Dieses Jahr haben die Jahresrückblicke coronabedingt schon früher begonnen. Seit einigen Tagen hört man in Radiosendungen Einschätzungen des Jahres 2020, die zwischen Zweckoptimismus nach dem Motto „Corona als Chance“ und Verwünschen („Albtraum 2020“) changieren. Dabei blitzt bei manchen die beginnende Impfkampagne als Hoffnung auf, dass vielleicht …
… bald doch wieder alles so werden könnte wie früher.
Weihnachtswunder Corona-Impfung
Nun ist das Timing der Impfkampagne sicherlich kein Zufall. Es wird als verspätetes Weihnachtswunder inszeniert und bestätigt damit natürlich ein konservatives Bild von Weihnachten als Fest der Geburt einer neuen Hoffnung. Dabei wird natürlich ausgeblendet, dass ganz viele Menschen, die in Deutschland leben, sich in dieser christlich konnotierten Erzählung nicht wiederfinden, weil sie andere religiöse Bindungen haben oder säkular leben und keine Bezüge zu religiösen Heilsvorstellungen haben.
Auch sie könnten nun trotzdem den Beginn der Impfkampagne goutieren, weil es sich hier um einen Triumpf der Wissenschaft handelt, der eben nur in die christliche Weihnachtserzählung eingefügt wird. Es sollte nicht vergessen werden, dass in der Regel fortschrittliche Regierungen Impfungen gegen religiöse Kräfte durchsetzen mussten, die sich massiv dagegenstellen. Das galt im nachrevolutionären Kuba ebenso wie im Nicaragua nach dem Sieg der Sandinisten, aber auch in vielen anderen Ländern.
Krankheiten nicht mehr als Schicksal oder gar als Strafe irgendwelcher Götter zu akzeptieren, sondern beispielsweise mit Impfungen zu bekämpfen, ist das gute Erbe einer emanzipatorischen Bewegung weltweit. Doch ist die Hoffnung, die mit einer erfolgreichen Impfkampagne verbunden ist, im Jahr 2020 überhaupt realistisch?
Schließlich fanden viele der erfolgreichen Impfkampagnen in einer Zeit des Optimismus statt, in der Menschen nach erfolgreichen Revolutionen den Aufbau einer neuen Gesellschaft in Angriff nahmen. Der Schutz vor heilbaren Krankheiten war da nur ein wichtiger Bestandteil für den Aufbau einer solidarischen Gesellschaft. Doch von einem solchen Aufbruch ist in unserer Gesellschaft nichts zu hören und zu sehen.
Untergang, Apokalypse, Notstand
Das Impfprogramm gegen Corona fällt vielmehr in eine Zeit, in der Begriffe wie „Untergang“, „Apokalypse“ und „Notstand“ längst zu den Vokabeln einer Protestbewegung gehören. Dieser Befund stammt aus einen in der Wochenzeitung Jungle World veröffentlichten Text der ideologiekritischen Gruppe Nevermore.
Sie hat mit ihrer Kritik der Ideologiefragmente von Teile der Umweltbewegung eine wichtige theoretische Arbeit geleistet, weil solche Untergangsvorstellungen zum Kitt für Ausbeutung und Herrschaft werden, wie die Autoren feststellen. Wenn die Welt eh untergeht, kämpft natürlich niemand mehr für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen im hier und heute. Die scheinbar übermächtige Aufgabe, den Weltuntergang abzuwehren, lässt alle anderen Fragen klein werden.
Erbe der Friedensbewegung
Das kritisierten bereits Ende der 1950er Jahre Gewerkschaftslinke wie Viktor Agartz an einer traditionskommunistischen Linken, die im Kampf gegen den Atomtod auch mit Nationalpazifisten zusammenarbeiten wollten und den Klassenkampf hintanstellten.
Das führte damals zum politischen Rückzug von Victor Agartz, der nicht zu klassenkämpferisch für den auf sozialpartnerschaftlich getrimmten Deutschen Gewerkschaftsbund, sondern auch für eine Traditionslinke war, die auf eine nationale Front gegen die Aufrüstung hoffte, die nie zustande kam, weil ein Großteil des westdeutschen Bürgertums in der Westorientierung eine Garantie ihrer Existenz gesehen hat.
