Viele Jahre haben Gewerkschaften und solidarische Gruppen wie die Initiative „Arbeitsunrecht“ auf die besonderen Ausbeutungsverhältnisse der vornehmlich migrantischen Beschäftigen bei der Fleischfabrik Tönnies hingewiesen. Nun beschäftigt sich die gesamte Republik damit, weil …..
…. bei vielen Beschäftigten der Corona-Virus festgestellt wurde. Die Initiative Arbeitsunrecht gehört zu den wenigen, die diesen kapitalistischen Verwertungszwang als eigentliches Problem erkannten.
Die Aktion gegen Arbeitsunrecht wundert sich nicht über die Corona-Fälle rund um den Tönnies-Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück. Im Gegenteil: Wir wundern uns darüber, wie es dem größten europäischen Schweineschlachter gelungen ist, solange ohne registrierte Corona-Fälle durch zu kommen. Wir fragen uns, warum die zuständigen Behörden nichts gegen die zu Grunde liegenden Vergehen unternehmen: illegale Arbeitnehmerüberlassung und Mietwucher. Armin Laschet traut sich offensichtlich nicht, dem Schalke 04-Boss und Schweine-Baron Clemens Tönnies den Kampf anzusagen.
Aus einer Erklärung der Aktion Arbeitsunrecht
Wichtig ist, dass in dem Text auch die rassistischen Spaltungslinien der Politik benannt werden, in dem der NRW-Ministerpräsident die nationale Herkunft vieler der Tönnies-Beschäftigten ansprach und nicht die Bedingungen, in denen sie in Deutschland wohnen und arbeiten müssen. Auch viele Medien, die nach dem Tod von George Floyd in den USA den Rassismus in Übersee entdeckt haben, verteidigten Laschet mit dem Argument aller rechten Tabubrecher: „Das muss erlaubt sein“.
Klar, solche rassistischen Anspielungen müssen erlaubt sein, wenn man sich Chancen auf den Vorsitz der Union machen will. Zudem weiß man auch in den Medien, dass solche Spaltungslinien notwendig sind, wenn man nicht über die kapitalistische Ausbeutung reden will.
Paternalismus statt Solidarität
Selbst den Arbeitern gegenüber eher wohlwollende Journalisten sparen nicht mit Paternalismus wie Silke Hellwig, die in einen Deutschlandfunk-Kommentar erklärt:
Es ist nicht der erste Schlachtbetrieb, in dem sich das Virus besonders schnell verbreiten konnte. In Schleswig-Holstein und Niedersachsen gab es ähnliche Fälle. Oft arbeiten Menschen aus Osteuropa in diesen Betrieben. Für diese Arbeit finden sich keine Inländer, nicht zu diesen Bedingungen: Die Mitarbeiter sind meist mit Werkverträgen bei Subunternehmen ausgestattet, die ihnen wenig Sicherheit bieten. Viele von ihnen leben in beengten Verhältnissen in Sammelunterkünften, weil sie sich nichts anderes leisten können und ihre Familien in der Heimat finanzieren. Das ist nicht die Klientel, die für ihre Rechte eintritt, vor dem Werkstor demonstriert oder gar streikt. Die Arbeit in Deutschland ist für diese Menschen trotz aller Widrigkeiten kostbar.
Silke Hellwig, Deutschlandfunk
Indirekt wird den migrantischen Beschäftigten unterstellt, sie würden nicht um ihre Rechte kämpfen, als hätte es nicht den jahrelangen Kampf rumänischer Bauarbeiter gegeben, die auf der Mall of Berlin um einen Teil ihres Lohns betrogen wurden und vor dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt im Oktober letzten Jahres verloren haben. Als die Bauarbeiter mit Unterstützung der Basisgewerkschaft FAU ihren Kampf um den ihnen zustehenden Lohn begannen, gab es in Rumänien auch in anderen Branchen viel Interesse an dem Fall.
Die Beschäftigten merkten, dass sie für ihre Rechte auch in Deutschland kämpfen können und dass sie Unterstützer bekommen. Als sich die Auseinandersetzung über Jahre hinzog, wuchs die Enttäuschung. Schließlich muss man sich das Beschreiten des Rechtswegs auch leisten können. Als dann das Bundesarbeitsgericht die Klage der Beschäftigten im Oktober 2019 abwies, war die Enttäuschung nicht nur bei den Klägern groß.
Den migrantischen Arbeitern wurde so sehr deutlich vermittelt, es sind die bestehenden Gesetze, die in letzter Instanz die Kapitalinteressen schützen und die Rechte der Arbeiter ignorieren. Trotzdem gab es erst vor wenigen Wochen migrantische Erntearbeiter, die wiederum mit Unterstützung der FAU einen Arbeitskampf für den ihnen zustehenden Lohn führten.
Es kann also keine Rede davon sein, dass sich migrantische Arbeitskräfte aus Osteuropa nicht für ihre Rechte einsetzen. Es muss aber konstatiert werden, dass die Gesetze in Deutschland und der EU diesen Kampf enorm erschweren.
Quarantäne als „Gefängnis im Alltag“
Ausbeuterische Wohn- und Arbeitsverhältnisse, die mit rassistischer Spaltung beantwortet werden, gibt es nicht nur bei Tönnies. In dem Berliner Stadtteil Neukölln durften die Bewohner eines Wohnblocks das Haus nicht verlassen, nachdem Ansteckungen mit dem Virus bei einigen Bewohnern festgestellt wurden Dabei ging es allerdings wie auch bei Tönnies nicht um Krankheitssymptome. Auch hier gab es von den Behörden rassistische Diskriminierungen, so der Vorwurf von Initiativen wie Amaro Foro.
