Gewerkschaften und Corona-Krise - bitte konkreter werden. Bei den Mai-Kundgebungen zeigten sich Stärken von Initiativen, die mit einer "Taktik der radikalen Reformen" arbeiten

Solidarität ist mehr als Händewaschen und Klatschen

Nicht das Virus, sondern politische Bewegungen ändern etwas. Wenn es einer politischen Linken nicht gelingt, ihre Forderungen und Analysen, die sie auf dem Sektor der Care-Politik in den letzten Jahren entwickelt und geschärft hat und die sich jetzt gerade bestätigen, massiv in die Öffentlichkeit zu tragen, behält Böldt insofern Recht, dass sich nach der Corona-Krise nichts für die Mehrheit der Bevölkerung ändern wird.

„Tatort – nicht betreten“, stand auf den Flatterbändern, mit denen die Polizei am Donnerstagnachmittag vergangener Woche ein kleines Areal des Weddinger Leopoldplatz absperrte. Dort hatte die Stadtteilinitiative „Hände weg vom Wedding“ unter dem Motto „Die Reichen sollen zahlen“ eine knapp 90-minütige Kundgebung organisiert. Es war der Ersatz für die …

…. geplante Stadtteildemonstration, die, wie in den vergangenen Jahren auch, für den 30 April geplant worden war. Unter Corona-Bedingungen durften dieses Jahr nur 20 Personen in den abgesperrten Kundgebungsbereich. Dort wurden Schilder mit den Parolen „Keine Profite mit unserer Gesundheit“, „Stärkung von ArbeiterInnenrechten und Betriebsräten“, „Bleiberecht für illegalisierte MigrantInnen“ und „Verteidigung der Grundrechte“ aufgestellt.

Verteilt wurde ein Forderungskatalog für eine soziale und demokratische Lösung der Krise für den Bezirk Wedding, der in den letzten Wochen gemeinsam mit aktiven Stadtteilbewohnern erstellt wurde.

Grundrechtseinschränkungen konkret

Hier zeigt sich die Problematik eines Corona-Ausnahmezustands, in dem die Grund- und Versammlungsrechte massiv eingeschränkt werden. Bei der Kundgebung im Wedding ging die Polizei rigide vor. Menschen, die sich mit Schildern außerhalb des abgesperrten Kundgebungsbereichs im geforderten Abstand befanden, wurden von der Polizei zum Weitergehen aufgefordert, wenn sie dem nicht schnell genug nachkamen, drohten Personenkontrollen.

Zudem wurde nach Beginn der Kundgebung niemand mehr in das Areal gelassen, auch nachdem andere weggegangen waren, so dass am Ende weit weniger als die genehmigten 20 Personen an der Kundgebung teilnahmen. Es zeigte sich hier wie auch bei anderen Mai-Aktivitäten, wie stark die Notmaßnahmen in die Grundrechte eingreifen und wie willkürlich dabei selbst in Berlin gehandelt wird.

Bei einer Kundgebung gegen hohe Mieten und Verdrängung am 2. Mai in Berlin-Neukölln wurden die Verordnungen wesentlich liberaler umgesetzt. Es gab kein mit Flatterband abgezirkelten Bereich, obwohl auch dort nur 20 Personen erlaubt waren. Es war auch möglich, sich in der Nähe der Kundgebung als Zuhörer aufzuhalten, ohne gleich weggeschickt zu werden.

Konkrete Reformen, die die Grenzen des Kapitalismus deutlich machen

Doch in der Corona-Krise zeigen sich auch die Stärken von Initiativen, die nicht erst jetzt beginnen, sich in Stadtteilen zu verankern und dort konkrete Reformpolitik zu machen, wie der Forderungskatalog von „Hände weg von Wedding“ zeigt.

Dort wurde die Verteidigung demokratischer Grundrechte mit dem Recht auf Wohnen, würdigen Arbeitsbedingungen und einer Gesundheitspolitik jenseits der Marktlogik verbunden. Es handelt sich um Reformen, die der Mehrheit der Bevölkerung Vorteile bringen.

