Juristen halten das Infektionsschutzgesetz für verfassungswidrig. Trotzdem blieb das Spektrum der Kritiker überschaubar

Sehenden Auges in den Verfassungsbruch?

Tatsächlich fand man als Beobachter der Proteste bestätigt, was Gerhard Hanloser auf verschiedenen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen im letzten Jahr beobachtet hatte. Auch am 21. April waren Hipster bei den Protesten nicht zu sehen, wie Hanloser schon im letzten Jahr konstatierte. Eher waren Menschen vertreten, die für sich wohl das Adjektiv "stinknormal" akzeptieren würden.

Ist das neue Infektionsschutzgesetz, das nach dem Bundestag auch der Bundesrat im Eiltempo beschlossen hat, verfassungswidrig? Diese Lesart vertreten einige Juristen, darunter die Verfassungsrechtlerin Anna Katharina Mangold und der Staatsrechtler Thorsten Ingo Schmidt. Die Ausgangsbeschränkung zwischen 22 Uhr und 5 Uhr für einen Landkreis oder eine kreisfreie Stadt mit einer Sieben-Tage-Inzidenz über 100 greife jedoch laut Schmidt in die Freiheit …

… der Person nach Artikel 2 und in die Freizügigkeit nach Artikel 11 ein sowie in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Artikel 2, erklärt der Potsdamer Wissenschaftler. Auch wissenschaftlich lässt sich die Maßnahme schwer begründen. Mehrere Aerosolforscher warnten in einem Offenen Brief:

Wir mussten aber als Aerosolforscher die Erfahrung machen, dass die öffentliche Debatte immer noch nicht den wissenschaftlichen Erkenntnisstand abbildet. Viele Bürgerinnen und Bürger haben deshalb falsche Vorstellungen über das mit dem Virus verbundene Ansteckungspotential. „Draußen ist es gefährlich“, so deren Eindruck nicht zuletzt aus der Berichterstattung über die von der Politik getroffenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. 

Es werden Treffen in Parks verboten, Rhein- und Mainufer gesperrt, Innenstädte und Ausflugsziele für den Publikumsverkehr abgeriegelt. Auch die aktuell diskutierten Ausgangssperren müssen in diese Aufzählung irreführender Kommunikation aufgenommen werden.

Offener Brief von Aerosolforschern an die Politik

Länder haben sich selbst entmachtet

Nun wurden diese von Wissenschaftlern als Beispiel für eine „irreführende Kommunikation“ angeführten Ausgangssperren also beschlossen. In den Medien wird die Selbstentmachtung der Bundesländer größtenteils mit Zustimmung aufgenommen. Da die Länder nicht in der Lage gewesen seien, sich zu einigen, wäre es gut, dass der Bund eingreift, heißt es da.

So wird das Ressentiment von der sich ewigen streitenden Quasselbude, in der es zu keiner Einigung kommt, bedient, das zu einer rechten Parlaments- und Institutskritik gehört. Auch manche Politiker wie der hessische Ministerpräsident äußern verfassungsrechtliche Bedenken am neuen Gesetz, um dann doch zuzustimmen.

Bouffier bestreitet, dass die Bundesländer entmachtet wurden, weil die ja ihrer Entmachtung selbst zugestimmt haben. Zumindest die teilweise irrationalen Kritiker, die das Infektionsschutzgesetz historisch falsch „Ermächtigungsgesetz“ nennen, werden damit nicht widerlegt. Denn bis auf die SPD und die aus dem Reichstag damals schon ausgeschlossene KPD hatten alle anderen Parteien 1933 dem Ermächtigungsgesetz, das den Nationalsozialisten Handlungsfreiheit gab, freiwillig zugestimmt.

Das Wort vom „Ermächtigungsgesetz“ kursierte auch unter den Demonstranten, die am vergangenen Mittwoch rund um das Berliner Regierungsviertel demonstrierten. Dazu wurde bundesweit mobilisiert. Bis zum Mittag beteiligten sich nach Polizeiangaben ca. 8.000 Menschen, was für einen Protest an einem Wochentag nicht wenig ist. Es ist aber den Organisatoren nicht gelungen, das Protestspektrum noch mal auszuweiten.

Von der Polizei eher gemaßregelt als geschont

Die oft von Linken beklagte Vorzugsbehandlung für die Demonstrationen der Corona-Maßnahmen-Gegner lassen sich für die Proteste rund um den Reichstag nicht bestätigen. Die Polizei löste bereits gegen Mittag mehrere angemeldete Kundgebungen mit der Begründung auf, dass die Hygieneregeln nicht eingehalten würden. Auch einer der Anmelder und Hauptredner, ein ehemaliger AfD-Politiker aus Baden-Württemberg, wurde kurzzeitig festgenommen.

Am Nachmittag hatte sich dann der Kreis der Protestteilnehmer reduziert. Um 16 Uhr war vor dem Sitz des Bundespräsidenten eine Kundgebung angemeldet. Mehrere Redner wollten die Anwesenden darauf einschwören, doch Abstand zu wahren und Masken aufzusetzen. Zumindest mit dem Abstand schien es nach ca. zehnminütigen Versuchen einigermaßen zu klappen.

Das Ganze hat dann eine leicht humoristische Note bekommen, als einige begannen, die Abstände mit dem Zollstock auszumessen. Das erinnerte an den Beginn der sogenannten „Hygiene“-Demonstrationen, als mit Zollstock und Grundgesetz vor der Berliner Volksbühne demonstriert wurde.

