Könnte die Corona-Pandemie dazu führen, dass in Zukunft Care-Arbeiterinnen und Kassiererinnen die Bedeutung bekommen, die einst Stahl- oder Automobilarbeiter hatten?

Systemrelevant, aber schlecht bezahlt

Wie berechtigt solche Forderungen sind, zeigt eine Studie der Rosa Luxemburg Stiftung unter dem Titel "Systemrelevante Berufe". Dort beschäftigt sich der Sozialwissenschaftler Philipp Tolios mit der sozialstrukturellen Struktur der nun als systemrelevant erkannten Berufe.

Manche werden sich noch erinnern, dass zu Beginn des ersten Corona-Lockdown aus den Fenstern und von den Balkonen immer am frühen Abend den Menschen applaudiert wurde, die das System am Laufen hielten. Das waren nicht die Automobilbauer, oder die Kohlearbeiter, sondern die Kassiererinnen, die Putzleute und die Pflegekräfte, um nur einige der Berufe zu nennen, die damals als diejenigen erkannt wurden, die „den Laden am Laufen halten“, wie es in einer Anzeige des Bundesverbands der Zeitungsverleger und Digitalpublisher hieß. Viele, der plötzlich als systemrelevant Erkannten erklärten bereits damals, dass sie auf den Applaus gerne verzichten können. Bessere Bezahlung oder bessere Arbeitsbedingungen wären ihnen aber willkommen. Verschiedene Petitionen nahmen diesen Gedanken auf und forderten, eine bessere Bezahlung und die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Leider sind diese Bemühungen schnell verpufft. Wie berechtigt sie waren, zeigt eine …

…  Studie der Rosa Luxemburg Stiftung unter dem Titel „Systemrelevante Berufe“. Dort beschäftigt sich der Sozialwissenschaftler Philipp Tolios mit der sozialstrukturellen Struktur der nun als systemrelevant erkannten Berufe.

In der Einkommenshierarchie in der unteren Hälfte

Tolios stellte fest, dass die meisten sogenannten Systemrelevanten in der Lohn- und Einkommenshierarchie in der unteren Hälfte, oft sogar am unteren Ende stehen. Als Beispiel werden die Reinigungsberufe genannt, ohne die beispielsweise ein Krankenhaus nicht betrieben werden kann. Ganz konkret kann man da den jahrelangen Arbeitskampf der CFM-Beschäftigten bei der Berliner Charité nennen. Problematisiert wird in der Studie auch der Begriff der „systemrelevanten Berufe“.

„Wenn dabei der schillernde Begriff ’systemrelevante Berufe‘ durch einen besseren ersetzt wird, der die Menschen dazu bringt, mit Stolz und Selbstbewusstsein diesen Tätigkeiten nachzugehen – dann wäre für die klassenpolitischen Auseinandersetzungen in und nach der Pandemiezeit noch mehr gewonnen“, schreiben Florian Weis und Horst Kahrs von der Rosa Luxemburg Stiftung. 

Zudem hat diese Debatte auch eine geschlechtspolitische Komponente. Schließlich gehören zu den als systemrelevant erkannten Berufen viele Tätigkeiten, die mehrheitlich von Frauen ausgeübt werden. So etwa im gesamten Bereich der Pflege- und Erziehungsarbeit, aber auch im Einzelhandel. Diese Tätigkeiten sind nicht nur schlechter bezahlt, sondern wurden gesellschaftlich lange Zeit gegenüber den klassisch fordistischen Arbeitsverhältnissen abgewertet.

Das zeigte sich, als vor fast 10 Jahren die Schlecker-Filialen bundesweit schlossen und die Interessen der dort Beschäftigten, mehrheitlich Frauen, längst nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht wurden wie die der überwiegend männlichen Opel-Arbeiter, die zeitgleich ebenfalls um ihre Arbeitsplätze kämpften.

Feministischer Lockdown

Die Initiative Feministischer Lockdown befasst sich mit den geschlechtspolitischen Implikationen der Corona-Pandemie und dem Lockdown. Die Sozialwissenschafterin Tove Soiland, eine der Organisatorinnen des feministischen Lockdown, äußerst sich kritisch zur Kampagne Zero Covid. In ihrem Beitrag hebt sie die Bedeutung der Carebranche hervor .

„In der Gesundheitswirtschaft sind es 7,5 Millionen, das ist jede sechste Arbeitnehmende. Hinzu kommen die Beschäftigen im Sozialwesen, in der Kleinkindererziehung, in den Schulen und im Einzelhandel. Diese personenbezogenen Dienstleistungen, also Dienstleistungen, die eine physische Präsenz erfordern, umfassen laut verschiedenen Berechnungen der Feministischen Ökonomie rund ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes.

Tove Soiland, Alle Räder stehen still

Daneben rechnet Soiland auch einen Teil der Nahrungsmittelproduktion, der Lebensmittelverarbeitung und der Landwirtschaft dem Bereich der Daseinsvorsorge zu. Daher vermutet die Sozialwissenschafterin, dass rund 50 Prozent der Beschäftigten in Branchen arbeiten, deren Stilllegung ein Kollaps der Versorgung der Bevölkerung bedeuten würde.

Sie fragt, was unter diesen Verhältnissen ein „solidarischer Lockdown“ bedeute. Aber vielleicht könnte man wie die Autoren der Studie auch fragen, ob nicht infolge der Corona-Pandemie in Zukunft diese Berufe gegenüber Automobil- und Kohlearbeitern tatsächlich eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren. 

Die muss sich nicht in 5 Minuten Klatschen ausdrücken, sondern in Kämpfen um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn. Tatsächlich haben in der letzten Zeit Arbeitskämpfe im Einzelhandel und im Carebereich zugenommen. (Peter Nowak)