Sie brechen mit einer Tradition, nach der Reformen immer mehr mit Einschränkungen, Kürzungen und Gürtel-enger-Schnallen verbunden sind. Zudem haben diese Reformen transformatorischen Charakter, weil sie, wenn sie umgesetzt würden, wesentliche Mechanismen der kapitalistischen Verwertungslogik außer Kraft setzen. Das wird in dem Forderungskatalog auch nicht verschwiegen. So heißt es im Kapitel Ökonomie:

Die Herstellung und Verteilung von Waren soll entlang der wirklichen gemeinsamen Bedürfnisse der Gesellschaft planvoll organisiert werden. Der Markt garantiert unsere Versorgung nicht. Die Corona-Krise zeigt: Wenn das herrschende Wirtschaftssystem in eine Krise gleitet, werden Lieferketten unterbrochen und lebensnotwendige Güter wie Medikamente oder medizinische Schutzkleidung werden zur Mangelware und Spekulationsobjekte zur Bereicherung Weniger.

Aus dem Forderungskatalog: „Für eine soziale und demokratische Stadt“

Insofern werden hier keine Illusionen geschürt, dass die Forderungen mit einem Parlamentsbeschluss umgesetzt werden können. Dazu sind soziale Bewegungen und öffentlicher Druck nötig, was aber durch den Corona-Notstand massiv erschwert wird.

Nicht nur die Weddinger Stadtteilgruppe setzt ihren Schwerpunkt auf umsetzbare Reformen. Das ist auch der Ansatz des berlinweiten Bündnisses #jetzerstrecht, zu dem sich mittlerweile über 25 Initiativen zusammengeschlossen haben. Aus dem Wedding sind neben „Hände weg vom Wedding“ auch das Kiezhaus Agnes Reinhold und die Erwerbsloseninitiative Basta vertreten.

Unter dem Motto „Solidarität ist mehr als Händewaschen“ werden dort schnell umsetzbare Forderungen aufgestellt, die die sozialen Folgen der Corona-Krise für die Menschen mit geringen Einkommen abmildern sollen. Die anvisierten Reformen erstrecken sich auf die Gesundheits-, Sozial- und Wohnungspolitik. Auch für die Rechte von Geflüchteten setzt sich das Bündnis ein.

„Die Idee zum Bündnis ist Mitte März zu Beginn der Corona-Krise entstanden, als die Verunsicherung auch in linken Gruppen groß war“, erklärt einer der Initiatoren. Angesprochen wurden vor allem Initiativen, die sich für soziale Rechte im Stadtteil und am Arbeitsplatz einsetzen.

An der Liste der Unterzeichner wird deutlich, dass in dem Bündnis der Begriff von „Lohnabhängigen“ verbreitet ist, der niemanden ausschließt. Der Berufsverband Sexarbeit gehört ebenso dazu wie ein Bündnis, das für mehr Personal in den Berliner Krankenhäusern streitet.

Kritik am Burgfrieden des DGB

Solche außerparlamentarischen Bündnisse spielen auch eine wichtige Rolle, weil die offizielle Politik des DGB in der Corona-Krise eine Politik des Burgfriedens ist. Dass zeigte sich bereits im Februar, als die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi einen Streik- und Aktionstag am Klinikum Charité, der für den 3. März geplant war, wegen Corona absagte.

Das führte zu Kritik unter Kollegen und Unterstützern. Schließlich sollte mit dem Streik die Wiedereingliederung von ausgelagerten und schlechter bezahlten Beschäftigten am Klinikum erreicht werden.

In einer Unterschriftenaktion protestierten über 200 Gewerkschaftsmitglieder gegen die Aussetzung des Streiks und stellen klar, dass nicht der Ausstand, sondern die Arbeitsbedingungen am Klinikum eine Gefahr für die Gesundheit der Patienten sind.

Zudem ist es schon merkwürdig, dass die Gewerkschaft einen Arbeitskampf zu einem Zeitpunkt aussetzt, wo die Gegenseite besonders druckempfindlich war. Das hätte doch die Erfolgschancen für die Beschäftigten eher erhöht.

