
In Nostorf-Horst finden sich an auf Laternenmasten Aufkleber mit der Parole »Flüchten Sie weiter. Hier gibt es nichts zu wohnen.« Yaruf L., der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will, kommt täglich an den Aufklebern vorbei, wenn er mit seinem Rad die sieben Kilometer in das Städtchen Boizenburg fährt. Nicht alle Bewohner*innen des Erstaufnahmelagers für Asylsuchende Nostorf-Horst im westlichen Mecklenburg-Vorpommern haben ein Fahrrad. Für sie ist es schwer, das einsam im Wald liegende Heim zu verlassen. Eingerichtet wurde es Anfang der 1990er Jahre in einer ehemaligen NVA-Kaserne. Kaum jemand verirrt sich in die Gegend. Am Samstag aber waren
70 Musiker*innen der Gruppe Lebenslaute singend mit ihren Instrumenten in den Hof des Lagers gekommen und hatten dort ein Konzert gegeben (siehe nd vom Montag). Aufforderungen, das Gelände zu verlassen, hatte keiner der Musiker*innen gehört. Doch nach Konzertende blockierte eine Polizeihundertschaft ihre Autos. Sie durften erst fahren, nachdem ihre Personalien aufgenommen worden waren.
Die Künstler*innen ließen sich davon nicht einschüchtern und standen am Sonntagmittag erneut vor dem Flüchtlingslager. Das zweite Konzert war angemeldet. Gekommen waren auch Unterstützer*innen aus der Umgebung, aus Rostock und Niedersachsen. Schnell waren Bänke aufgebaut. Die ersten Geflüchteten fanden sich ein und begrüßten die Musiker*innen. Schließlich hatten sie sich am Vortag schon kennengelernt.
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Heftige Regenschauer sorgten zunächst für eine Verzögerung, doch mit einer Stunde Verspätung konnte das Konzert beginnen. Zuvor waren Zelte aufgebaut worden, um die empfindlichen Instrumente zu schützen. Das Publikum hatte Regenjacken mitgebracht. Höhepunkt der Aufführung war der Gefangengenchor von Giuseppe Verdi.
Die Heimbewohner im Publikum fingen an, von ihrem Alltag zu berichten. Zwei junge Männer aus Sierra Leone beschwerten sich über ständige verbale Auseinandersetzungen mit dem Sicherheitspersonal. Es sind oft Kleinigkeiten, die eskalieren.
Annette Ritter-Berger von der Lebenslaute-Pressegruppe sieht durch die Schilderungen wie auch durch von den Geflüchteten mitgebrachte Fotos die Kritik der Künstlerinitiative an den menschenunwürdigen Bedingungen im Lager bestätigt: »Einer erwachsenen Person steht gesetzlich ein Wohnraum von sechs Quadratmetern zu. Dieser Mindeststandard wird in der Erstaufnahmeeinrichtung deutlich unterschritten.«
Auch Franz Forsmann vom Hamburger Flüchtlingsrat äußerte gegenüber »nd« scharfe Kritik. Er berät seit Jahren Geflüchtete – die nur außerhalb des Lagers in einem Container möglich ist. Die Bewohner*innen beklagen vor allem die Lage der Einrichtung im Niemandsland. Der Aufwand an Zeit und Geld für jeden Einkauf, jeden Arztbesuch ist hoch. Der Hamburger Flüchtlingsrat ist in Nostorf-Horst aktiv, weil dort seit 2006 auch Geflüchtete aus der Hansestadt untergebracht werden. In einigen Wochen soll damit Schluss sein, denn ab 31. September sollen aus Hamburg kommende Geflüchtete in Schwerin untergebracht werden.
Für Forsmann ist das aber kein Grund zum Feiern. Denn Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU) hat den Standort Horst für ein sogenanntes Ankerzentrum ins Gespräch gebracht, in dem alle neuen Asylbewerber*innen registriert, untergebracht und von dort auch abgeschoben werden sollen.
Auf Nachfrage des Senders NDR hat das Innenministerium die Kritik der Gruppe Lebenslaute an der Situation in Horst zurückgewiesen. Doch die Sprecherin der Lebenslaute bleibt bei ihrem Vorwurf: »Wir haben die Einrichtung hier ein Freiluftgefängnis genannt, und das Ministerium antwortet, die Flüchtlinge seien nicht eingesperrt«, sagt Ritter-Berger. »Das haben wir aber auch nicht behauptet. Wir kritisieren, dass sie durch die abgeschiedene Lage gezwungen sind, in der Einrichtung zu bleiben.« Deshalb fordert Lebenslaute die sofortige Schließung des Lagers.
Peter Nowak
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1124548.abgeschnitten-vom-rest-der-welt.html