Warum der Begriff Verschwörungstheoretiker untauglich ist und durch "irrationales Denken" ersetzt werden sollte

Maskenpflicht oder willkommen in der Irrationalität

Es sollte an eine linke Diskussion angeknüpft werden, die diese Denkform aus der Irrationalität der kapitalistischen Verhältnisse erklärt. Gerade in einer Zeit, in der nicht nur in der Coronakrise deutlich wird, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht überlebensfähig ist, aber es nicht gelingt, dass ein emanzipatorisches Modell hegemonial wird, dominiert der Irrationalismus.

„Mach was Mutti sagt und wasch Dir die Hände“, so persifliert eine Songgruppe mit dem Alias-Namen Theodor Shitstorm die neue Realität, die in dem kurzen Lied prägnant auf den Punkt gebracht wird. Es geht um die soziale Distanz, die die kapitalistische Lebens- und Produktionsweise schon in sich trägt und die nun in der Corona-Politik zur absoluten Maxime einer fast weltweit umgesetzten Biopolitik wird. Die jüngste Drehung dabei ist die…..

….. Maskenpflicht, die dann in den Tagesthemen als staatspädagogische Maßnahme abgefeiert wird. Bezeichnenderweise wird die Sendung mit den Worten „Tag 1 der Maskenpflicht – willkommen in der neuen Realität“ eingeführt. Der Satz trifft den Nagel auf den Kopf – vielleicht mehr als es der Moderator wahrhaben will. Willkommen in einer Realität, in der nutzlose Symbolpolitik als neue Front im Kampf gegen den Corona-Virus verkauft wird.

Kurz kann immerhin ein Kommentator in den Tagesthemen daran erinnern, dass noch vor zwei Wochen die Politik und die staatsoffiziellen Experten die Masken fast einhellig als völlig untaugliches Instrument gegen die Ausbreitung des Virus bezeichnet haben. Sie haben die Maske sogar als „kontraproduktiv“ bezeichnet, weil sie die Verbreitung des Virus noch beschleunigen könnte, etwa weil sich die Maskenträger häufiger ins Gesicht fassen oder der Gesichtswickel nicht fest genug sitzt und rutscht.

Genau das sehen wir in der Tagesthemen-Sendung, wo brave Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die von den Journalisten am Tag 1 der Maskenflicht angesprochen werden und unisono beteuern, welch wichtigen Beitrag sie damit gegen die Ausbreitung des Virus leisten. Eine der Interviewten fasst sich während ihres fast 30-sekündigen Statements gleich drei Mal an die Maske.

In der Sendung wird nicht auf die Gefahren hingewiesen. Schließlich würde dann das staatspädaogogische Erziehungsziel verfehlt, das da heißt „Solidarisch sein, heißt jetzt Masken tragen“. Da wird noch musterknabenmäßig in bürgerlichem Gehorsam nach Prag geschaltet, wo alle Befragten betonen, welch großartige gemeinschaftliche Aufgabe man im Kampf an der Virenfront leistet.

Dass der Präsident des Weltärzteverbandes die Maskenpflicht als Armutszeugnis bezeichnete, kommt in der Tagesthemen-Sendung nicht vor. Dabei ist er nicht grundlegend gegen eine Maskenpflicht, wenn sie denn ihre Aufgabe für den Gesundheitsschutz erfüllen würde.

Mir geht es um die gesetzliche Maskenpflicht für eine nicht funktionierende Maske. Hätten wir alle funktionierende Masken, dann fände ich es sogar vernünftig, uns zu verpflichten, sie immer zu tragen, wenn wir uns draußen bewegen. Aber eine gesetzliche Pflicht für nicht funktionierende Masken halte ich für ein Armutszeugnis eines Staates.

Frank Ulrich Montgomery, Deutschlandfunk

Die deutsche Staatsdoktrin und die Verschwörungstheorie

Den sehr differenziert argumentierenden Montgomery kann man nicht so gut zum Verschwörungstheoretiker stempeln. Dafür hat sich der Theatermann Frank Castorf für diese Rolle mit einem Spiegel-Interview beworben. Dort erklärt er, nicht von „Mutti Merkel“ zum Händewaschen aufgefordert werden zu wollen, womit er genau das ablehnt, was die Songgruppe Theodor Shitstorm persifliert.

