Es zeigt auch, dass weder die Pro-EU-Kräfte noch die Brexiteers sich der Mehrheit der Bevölkerung sicher sein können

Das Brexit-Theater geht in die nächste Runde

Diese Situation ist für die Eliten bequem. Denn solange der Glaubenskrieg um den Brexit weitergeht, wird weniger geredet über Themen, die für viele Menschen in Großbritannien viel existentieller sind. Dazu gehören schlechte Arbeitsbedingungen und Lohnverluste in vielen Branchen ebenso wie Probleme, eine Wohnung zu finden, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie haben nichts damit zu tun, ob das Land in der EU ist oder nicht.

Der britische Abgeordnete Oliver Letwin war bisher außerhalb Großbritanniens wenig bekannt. Der Rechtsaußen bei den Tories sorgte einst mit rassistischen Bemerkungenfür Kritik und ist ein glühender Anhänger von Thatchers wirtschaftsliberalen Theorien. Dass er am letzten Wochenende auch in Deutschland bekannt und von vielen Brexitgegnern gefeiert wurde, lag an einer….

 …. Gesetzinitiative, die vor allem den Zweck hatte, den Zeitplan der Brexit-Abstimmung der Johnson-Regierung durcheinanderzubringen.

Ganz konkret ging es darum, dass der von Johnson mit der EU ausgehandelte Brexit-Deal auf keinen Fall zum 31. Oktober in Kraft treten sollte. Das Kalkül scheint mittlerweile aufgegangen zu sein. Erst wurde wegen des Vorstoßes von Letwin die Brexit-Abstimmung auf der extra dafür anberaumten Sondersitzung des britischen Parlaments verschoben. Am Montag ließ dann der Speaker des Unterhauses, der wie Letwin aus der rechten Ecke der Konservativen kommt, die erneute Abstimmung mit Verweis auf eine jahrhundertealte, nie schriftlich formulierte Regel nicht zu.

Am Dienstag entschied dann eine Mehrheit im Unterhaus, dass sie sich mit den Brexit-Vertrag befasst, um gleich wieder neue Hürden und Forderungen dranzuhängen, so dass das gesamte Prozedere erneut auf Eis liegt.

Von den Brexit-Gegnern wird jede der Verzögerungstaktiken gefeiert. Denn sie hoffen ja noch, dass der Brexit nicht stattfindet. Und diese Hoffnung können sie nur haben, so lange mit immer neuen noch so absurden Verfahrenstricks, mit immer neuen Anträgen und Fragen, der Prozess herausgezögert wird. 

Was jetzt in liberalen Kreisen als Beispiel der Macht eines unabhängigen Parlaments gefeiert wird, ist in Wirklichkeit das Kasperltheater einer Kaste hochdotierter Selbstdarsteller, die wenig mit den hehren demokratietheoretischen Ansprüchen zu tun hat, die manche in sie hineininterpretieren.

Nicht Johnson sonders das Unterhaus ist die Chaostruppe

Für einen Großteil der politischen Kommentatoren stellt seit Langem fest, dass der britische Premierminister der Inbegriff eines politischen Desperados ist, der mit Lüge die Brexit-Kampagne gewonnen hat und jetzt als Premierminister Großbritannien ohne Deal aus der EU bugsieren wird. Das konnte man erst am vergangenen Montag in der Sendung des Deutschlandfunk „Kontrovers“ zur Frage „Endspiel um den Brexit“ wieder hören.

Immerhin war ein Politiker der Brexit-Partei dabei. Alle anderen waren mehr oder weniger entschiedene Brexit-Gegner und der langjährige CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, der vor der letzten Europawahl von seiner eigenen Partei gegen seinen Willen in Rente geschickt wurde, benahm sich so, als koste es ihn Überwindung, den Brexit-Befürworter überhaupt reden zu lassen.

Ständig hatte er ihn unterbrochen und mehrmals erklärte er ganz offen, dass es für ihn nur eine Lösung gebe: Ein zweites Referendum, das die Ergebnisse des ersten im Sinne der EU korrigieren möge. Denn, so die Überzeugung von Brok, jetzt seien die britischen Wähler informiert, worum es bei der Sache überhaupt geht. Vorher seien sie ja alle nur manipuliert gewesen.

