Die Lehren aus dem deutschen Faschismus werden an den bürgerlichen Mainstream angepasst. Nach wie vor wird privatwirtschaftlich an Kriegen verdient. Doch auch in Antifa-Gruppen nimmt die Kapitalismuskritik ab.

„Westliche Demokratie“ – Konsequenz aus dem Nationalsozialismus?

Schon länger fällt auf, dass selbst junge Linke, die sich als autonome Antifaschistinnen und Antifaschisten verstehen, sich heute kaum noch als staats- und kapitalismuskritisch verstehen. Das war vor 20 Jahren noch anders, damals gehörte zum Konzept Autonomer Antifaschismus eine klare Kapitalismus- und Staatskritik, wie der Chronist der autonomen Antifabewegung, Bernd Langer sehr treffend beschreibt. Damals wurde in den Texten der autonomen Antifa – wenn auch mit analytischen Schwächen – ein Zusammenhang zwischen bürgerlichen Staat und Faschismus hergestellt. Davon kann heute keine Rede mehr sein.

Mit Esther Bejarano ist 2021 eine der letzten Auschwitz-Überlebenden gestorben, die sich bis zum Schluss in die politische Auseinandersetzung eingemischt hat. Der Kampf gegen alle Formen von Nazismus, Antisemitismus und Faschismus waren zum roten Faden in ihrem Leben geworden. Dabei machte Bejarano immer wieder deutlich, dass der bürgerliche Staat …

… und seine Institutionen eben kein Bollwerk gegen die extreme Rechte sind. Bejarano hätte sicher auch protestiert, wenn nun die „westliche Demokratie“ als einzig logische Konsequenz aus dem Nationalsozialismus dargestellt wird. Genau so äußert sich im Interview mit der Tageszeitung Neues Deutschland der Direktor der KZ-Gedenkstätten Buchenwaldund Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner.

In dem Interview sollte es recht allgemein um rechte Protestbewegungen gehen. Da wurde recht undifferenziert eine Linie von den Pegida-Aufmärschen über die Proteste gegen die Corona-Bestimmungen bis zu angeblich prorussischen Aktionen anlässlich des Ukraine-Krieges gezogen. Doch tatsächlich kann eine solche Zusammenmischung von Protesten wenig erklären.

Es mag einen harten Kern von Menschen geben, die auf all diesen Aktionen anzutreffen sind, Doch für einen großen Teil der Menschen, die an diesen Protesten teilnehmen, trifft das nicht zu. Es ist immer ein Problem, wenn große Linien gezogen werden und die Details dann scheinbar keine Rolle mehr spielen.

Um die Opfer getrauert, ohne die Rolle der Täter zu analysieren

Dabei hat Wagner im Interview sicher einige erkenntnisreiche Sätze zu einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gesagt, die sich vor allem auf das Trauern um die Opfer konzentriert, wobei oft vergessen wurde, die Mechanismen und Regeln des Naziregimes zu erklären.

Wir haben uns gesamtgesellschaftlich viel zu sehr darauf beschränkt zu trauern, ohne nachzudenken. Natürlich ist es richtig, beim Gedenken die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen. Aber wir haben zu wenig gefragt, warum diese Menschen zu Opfern wurden und wer sie dazu gemacht hat. Statt nach den Tätern zu fragen, identifizieren sich viele mit den Opfern. Das ist an sich schon eine Anmaßung aus der Post-Täter-Gesellschaft heraus.


Jens-Christian Wagner im Gespräch mit dem ND

Anmaßungen mit und ohne Folgen

Aus dieser Erkenntnis heraus könnte man auch gelassener damit umgehen, wenn auch Teilnehmende von Corona-Protesten auf die Idee kommen, sich mit Opfern des Nationalsozialismus zu identifizieren. Schließlich gibt es ja viele niedrigschwellige Angebote an junge Menschen, sich mit Menschen wie Sophie Scholl oder auch Anne Frank zu identifizieren.

Da kann es dann wenig verwundern, dass auch Personen aus dem Spektrum der Corona-Maßnahmenkritiker – wie die etwa „Jana aus Kassel“ – sich mit Sophie Scholl identifizieren. Zumindest ist dies kein Grund, hierin eine besondere rechte Gefahr zu sehen, wie es neben viel Hohn und Spott teilweise geschah.

Alle möglichen politischen Akteure wollen ihr Handeln heute legitimieren, indem sie auf historische Personen von einer gewissen Bekanntheit zurückgreifen. Bezüge zur Nazizeit sind dabei besonders beliebt. Atomare Aufrüstung wird sowohl im Westen als auch in Russland gefordert und begründet, indem Analogien zur Nazizeit hergestellt werden.

