Eindruck entsteht, dass der Staat handlungsunfähig ist und die Menschen in zentralen Lebensbereichen nicht mehr absichern kann, dann ist das auch eine Gefahr für die soziale Marktwirtschaft und die Demokratie an sich.

Ramona Pop, Taz

Droht mit den Grünen eine Agenda 2020?

Allein, dass eine Politikerin der Grünen Menschen, die von einem demokratischen Grundrecht Gebrauch machen und Unterschriften für ein Volksbegehren sammeln, als verzweifelt bezeichnet, qualifiziert sie in den Augen der Immobilienwirtschaft. Vor einer solchen Partei haben sie keine Angst, sie wünschen sich vielmehr, dass die schnell mitregieren kann. Getragen auch von Teilen der Bevölkerung scheinen die Grünen zurzeit auf einer Erfolgswelle zu schwimmen, die sie sogar zur Kanzlerpartei machen könnte.

Daher werden die Grünen auch nicht ohne Neuwahlen in die Regierung wechseln. Da wird es noch einige Kontroversen mit den anderen Parteien geben. So ist auch noch nicht ausgemacht, ob mit dem Nahles-Rücktritt auch die Ära Merkel zu Ende ist. Die SPD hat schließlich in Gestalt von Martin Schulz nach der letzten Wahl den Gang in die Opposition angekündigt, um dann mit der Union weiter zu regieren.

Ob die Basis es noch wagt auszusteigen, ohne dass eine erkennbare andere Machtoption oder auch nur ein Konzept für eine Opposition vorliegt, muss bezweifelt werden. Erst einmal geht in der SPD der große Streit weiter, wer für die Demontage Nahles verantwortlich ist und wer sie beerben soll. Dass auch einige einen schnellen Koalitionsaustritt favorisieren, sagt noch nichts über die realen Mehrheitsverhältnisse in der Partei auf den unterschiedlichen Ebenen.

Schließlich gab es ja die entschiedenen Gegner eines Weiterregierens nach den letzten Wahlen und die verschaffen sich jetzt wieder Gehör. Es kann aber sein, dass die SPD so handlungsunfähig wird, dass mit ihr keine Regierung mehr geführt werden kann. Dann könnte es zu Wahlen kommen und die Grünen dürften die Gewinner sein. Darauf sollten wir uns mittelfristig auf jeden Fall einstellen.

Denn wichtiger als die Personalie Nahles ist, dass hinter der liberal-grünen Kooperation, die seit Jahren von Publizisten herbeigeschrieben wird, ein bestimmtes kapitalistisches Akkumalationsmodell steht, dass von ihren Befürwortern wie dem Taz-Kommentator Peter Unfried [7] als sozial-ökologische Modernisierung bezeichnet wird.

Was das für einen Großteil der einkommensschwachen Bevölkerung bedeutet, ist erst in Umrissen bekannt. Immer häufiger wird in Kommentatoren oder auch in Leserbriefen gefordert, auf Arbeiterrechte und „Sozialklimbim“ weniger Rücksicht zu nehmen. Droht da nach der Agenda 2010 eine Agenda 2020?

Peter Nowak