Die Autoren der Gruppe Nevermore gehen auch auf diese Vorläufer des apokalyptischen Denkens ein:
Das Bild einer Menschheit, geeint vor dem Untergang, wurde in den Krisendiskursen der sozialen Bewegungen weitergetragen. Vom Irren, der die Erde per Knopfdruck atomar auslöschen kann, hat sich die Angst verschoben zu dem, der seine eigene Zukunft und die der Erde förmlich verbrennt und am CO2 erstickt. In diesen Szenarien verlieren sich die realen Unterschiede zwischen den Menschen, durch Ausbeutung und Herrschaft in einer abstrakten Menschheit. Die verheerenden Auswirkungen dieser Gesellschaft lasten freilich nicht auf dem Rücken des Menschen, sondern auf denen, die bereits jetzt im Dreck leben müssen.
Gruppe Nevermore, Jungle World
Zudem verorten die Autoren das apokalyptische Denken als notwendig falsches Bewusstsein im Kapitalismus:
Die spätmodernen Angstmetaphern des Untergangs entspringen der Realität der kapitalisierten Gesellschaft, für die der Einzelne nichts, die Akkumulation von Kapital dagegen alles ist. Nicht nur ist jeder Einzelne ersetzbar, sondern darüber hinaus ist ein wachsender Teil der Weltbevölkerung vom Standpunkt der Verwertung aus schlicht überflüssig. Nicht nur führt diese Gesellschaft einen Krieg gegen ihre eigenen Möglichkeiten – sie hat ein Destruktionspotential angehäuft, das alles Lebendige auslöschen könnte. Wo die gesellschaftliche Debatte sich jedoch von der Kritik an Herrschaft und Ausbeutung löst, ebnet sich der Horizont einer radikalen Veränderung ein. So erscheinen die falschen Verhältnisse als ewige Konstante, ihre „Probleme“ unumgänglich. Die reale Angst der Menschen vor der Gesellschaft, wie sie ist, und davor, wozu sie fähig ist, verschiebt sich auf den Menschen an sich, der zum Feind, zum Schädling wird.
Gruppe Nevermore, Jungle World
Wenn der Mensch zum Feind, zum Schädling wird
Gerade in der letzten Formulierung wird man natürlich an die Corona-Pandemie erinnert, wo potentiell jeder Mensch zum (Gesundheits)schädling wird. Die Angst, jemand anderen anzustecken, dominiert bei fast allen Debatten. Daher ist es auch bedauerlich, dass die Autoren des Texts die Verbindung zwischen dem apokalyptischen Denken der Klima- und Umweltbewegung und der Corona-Krise nicht ziehen.
Dabei wäre ja die Frage interessant, ob nicht das apokalyptische Denken, das in Teilen der Klimabewegung in den letzten Jahren hegemonial geworden ist, eine der Grundlagen dafür war, dass mit der Coronakrankheit so umgegangen wird, wie wir es jetzt erleben. Bereits vor einigen Monaten schrieb der Publizist Felix Klopotek:
Das Virus ist für große Teile intellektuellen Linken …… eine Ausrede für einen Konformismus, der sich bereits vor der Pandemie entwickelte und mit ihr nicht zum Abschluss kommt.
Felix Klopotek
Präziser kann man sagen, der Corona-Virus traf auf eine zutiefst pessimistische Gesellschaft, in der sich selbst politische Aktivisten eher das Aussterben der Menschheit als ein Ende des Kapitalismus vorstellten können. Da sind wir bei dem von Nevermore kritisierten apokalyptischen Denken in Teilen der Umweltbewegung.
Als ein Virus auf eine Welt in Aufruhr traf
Allerdings bleiben die Autoren des instruktiven Textes beim Rückblick auf die Umwelt- und Friedensbewegung der 1970er und 1980er Jahre stehen. Dabei hätte sich ein Blick zurück gelohnt, als vor mehr als 100 Jahren eine Epidemie grassierte, die heute als „Spanische Grippe“ bekannt ist, die aber, wie wir nun wissen, nicht in Spanien ihren Ursprung hatte.