Im Ton moderater, in der Sache ähnlich, äußerten sich auch alle anderen Diskussionsteilnehmer außer der Vertreter der Brexit-Partei. Bloß nicht wieder die Bevölkerung in einer so wichtigen Frage abstimmen lassen, lautete das Fazit. Widerspruch kam merkwürdigerweise auch vom Schweizer Martin Alioth nicht, obwohl doch die Schweiz das Land ist, in dem über alle möglichen Fragen Volksabstimmungen abgehalten werden.

Es gibt die berechtigte Kritik, dass sie nicht mit einer Demokratisierung der Gesellschaft verwechselt werden darf, dass gerade einkommensschwache Menschen wesentlich weniger an solchen Abstimmungen teilnehmen als der Mittelstand und dass die politische Rechte durchaus Gefallen an solchen Referenden gefunden hat, weil es dort gelingen kann, bestimmte Themen so zuzuspitzen, um dann Mehrheiten gegen Einwanderung etc. zu bekommen.

Solche Motive mögen auch in das Ergebnis der Brexit-Abstimmung eingeflossen sein. Doch gibt es respektable Gründe, nicht Teil einer von Deutschland dominierten EU sein zu wollen. Und es ist kein Zufall, dass Johnson in großen Teilen der veröffentlichen Meinung in Deutschland heute so verhasst ist wie einst Churchill. 

Es gäbe viele Gründe, Kritik an Churchill zu üben, der seine politische Karriere als Kolonialbefürworter begann, der lange Zeit am rechten Flügel der Tories stand und der Zeit seines Lebens Teil eines elitären Klüngels in London war. Doch lange wurde Churchill für eine der wenigen begrüßenswerten Entscheidungen in seiner politischen Vita in Deutschland bekämpft – dass er aktiver Teil der Anti-Hitler-Koalition gewesen ist.

Genau so ist der rechtskonservative Johnson wohl für einen Großteil seiner politischen Entscheidungen anzugreifen. Doch in Deutschland wird ihm mit besonderem Hass begegnet, weil er sich eben der deutschen Hegemonie in Europa nicht unterordnen will. 

Es ist bemerkenswert, dass bei den vielen Brexit-Gegnern in Deutschland, die bis weit ins linke Milieu reichen, nicht einmal kritisch nachgefragt wird, ob man sich da nicht zum linken bzw. linksliberalen Feigenblatt eines deutschen Europakonzepts machen lässt. Warum gibt es von linker Seite keine Proteste gegen die harte Haltung der EU und Deutschlands in den Austrittsverhandlungen mit Großbritannien?

Schließlich darf man nicht vergessen: Der Brexit ist kein Hirngespinst einiger elitärer Politiker, er ist das Ergebnis eines Referendums, das formal demokratisch abgehalten wurde. Vonseiten der EU hat man immer deutlich gemacht, dass man das Ergebnis möglichst rückgängig machen will. Und genau diese Politik wird nun seit Monaten betrieben und ist in den letzten Wochen auch in Großbritannien verstärkt worden.

Was da als proeuropäisch gefeiert wird, ist im Interesse der britischen Kapitalkreise, die an engen Beziehungen zur EU interessiert sind und die sich von einem Referendum nicht aus dem Konzept bringen lassen wollen. Aber auch hinter den Brexiteers stehen Kapitalkreise. Es geht um unterschiedliche Interessen und daher sind die Fronten so starr.

Die überraschende Vertrag von Johnson

Da wurde in den letzten Wochen massiv gegen einen No-Deal-Brexit in und außerhalb Großbritanniens Stimmung gemacht. Es wurde der Eindruck erweckt, dass Johnson überhaupt kein Interesse an Verhandlungen hat und alles tun will, um Großbritannien von der EU zu trennen. Dann waren alle überrascht, dass Johnson sehr wohl mit der EU verhandeln konnte und auch einen Deal zustande brachte.

Nun hätte man erwarten können, dass sich damit das Unterhaus befasst, wenn es ihm mehrheitlich um die Verhinderung eines No-Deal-Brexit gegangen wäre. Doch genau das taten sie eben nicht, sondern es wurden immer neue Spielchen getrieben, um es nur nicht zur Abstimmung kommen zu lassen. 