Castorf wird angekreidet, dass er gegen Merkel schießt. Soll die Wortwahl andeuten, dass einer, der selbst in Corona-Zeiten keine volksgemeinschaftlichen Gefühle mit der ewigen Regierungschefin hat, auch zur Pistole greift? Zudem hat Castorf den Fehler gemacht, sich nicht dem Bashing des gegenwärtigen Präsidenten der USA anzuschließen.

Denn längst gehört es zur deutschen Staatsdoktrin, dass über die demokratisch gewählten Präsidenten oder Premierminister der Staaten, die vor 75 Jahren die Welt vom Nationalsozialismus befreiten und dabei die gewöhnlichen Deutschen bedingungslos besiegen mussten, kein gutes Wort mehr verloren werden darf. So ist mittlerweile Trump zu Putin als Inbegriff des Bösen aufgerückt und wer da nicht mitmacht, wird zum Verschwörungstheoretiker erklärt.

Dicht dahinter folgt in der Reihe der in Deutschland zu Unsympathen Erklärten der britische Premierminister Johnson, der es doch tatsächlich gewagt hat, Ernst zu machen mit dem Verlassen der von Deutschland dominierten EU und dafür sogar noch eine Mehrheit in Großbritannien bekommen hat. Frankreichs Präsident Macron, einst der Hoffnungsträger der Liberalen und Grünen, hat in Deutschland seinen Ruf noch nicht gar so ruiniert.

Aber seit er sich in der Frage der Eurobonds auf die Seite der EU-Südländer gegen den Block der „Deutsch-EU“ geschlagen hat, ist es mit seinen Sympathiewerten in Deutschland bergab gegangen. Auch der israelische Ministerpräsident Netanyahu wäre, wenn es nach der deutschen Staatsdoktrin ginge, schon längst im Gefängnis, aber nicht mehr auf der Regierungsbank. Nur wird eben, was die deutschen Medien beklagen, auch Netanyahu nicht in Deutschland gewählt.

So weit reicht das so wortreich beschworene besondere deutsch-israelische Verhältnis nicht, dass man diese Tatsache einfach anerkennt und Netanyahu nicht ständig als besonderen Ausbund an Kriminalität hinstellt. Es sei noch betont, dass hier keine Aussage über die Politik der Genannten gemacht wird.

Es geht hier vielmehr um eine Kritik an einer Debatte in Deutschland, bei der Merkel zur Weltbeglückerin, die nicht kritisiert werden soll, hingestellt wird, während die führenden Politiker der Staaten, die 1945 die Welt vor Deutschland gerettet haben und der Premierminister des Staates, den die Überlebenden der Shoah als Konsequenz des deutschen Mordprogramms aufgebaut haben, umso heftiger angegriffen werden.

Und es geht um die Kritik darüber, dass man schnell mit dem Begriff Verschwörungstheoretiker hantiert, wenn man gegen die deutsche Staatsdoktrin verstößt.

Theorie vom Corona-Virus aus dem Labor – Verschwörungstheorie oder nicht?

Das wird in der Corona-Krise besonders deutlich. Mitte März konnte als Verschwörungstheoretiker bezeichnet werden, wer behauptet hatte, bald werde die Politik eine allgemeine Maskenpflicht in Deutschland verkünden. Ende April kann das Etikett denen zukommen, die die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme bezweifeln.

Es gäbe viele andere Beispiele aus der Corona-Ära dafür, wie schnell die Rolle des Verschwörungstheoretikers wechselt. Gehört dazu, wer ernsthaft diskutiert, ob das Virus aus einem Labor in Wuhan kommt? Oder ist es berechtigt, die Dokumente der Washington-Post ernsthaft zu untersuchen, die in der Taz so beschreiben werden:

Demnach haben 2018 Washingtoner Diplomaten wiederholt das Wuhan Institut für Virologie besucht, da sie über dortige Sicherheitsstandards besorgt waren. Das Institut operiert unter der höchsten Sicherheitsstufe BSL-4 wie etwa 50 Forschungseinrichtungen weltweit. Gezielt wiesen US-Wissenschaftsdelegationen auf die dortige Forschung zu Coronaviren an Fledermäusen hin, und dass bei Missachtung der Vorschriften ein Sars-sähnlicher Erreger entweichen könne. Wie schnell solche Fehler passieren können, weiß Washington aus eigener Erfahrung: 2015 hatte das US-Militär versehentlich lebende Anthraxproben an mehrere Labore im Land sowie eine US-Militärbasis in Südkorea verschifft.