Dass der Unmut über die gewerkschaftliche Politik des Burgfriedens in der Corona-Krise nicht verflogen ist, zeigt ein Offener Brief der linksgewerkschaftlichen „Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht“ an die für den Charité-Arbeitskampf zuständige Verdi-Gewerkschaftssekretärin.

Ins Bild passt da auch, dass – Beschäftigten zufolge – Meike Jäger in einer Videokonferenz nichts Besseres einzubringen wusste, als den Beschäftigten vom Bundesvorstand auszurichten, dass bis zum 16.05.2020 zudem „keinerlei Aktionen“ von ver.di durchgeführt werden sollen. Die Beschäftigten sollen jetzt also noch ihrer letzten verbleibenden Mittel beraubt werden.

Aus dem Offenen Brief der „Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht“ an den Verdi-Bundesvorstand

Dabei wäre gerade jetzt eine offensive Gewerkschaftspolitik erfolgversprechend.

„Viel muss sich ändern – Corona hat es nur für jeden und jede sichtbar gemacht“

Die Zeit ist günstig. Schließlich macht die Corona-Krise besonders deutlich, dass die Beschäftigten im Care-Bereich, wozu auch Gesundheit und Pflege gehört, systemrelevant sind.

Eine Aktivistin von Care Revolution Dortmund hat angesichts der Corona-Krise einen Forderungskatalog vorgelegt, der in vielen Bereichen Überschneidungen zu den Reformvorschlägen der Weddinger Stadtteilinitiative hat.

(…) Nur eine Transformation der vorrangig auf Güterproduktion und Gewinn ausgerichteten Wirtschaft zu einer auf die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse, Umwelt und Klima schonenden Wirtschaft kann zur Herstellung von gerechten, den Bedürfnissen aller Menschen entsprechenden Lebens- und Arbeitsverhältnissen beitragen. 

Alle Güter der allgemeinen Daseinsvorsorge gehören in die öffentliche Hand. Welche gesellschaftlich notwendigen Güter und Dienstleistungen (Schulen, Kitas, Gesundheitsversorgung, sauberes Wasser, Müllabfuhr, Büchereien und kulturelle Einrichtungen etc.) zentral zu organisieren und herzustellen sind und welche dezentral, muss auf kommunaler, auf Kreis- oder Landesebene unter Beteiligung engagierter Bürger*innen und von Fachleuten, geprüft und transparent neu entschieden werden. Da, wo eine Privatisierung in der Vergangenheit erfolgte, ist diese rückgängig zu machen. 

Die allgemeine Mobilität muss durch die kostenfreie Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und die Abschaffung des privaten PKW-Besitzes gewährleistet werden. Flüge müssen auf umweltschonende Langstreckenflüge beschränkt werden.

Gisela-Ingrid Weissinger, Care Revolution Dortmund

Das sind auch die zentralen Inhalte eines Aufrufs des Netzwerks Care Revolution, das sich 2014 auf einer Konferenz in Berlin gegründet hat. Es hat genau die Themen zu Care als Daseinsvorsorge angesprochen, die jetzt in der Corona-Krise von viel mehr Menschen begriffen werden.

Daher sollten alle politisch aktiven Gruppen und Netzwerke ihre Arbeit bündeln, um in diesem Bereich einen politischen Erfolg zu verzeichnen. Es wird seit Corona sehr allgemein immer wieder erklärt, dass sich nun alles ändern würde und die Welt insgesamt sozialer werde.

Das Ganze hat einen sehr moralischen Unterton und meist werden konkrete politische Forderungen und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse total ausgeklammert. Dabei hat der liberale Journalist Daniel Böldt Recht, wenn er in einer Taz-Polemik schreibt, Corona werde gar nichts ändern.