In den letzten Monaten wurde in vielen Medien an diese Epidemie erinnert, die mit der Corona-Verbreitung verglichen werden kann. Unter dem Titel „Welt im Fieber“ ist dazu auch ein Buch erschienen. Doch in fast allen Medien wird ein Aspekt ausgeblendet, den ich bereits vor einigen Monaten erwähnt habe. Die Grippe-Epidemie vor mehr als 100 Jahren traf auf eine Welt in Aufruhr.
Nach der Oktoberrevolution gab es in vielen anderen Ländern Revolutionen, in Deutschland am 9. November 1918. Es gab in vielen europäischen Ländern kurzzeitig Räterepubliken, große Aufstände und Streiks und zahlreiche gut besuchte Veranstaltungen. Auf zeitgenössischen Fotos sieht man die Menschen dicht gedrängt auf Straßen, Plätzen oder in Fabrikhallen.
Statt Social Distancing gab es revolutionäre Aktivitäten. Auch in den internen Protokollen der verschiedenen, an den revolutionären Bewegungen beteiligten Gruppierungen haben Historiker kaum Hinweise auf die Epidemie gefunden. Im Gegensatz zum apokalyptischen Denken herrschte also in Teilen der Welt ein sehr optimistisches Denken. Die Menschen konnten sich nicht nur ein Ende des Kapitalismus vorstellen, sie waren sogar größtenteils der Überzeugung, daran mitzuarbeiten.
Das Wiedererwachen der alten Götter und der Neoliberalismus
Das pessimistische Denken, das bereits in den 1970er und 80er Jahren in Teilen der Friedens- und Umweltbewegung zu finden war, wurde nach 1990 in größeren Teilen hegemonial. Der Publizist Thomas Wagner beginnt sein Buch „Im Rücken die steinerne Last – Unternehmen Sisyfos“, das sich mit den Sisyfos-Romanen des Schriftstellers Erasmus Schöfer befasst, mit einen bezeichnenden Einstieg:
Wir schreiben das Jahr 1990. Das Jahr, in dem sich Deutschland gleich zweimal abschafft. Der Zusammenbruch des Sozialismus in der DDR, aber zugleich auch jenes sozialstaatlich eingehegten, „rheinischen“ Kapitalismus, dessen zumindest partiell eingelöstes Wohlstandsversprechen eines der wichtigsten Argumente des kapitalistischen Westens gegen den Sozialismus zu seien schien. Es folgten Sozialabbau, neue Kriege und weltumspannende Finanz- und Wirtschaftskrisen, die immer mehr Menschen wieder an erbarmungslose waltende Schicksalsmächte glauben machen. Mit dem Wiederwachen der alten Götter scheint eine Epoche des Fortschritts an ihr Ende gekommen zu sein.
Thomas Wagner, Im Rücken die steinerne Last
Dieser Zusammenhang zwischen Wirtschaftsliberalismus und pessimistischen sowie apokalyptischen Denken ist sehr plausibel erklärt. Er lässt befürchten, dass auch eine erfolgreiche Impfung wenig daran ändern wird. Es steht zu befürchten, dass neue Krankheiten und Umweltkrisen wie brennende Wälder irgendwo in der Welt, den Corona-Notstand ablösen könnten.
Diese Gefahr haben Sprecher der Gruppe Nevermore in einem Interview mit dem freien Radio Corax gut formuliert. „Der Schrecken vor dem Ende ist zum Schrecken ohne Ende geworden.“ Das würde sich erst dann ändern, wenn einträfe, was Nevermore am Ende ihres Textes in der Jungle World als Hoffnung formulieren:
Dass sich zukünftig andere Kräfte werden durchsetzen können. Kräfte, die mit der Angst nicht hantieren, sondern sie abschaffen wollen; die dem Spektakel des Untergangs und allen anderen Formen der Herrschaft des Menschen über den Menschen und die Natur den Garaus machen wollen.
Gruppe Nevermore
Das bedeutet, weniger philosophisch formuliert, das apokalyptische Denken würde dann geringer, wenn die Menschen erkennen, dass heute die technischen Voraussetzungen für ein schönes Leben für alle vorhanden sind. Es bedarf allerdings eines gemeinschaftlichen Agierens, um diesen Möglichkeiten zum Durchbruch zu verhelfen. Peter Nowak
https://www.heise.de/tp/features/Apokalypse-now-4995780.html