Der Versuch, das Abkommen mit Einzelforderungen zu befrachten, gehört dazu. Hier handelt es schließlich um einen mit der EU ausgehandelten Vertrag, der nicht einfach geändert werden kann. Das gesamte Spiel des Parlaments wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dort immer mehrheitlich die Brexit-Gegner saßen und noch sitzen.

Warum nicht ein Referendum über das Abkommen?

Die Weigerung, Neuwahlen zuzulassen, zeigt, dass sich dort eine Mehrheit nicht sicher ist, ob, ein neues Unterhaus noch so proeuropäisch sein würde wie das augenblickliche. Die Abgeordneten sind sich also der von ihnen immer in Mund geführten Verantwortung vor der Bevölkerung nicht gewiss. Sonst würden sie nicht Neuwahlen blockieren.

Doch umgekehrt ist sich auch Johnson-Lager längst nicht so sicher, dass es in der Brexit-Frage die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat. Sonst würde es sich nicht so sträuben, den ausgehandelten Brexit-Deal in einem neuen Referendum der Bevölkerung zur Abstimmung zu stellen. Denn genau dort müsste über den Vertrag entschieden werden und nicht im Unterhaus, das mehrheitlich immer gegen den Brexit war. Schließlich ist das Abkommen eine Folge des Brexit und jetzt könnte die Bevölkerung dann abstimmen, ob er in dieser Weise vollzogen werden sollte.

Diskutiert werden müsste, ob als Alternative dann neben einem No-Deal-Brexit auch noch die Variante des Verbleibs in der EU aufgenommen werden sollte. Dagegen spräche, dass darüber ja bereits beim ersten Referendum entschieden wurde und es jetzt nur noch um die Umsetzung ginge. Doch auch die Gegenargumente, dass es auch möglich ist, sich nach vier Jahren anders zu entscheiden, sind nicht von der Hand zu weisen.

Allerdings zeigt die Weigerung Johnsons, die Bevölkerung, die mehrheitlich für den Brexit gestimmt hat, über den Vertrag entscheiden zu lassen, dass sich auch die Brexiteers der Mehrheit nicht sicher sind. So ist das Gezerre zwischen Regierung und Unterhaus jenseits des Auslebens von Machtgelüsten exzentrischer Politikertypen ein Ausdruck für das Patt zwischen den Befürwortern oder Gegnern der EU auch in Wirtschaft und Herrschaftsapparat. Weil da keiner der Fraktionen eine Hegemonie bekommt, erweist sich der Prozess als Schauspiel, das langsam langweilig wird.

Soziale Themen fallen hinten runter

Diese Situation ist für die Eliten bequem. Denn solange der Glaubenskrieg um den Brexit weitergeht, wird weniger geredet über Themen, die für viele Menschen in Großbritannien viel existentieller sind. Dazu gehören schlechte Arbeitsbedingungen und Lohnverluste in vielen Branchen ebenso wie Probleme, eine Wohnung zu finden, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie haben nichts damit zu tun, ob das Land in der EU ist oder nicht.

Wenn das Gezerre um die EU endlich vorbei wäre, könnten solche Fragen wieder auf der Tagesordnung stehen. Das sind auch die Fragen, die vor mehr als 5 Jahren dazu beigetragen haben, dass Corbyn zu einem glaubwürdigen Politiker wurde, der seiner Labourpartei Mitglieder und Stimmen brachte. Weil die Brexitdebatte diese Fragen scheinbar in den Hintergrund hat treten lassen, sanken auch Corbyns Zustimmungswerte.

Vor einigen Tagen begann ein Streik bei der britischen Post. Dort geht es nicht um den Brexit, sondern um den Kampf um die Arbeitsbedingungen. Es wäre zu hoffen, dass er die durch die Brexitdebatte verursachte Flaute im Arbeitskampf beendet. Würde sich hier etwas bewegen, könnte auch über den Brexit ganz anders diskutiert werden.

Es gibt auch aus linker Sicht Gründe, für den Austritt aus einer EU zu sein, die sich als Hüter der Marktwirtschaft sieht und schon daher Eingriffe von Mitgliedsländern in die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse verhindern will. Ein EU-Austritt, der so argumentiert, hätte einen anderen Charakter als ein Brexit, der das Modell einer Freihandelszone Großbritannien auf den Weg bringen will, also einer Zone von noch mehr Verelendung und Ausbeutung. Denn die wird durch einen EU-Austritt überhaupt nicht tangiert.

Peter Nowak