Denn nicht das Virus, sondern politische Bewegungen ändern etwas. Wenn es einer politischen Linken nicht gelingt, ihre Forderungen und Analysen, die sie auf dem Sektor der Care-Politik in den letzten Jahren entwickelt und geschärft hat und die sich jetzt gerade bestätigen, massiv in die Öffentlichkeit zu tragen, behält Böldt insofern Recht, dass sich nach der Corona-Krise nichts für die Mehrheit der Bevölkerung ändern wird.

„Mobilität für Alle ist systemrelevant“

Ein anderes politisches Gebiet, in dem außerparlamentarische Bewegungen vor Corona sehr erfolgreich waren, war die Umweltbewegung. Der Autor dieses Beitrags warnte immer vor zu viel Vorschusslorbeeren für eine Bewegung, bei der noch nicht entschieden ist, ob sie in eine progressive oder irrationale Richtung geht.

Da schien es mir hoffnungsvoll, dass für die Tarifrunde im Öffentlichen Nahverkehr die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die Jugendumweltbewegung Fridays for Future kooperieren wollten. Es ging um den gemeinsamen Kampf für den Ausbau des Nahverkehrs und die Zurückdrängung des Automobilverkehrs.

„Mobilität für Alle ist systemrelevant“ lautete das Motto auf der Kampagnenseite. Nun hat Verdi die Mobilisierung wegen Corona ausgesetzt. In der Erklärung werden die Bündnispartner aus der Jugendumweltbewegung gar nicht erwähnt. Dafür dominiert die Rhetorik der Burgfriedenspolitik:

Die Corona- Pandemie stellt uns vor große Herausforderungen, die Auswirkungen auf Unternehmen und Gesellschaft sind aktuell nicht absehbar. 

In der aktuellen Krise stehen wir alle in den Betrieben vor drängenden Problemen, die nach vollem Einsatz und schnellen Antworten verlangen. Für ver.di steht jetzt im Vordergrund, das Einkommen in der Krise zu sichern, die Gesundheit aller Kolleg*innen im Einsatz zu schützen und allen Mitgliedern und Betriebsräten beratend und unterstützend zur Seite zu stehen.

Aus der Verdi-Erklärung zur Unterbrechung der Tarifkampagne im Nahverkehr 2020

Dabei werden im nächsten Absatz eigentlich die Argumente aufgelistet, die für eine Fortführung der Tarifkampagne gerade jetzt sprechen:

Jetzt zeigt sich, dass der ÖPNV von größter Bedeutung für das Funktionieren unserer Gesellschaft und die Mobilität der Menschen ist. Das gilt besonders für die, die sich kein Auto leisten können und für die Versorgung der Bevölkerung von allergrößter Wichtigkeit sind – Gesundheit, Handel, Rettungsdienste und andere. 

Jetzt zeigt sich auch, welche negativen Folgen Privatisierung und Sparzwang in Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge hatten. Wir sind alle auf eine funktionierende Grundversorgung angewiesen, die bezahlbar ist und Menschen vor Profite stellt.

Aus der Verdi-Erklärung zur Unterbrechung der Tarifkampagne im Nahverkehr 2020

Jetzt zeigen sich aber auch die fatalen Auswirkungen einer gewerkschaftlichen Politik der Sozialpartnerschaft und des Burgfriedens. Warum soll nicht gerade in einer Zeit, in der sich die Auswirkungen einer wirtschaftsliberalen Politik zeigen, der Kampf dagegen einfacher sein?

Warum wird der Schulterschluss mit denen gesucht, die für die beklagte Politik verantwortlich sind? Warum wird nebulös über unabsehbare Auswirkungen der Corona-Krise auch auf die Unternehmen geraunt und die Bündnispartner von der Jugendumweltbewegung nicht einmal mit einem Wort erwähnt?

Mit einer solchen Politik der Anpassung sorgt man dafür, dass sich durch die Corona-Krise nichts im Interesse der abhängig Beschäftigten verbessert. Daher ist es positiv, dass sich Stadtteilinitiativen und soziale Bündnisse wie #jetzterstrecht und Care Revolution gerade jetzt mit ihren Forderungen Gehör verschaffen. Peter Nowak