Seit den 1990er-Jahren kürten westliche Befürworter von Kriegseinsätzen im Ausland immer wieder einen „neuen Hitler“ – und manche von ihnen wurden auch von ihren Kontrahenten zum „neuen Hitler“ erklärt – siehe Saddam Hussein und George W. Bush. Im Gegensatz dazu konnte der peinliche Auftritt von „Jana aus Kassel“ keine dramatischen Konsequenzen haben.

Bedenklich ist, wenn Wagner sich an eine Gesamteinschätzung der Proteste wagt und zu diesen Schuss kommt:

Was sich bei diesen Protesten zusammenfindet, ist ja eine sehr breite und krude Mischung, die vor allem eines vereint: Ressentiments gegen die westliche Demokratie. Aber diese Demokratie ist eine der zentralen Schlussfolgerungen, die wir in Deutschland aus der Zeit des Nationalsozialismus gezogen haben.


Jens-Christian Wagner

Nun hätte man von einen Leiter der Gedenkstätte Buchenwald erwarten können, dass er den Schwur von Buchenwald erinnert, in dem es heißt:

Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.


aus dem Schwur von Buchenwald

Auch hier handelt es sich um eine sehr allgemeine Formulierung. Aber sie ist eben nicht einfach auf eine „westliche“ oder im marktwirtschaftlichen Sinn „liberale Demokratie“ zu verengen. Es gab unter den Gefangenen von Buchenwald sicher sehr unterschiedliche Demokratievorstellungen. Anhänger einer liberalen Demokratie dürften damals aber eindeutig in der Minderheit gewesen sein.

Schließlich gab es unter den Buchenwald-Häftlingen etliche Sozialisten und Kommunisten, die keine Anhänger der liberalen Demokratie sind. Zudem war die damals allgemein eher diskreditiert, weil deutlich gesehen wurde, dass nicht nur Nazifunktionäre, sondern auch bestimmte Wirtschaftszweige vom Krieg des Naziregimes profitiert hatten, während die einfache Bevölkerung einen hohen Preis zahlen musste. So heißt es in den Leitlinien des Ahlener Programms der CDU/CSU aus dem Jahr 1947:

Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. 

Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr als das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.


Aus dem Ahlener Programm der CDU , 1947

Das bedeutet, dass die westliche oder liberale Demokratie damals keinen guten Ruf hatte. Das änderte sich im Zuge des Kalten Krieges,

Das Fehlen der KZ-Überlebenden

Wagner kann seine eigenwillige Geschichtslektion nur erteilen, weil heute fast alle ehemaligen KZ-Häftlinge gestorben sind. Viele von ihnen hätten sich gegen eine solche Geschichtsklitterung gewehrt. Gerade ehemalige Buchenwald-Häftlinge wie Emil Carlebach hätten nicht geschwiegen, wenn hier praktisch die Geschichte umgeschrieben und die liberale Demokratie zur einzigen Konsequenz der NS-Herrschaft erklärt wird.

Folgen für Antifa-Gruppen

Konsequenzen hat eine solche Umschreibung der Geschichte auch für Antifa-Gruppen. Schon länger fällt auf, dass selbst junge Linke, die sich als autonome Antifaschistinnen und Antifaschisten verstehen, sich heute kaum noch als staats- und kapitalismuskritisch verstehen.

Das war vor 20 Jahren noch anders, damals gehörte zum Konzept Autonomer Antifaschismus eine klare Kapitalismus- und Staatskritik, wie der Chronist der autonomen Antifabewegung, Bernd Langer sehr treffend beschreibt. Damals wurde in den Texten der autonomen Antifa – wenn auch mit analytischen Schwächen – ein Zusammenhang zwischen bürgerlichen Staat und Faschismus hergestellt. Davon kann heute keine Rede mehr sein.

Auch die überwiegende Mehrheit der autonomen Antifagruppen unterscheiden sich inhaltlich kaum noch von zivilgesellschaftlichen Initiativen wie der Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich ganz eindeutig zur liberalen Demokratie bekennen.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Amadeu-Antonio-Stiftung genau wie Vertreter des Staates Kritik an der Corona-Politk ebenso pauschal als rechte Fake-News bezeichnen, wie sie von Desinformation im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine oder der Energiekrise reden.

Da gibt es zum Thema Corona, Ukraine-Krieg oder Energiekrise nicht etwa unterschiedliche Perspektiven und Informationen, sondern außer den Positionen der Bundesregierung nur Fake-News und Desinformation. Insofern gehören diese zivilgesellschaftlichen Gruppen zum Staatsapparat. Es besteht die Gefahr, dass ein Teil der Antifa-Gruppen diesen Prozess auch nachvollzieht und damit jeden kritischen Stachel verliert.

Daher ist es auch notwendig zu widersprechen, wenn Geschichte umgeschrieben wird und eine liberale Demokratie, in der unverändert privatwirtschaftlich an Kriegen verdient wird, zur einzig logischen Konsequenz aus dem Nationalsozialismus verklärt wird. (Peter Nowak)