„Ich glaube nicht, dass man sich getraut hätte, ein ganzes Haus mit ‚Deutschen‘ unter Quarantäne zu stellen“, sagte Milan Pavlovic vom Rroma Informations-Centrum (rroma-info-centrum.de) der taz. Ähnlich fragt Georgi Ivanov von Amaro Foro, einem Selbsthilfeverein von Roma und Nicht-Roma: „Warum stellt man nicht nur die positiv getesteten Haushalte unter Quarantäne? Warum spricht Stadtrat Falco Liecke öffentlich von Roma und rumänischer Nationalität, was hat das mit der Krankheit zu tun?“
Taz
Auch in Göttingen wurden Wohnhäuser von einkommensschwachen Menschen, manche mit migrantischen Hintergrund, unter Quarantäne gestellt und dann auch in den Medien markiert. Da stellt sich schon die Frage, ob solche Maßnahmen auch in den Viertel der Reichen und des Mittelstandes möglich wären. Wer testet dort, ob sich Menschen an dem Virus angesteckt haben?
Es geht nicht um konkrete Krankheitssymptome, sondern nur um die Ansteckung. Es scheint zu einem Kennzeichen der vielzitierten „neuen Normalität“ zu gehören, dass man Hunderte Menschen einen Teil ihrer Grundrechte beraubt und sie unter Quarantäne stellt, nur weil in der Nachbarschaft Menschen positiv auf den Coronavirus getestet wurden, selbst wenn es keine Krankheitsfälle gibt. Menschen, die sich der Quarantäne verweigern, können mit Zwangsmitteln am Verlassen ihrer Wohnungen gehindert werden oder sogar inhaftiert werden.
Wenn dann zynisch gesagt wird, die Menschen können ja den Hof der Häuser betreten, müssen sich die Betroffenen noch mehr wie im Gefängnis fühlen. Denn auch dort gehört der tägliche Hofgang zum Programm. Daher ist es sinnvoll, neben den wichtigen Kampf gegen rassistische Spaltungen und kapitalistische Ausbeutung auch die Corona-Maßnahmen weiterhin kritisch zu hinterfragen.
Gerade jetzt, wo ein Großteil der Menschen wieder an Demonstrationen teilnehmen kann und manche Partys den Eindruck erwecken, es hätte Corona nie gegeben, fällt auf, dass bestimmte Menschengruppen besonderen Freiheitseinschränkungen unterzogen werden.
Senioren klagen über massive Freiheitseinschränkungen
Die Freiheitseinschränkungen betreffen auch Senioren in Alten- und Pflegeheimen. So gibt es Berichte, dass Bewohner lieber auf Besuche von Freunden und Verwandten verzichten, als hinter einer Trennscheibe Platz zu nehmen. Ein Ehepaar in Schmalkalden in Thüringen hat mit einem Offenen Brief, in dem sie betonten, dass sie auch im Alter alle Rechte behalten, für Aufmerksamkeit gesorgt.
Auf die besonderen Einschränkungen, die Demenzkranke durch diese Corona-Maßnahmen erfahren, hat in der Wochenzeitung Freitag der Politikwissenschaftler Michael Spieker am Beispiel seiner Mutter aufmerksam gemacht.
Um es vorweg zu sagen: Der Autor dieser Zeilen hat ein persönliches Interesse. Es geht ihm um seine eigenen Rechte, aber ebenso um die seiner Mutter. Seit Monaten werden Würde und Rechte von über 600.000 Demenz-Erkrankten, die in Deutschlands Pflegeheimen leben, schwer beschädigt. Eingegriffen wird damit letztlich in die Würde aller. Für die Angehörigen wird es im Verlauf der Krankheit zunehmend schwerer, die Gemeinschaft mit dem erkrankten Geliebten aufrechtzuerhalten. Man kann nicht von den Tagesnachrichten sprechen, aber über lange Vergangenes. Bis zum Wiedererkennen dauert es immer länger, zuletzt geht dann das Sprechen nicht mehr. Doch kann man im Gesang oft noch verbunden sein, vor allem die Hände halten, den geliebten Menschen küssen. Dann lächelt der Geliebte manchmal, und es ist alles gut.
Michael Spieker, Wochenzeitung Freitag
Sowohl die mit weitgehenden Freiheitseinschränkungen verbundenen Quarantänemaßnahmen wie auch die Plexiglaswände in Alten- und Pflegeheimen zeigen, dass der Kampf um soziale Rechte und der Kampf gegen die Einschränkung der Grundrechte zusammengehören.
Diese Einschränkungen machen auch deutlich, dass mit dem Corona-Notstand im Alltag von Menschen Zonen geschaffen werden, die Verhältnisse schaffen, die denen in Gefängnissen ähneln: Wohnquartiere, in denen für die Bewohner für eine bestimmte Zeit der Hof der einzige Ausgang bedeutet, wenn es überhaupt einen gibt, gehören ebenso dazu wie die Trennscheibe in Alten- und Pflegeheimen.
In den letzten Wochen wurde den Kritikern der Corona-Maßnahmen oft vorgehalten, es handele sich um eine temporäre Maßnahme und jetzt seien ja fast alle Grundrechte wieder gewährleistet. Tatsächlich aber sieht man jetzt umso deutlicher die Zonen mitten in der Gesellschaft, in der diese Grundrechte eben nicht in vollem Umfang gelten. Die am Anfang der Corona-Krise vielbeschworene Solidarität wäre nun gerade mit jenen gefragt, deren Grundrechte weiterhin eingeschränkt sind. Peter Nowak
Der Autor hat gemeinsam mit Clemens Heni und Gerald Grüneklee das Buch „Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik“ im Critic-Verlag herausgegeben.