Trotzdem löste einer der Veranstalter dann am 21. April die Kundgebung vor dem Bundespräsidentenamt mit der Begründung auf, dass die Polizei sonst eingreifen würde. Ob das stimmte – Polizei war in diesem Augenblick wenig zu sehen – muss offen bleiben. Mit der Auflösung war es der Polizei möglich, den Platz zügig zu räumen. Den zu diesem Zeitpunkt ca. 1.000 Menschen blieb nur noch die Möglichkeit, sich Richtung S-Bahnhof Bellevue zu entfernen.

Dort standen einige Antifa-Aktivisten, die vor den „verschwörungsideologischen“ Kundgebungen im Regierungsviertel warnten. Angebrachter wäre es, von Irrationalismus statt von Verschwörungstheorie zu sprechen.

Hipster waren wohl nicht

Tatsächlich fand man als Beobachter der Proteste bestätigt, was Gerhard Hanloser auf verschiedenen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen im letzten Jahr beobachtet hatte. Auch am 21. April waren Hipster bei den Protesten nicht zu sehen, wie Hanloser schon im letzten Jahr konstatierte. Eher waren Menschen vertreten, die für sich wohl das Adjektiv „stinknormal“ akzeptieren würden.

Wie im letzten Jahr waren Deutschlandfahnen neben Friedenstauben und Regenbogenfahnen zu sehen. Die Träger einer Reichskriegsfahne mussten auf Druck der Polizei den Aufzug verlassen. Ein Großteil der Teilnehmenden ignorierte die unterschiedlichen Fahnen als auch die Polizeimaßnahmen. Auch die zahlreichen Vertreter esoterischer oder rechter Kleinstgruppen, die wahlweise Bücher ihrer Gurus oder Pamphlete für eine Verfassungsgebende Versammlung in Deutschland anboten, wurden eher mit Nichtbeachtung bedacht, aber auch nicht weggeschickt.

Insofern kann der Aufmarsch als „rechtsoffen“ bezeichnet werden. Rechte konnten dort agieren, allerdings nicht wie ein Fisch im Wasser, sondern eher wie Sektenprediger. Das ist der Unterschied zu großen Demonstrationen der Friedensbewegung beispielsweise, die mehrheitlich nicht links, aber als „linksoffen“ bezeichnet werden konnten. Dort verteilten auch Vertreter verschiedener linker Kleingruppen ihre Traktate, wurden ebenfalls meistens ignoriert, jedoch auch toleriert.

Immer mal wieder wurde am 21. April das Deutschlandlied angestimmt, was die nationale Rahmung der Aktion deutlich machte. Dass sich eine Gruppe von Menschen recht lautstark über ein Video ausließ, das angeblich zeigt, dass Bundeskanzlerin Merkel kommunistische Einflussagentin sei und von Honecker in Chile am Sterbebett Instruktionen erhalten haben soll, ist auch ein Beispiel dieses irrationalen Denkens.

Die Leute glauben nur den Lügen, der „eigenen“ Medien

Während fast alle offiziellen Medien unter die Kategorie „Lügenpresse“ fallen, glaubt man alles, wenn es nur von „eigenen“ Medien verbreitet wird. So gab es viele junge Youtuber auf der Veranstaltung. Manche scheinen schon bekannt und wurden von einigen Demonstranten freundlich begrüßt. So viel Sympathie können die als Systemmedien etikettierten Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen nicht erwarten.

In jüngster Zeit häuften sich die Meldungen von Angriffen auf Medienvertreter bei Demonstrationen der Corona-Maßnahme-Gegner. Das konnte ich in Berlin nicht beobachten.

Generell aber hat ein Großteil der Demonstranten kein Vertrauen in die staatsnahen Medien und handelt nach dem Grundsatz, selbst Medien zu machen. Es war auch bei den globalisierungskritischen Protesten eine Parole der Bewegung, nicht mehr auf die etablierten Zeitungen und Sender zu vertrauen, sondern selber Medien zu machen, das führte beispielsweise zur Gründung des globalen Indymedia-Netzwerk.

Damals wurden auch auf linksoffenen Demonstrationen Vertreter von staatsnahen Medien nicht gerade freundlich begrüßt und die Parole „Kameramann Arschloch“ ließ auch manche linke Fotografen schlucken. Nicht die Medienkritik, sondern die Inhalte sind der Unterschied zu denen, die heute auf Systemmedien schimpfen. Sie monieren, dass dort heute angeblich deutsche Interessen nicht mehr vertreten würden.

Auf linken bzw. linksoffenen Aktionen wurde hingegen kritisiert, dass die Medien gegen Geflüchtete, gegen selbstorganisierte Kämpfe etc. stehen. Für die Linken war der Staat in einer differenzierten Sicht ein Organ der herrschenden Gewalten und die Medien nach dieser Lesart mehr oder weniger angeschlossen. Viele Teilnehmer von rechtsoffenen Veranstaltungen heute sehen den Staat und auch die „Systemmedien“ in den Händen von rot-grünen Cliquen.

Kaum linksoffene Proteste gegen Ausgangssperren

Hier liegen natürlich grundlegende Unterschiede, die erklären, dass es auch bei Protesten gegen ein verfassungsrechtlich sehr umstrittenes Gesetz kaum linke Beteiligung an den Protesten gab, nur die Freie Linke zeigte auch in Berlin vereinzelt Flagge. Weniger einsichtig ist, dass es bisher in Berlin kaum linksoffene Proteste gegen die Gesetzesverschärfungen gab.

Das könnte sich ändern, wenn auch dort die Ausgangsbeschränkungen in Kraft treten. In den letzten Wochen gab es in Hamburg, Hannover, Stuttgart und verschiedenen NRW-Städten linke Proteste gegen die Ausgangssperren. Sie richteten sich dagegen, dass bisher Fabriken auch in der Pandemie offen bleiben, während das Freizeitverhalten weitgehend eingeschränkt wird. Peter Nowak