Aus der Taz vom 20.4. 2020

Für eine Präzisierung des Verschwörungsbegriffs

Der Linkenpolitiker Daniel Schwerd kritisiert in einer Kolumne in der Tageszeitung Neues Deutschland prägnant, dass das Rechts-Denken in der Corona-Krise wieder zunimmt. Er bezieht sich weitgehend auf die Kritiker der staatlichen Corona-Politik und er verwendet einen weit gefassten Begriff der Verschwörungstheorien.

Die Coronakrise befeuert den Markt der Verschwörungstheorien. Während sich ein Teil daran abarbeitet, die Existenz des Virus zu leugnen oder Corona im Reich harmloser Erkältungskrankheiten zu verorten, glaubt ein anderer Teil, die Urheber der Krankheit gefunden zu haben: wahlweise die USA, Russland, China oder Israel. Warum haben Menschen so eine Lust an Verschwörungen?

Daniel Schwerd, Neues Deutschland

Tatsächlich ist es ein verschwörungstheoretischer Ansatz, wenn behauptet wird, dass es das Corona-Virus gar nicht gibt oder dass es gezielt von irgendwelchen Staaten oder Eliten in die Welt gesetzt wird, um eine bestimmte Politik durchzusetzen. Dass mit einer solchen Welterklärung auch sehr häufig antisemitische und rassistische Vorstellungen verbunden sind, ist richtig.

Daher ist es auch verständlich, wenn die bei vielen Linken die Alarmglocken klingeln, wenn sich an den verschiedenen Kundgebungen von Gegnern der Corona-Politik Menschen beteiligen, die zumindest keine Probleme haben, auch mit „offenen Rechten“ auf die Straße zu gehen.

Trotzdem ist es falsch, den Begriff Verschwörungstheoretiker zu weit zu ziehen. Er wird dadurch unscharf und beliebig. Zudem wird er von allen Seiten benutzt. Die Verteidiger der Corona-Politik der Regierung wenden ihn gegen die Kritiker und diese kehren den Vorwurf zurück.

Zudem werden oft noch ausländische Regierungen bzw. Agenturen dieser Regierungen für die Verbreitung dieser „Verschwörungstheorien“ verantwortlich gemacht. In Deutschland wird dies vorzugsweise Russland vorgeworfen, aber auch Trump-Unterstützern in den USA.

Kritik des Irrationalismus

Sinnvoller wäre es, sich einen Begriff wieder anzueignen, der sowohl in der progressiven Phase des Bürgertums als auch in der linken Arbeiterbewegung verwendet wurde. Es handelt sich um die Kritik am „Irrationalismus“ und am irrationalen Denken. Dafür könnte man auf Schriften des marxistischen Theoretikers und Philosophen Georg Lukacs verweisen, die allerdings nicht einfach zu lesen sind.

In der tradionalistischen Linken wurde schon vor der Corona-Krise verstärkt über irrationales Denken im Spätkapitalismus diskutiert. Doch gerade dieses Spektrum muss sich mit dem Problem auseinandersetzen, dass in den nominalsozialistischen Systemen der Begriff Irrationalismus auch zum Kampfbegriff gegen dissidente Strömungen in Politik und Wissenschaft wurde.

Er hatte damit die Funktion, die heute der Begriff der Verschwörungstheorie gelegentlich annimmt. Dagegen steht ein Vorgehen in den ersten Jahren der Sowjetunion, in dem ein Streit über verschiedene Wissenschaftstheorien propagiert wurde. So setzte sich Lenin 1922 vehement dafür ein, dass mit dem russischen Physiker Arkadi Tirmrjasews ein erklärter Gegner der Relativitätstheorie von Einstein für die Mitarbeit für eine philosophische Zeitschrift gewonnen werden konnte, die in der jungen Sowjetunion herausgegeben wurde.

Dieser streitbare Materialismus ist das Gegenteil einer Herangehensweise, wo Positionen, die dem aktuellen Wissenschaftsparadigma widersprechen, ausgegrenzt werden.

Irrationalismus bei Gegnern und Befürwortern der Corona-Politik

Es sollte an eine linke Diskussion angeknüpft werden, die diese Denkform aus der Irrationalität der kapitalistischen Verhältnisse erklärt. Gerade in einer Zeit, in der nicht nur in der Coronakrise deutlich wird, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht überlebensfähig ist, aber es nicht gelingt, dass ein emanzipatorisches Modell hegemonial wird, dominiert der Irrationalismus.

Aktuell in der Corona-Krise wird das auf beiden Seiten deutlich. Die offizielle Corona-Politik ist ebenso davon geprägt, wie allein das Beispiel der Masken zeigt, die noch vor wenigen Wochen als unwirksam und nun zur Staatspolitik wurde.

Wie stark irrationales Denken auch bei den Gegnern der Corona-Politik verbreitet ist, zeigte sich darin, dass dort öffentlichkeitswirksam für eine Welt ohne Corona meditiert wird.

Ebenfalls irrational ist es, wenn die Forderung nach Abgrenzung von bekannten Personen der organisierten Rechten mit der Begründung abgelehnt wird: „Ich habe ihm in die Augen geschaut und gespürt, dass er zu uns gehört.“

Solche Argumente kamen gleich von mehreren der Menschen, die in den letzten Wochen am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz gegen die offizielle Corona-Politik demonstrieren.

Gefühl statt Politik und Denunzierung von theoretischer Praxis sind seit jeher ein Kennzeichen des Irrationalismus. Das ist aber auch das Kennzeichen auch der offiziellen Politik seit mehreren Jahrzehnten. Theoretische Erkenntnisse aus der progressiven Phase des Bürgertums, die von der Arbeiterbewegung übernommen wurden, werden ignoriert oder als für heute irrational abgetan.

Der grassierende Irrationalismus ist dann die logische Folge und sie entspringt der Ausweglosigkeit des Spätkapitalismus.

Die „Spanische Grippe“ traf auf eine Welt in Aufruhr

Die offizielle Corona-Politik wie auch das Agieren der Kritiker ist in diesem Irrationalismus befangen. Wer sich eher ein Ende der Menschheit als ein Ende des Kapitalismus vorstellen kann, muss dort zwangsläufig landen.

Da lohnt ein Blick zurück, als vor mehr als 100 Jahren eine Epidemie grassierte, die heute als „Spanische Grippe“ bekannt ist, die aber, wie wir nun wissen, nicht aus Spanien kam. In den letzten Wochen wurde in vielen Medien verständlicherweise an diese Epidemie erinnert, die mit der Corona-Verbreitung verglichen werden kann.

Doch in allen Medien wird ein Aspekt ausgeblendet. Die Grippe-Epidemie vor mehr als 100 Jahren traf auf eine Welt in Aufruhr. Nach der Oktoberrevolution gab es in vielen anderen Ländern Revolutionen, in Deutschland am 9. November 1918.

Es gab in vielen europäischen Ländern kurzzeitig Räterepubliken, große Aufstände und Streiks und zahlreiche gut besuchte Veranstaltungen. Auf zeitgenössischen Fotos sieht man die Menschen dicht gedrängt auf Straßen, Plätzen oder in Fabrikhallen.

Statt Social Distancing gab es revolutionäre Aktivitäten. Auch in den internen Protokollen der verschiedenen, an den revolutionären Bewegungen beteiligten Gruppierungen haben Historiker keine Hinweise auf die Epidemie gefunden.

Dabei waren alle Fraktionen der Arbeiterbewegung sehr wissenschaftsfreundlich und legten Wert auf eine Gesundheitspolitik für die arme Bevölkerung. Tatsächlich wurde in den Ländern, in der die revolutionären Bewegungen auf die Politik Einfluss hatten, viele gesundheitliche Reformen durchgesetzt, weil die krankmachenden Faktoren des alten Systems infrage gestellt wurden.

Es war eine Phase, in der durch eine starke und aktive Linke der Irrationalismus in der Gesellschaft für eine kurze Zeit weitgehend zurückgedrängt war. Er sollte bald in Form des Nationalsozialismus und anderer im Wortsinn konterrevolutionärer Bewegungen einen neuen Aufschwung nehmen. Peter Nowak