Die Umweltbewegung muss es schaffen, den Klimawandel in gesellschaftliche Zusammenhänge zu stellen. Sonst drohen weltweite Sondervollmachten und es profitieren kapitalistische Verwertungsinteressen

Zwischen Klimawandel und Gretamanie

Hier kommen wir zu den Problemen dieses bruchlosen Bezugs auf die Wissenschaft, den Thunberg mit vielen Klimaaktivisten teilt. Sie beziehen sich dabei auf Zahlen und chemische Formeln, die richtig oder falsch sein mögen, und vergessen, dass es die "reine Wissenschaft" nicht gibt. Wissenschaft und ihre Erkenntnisse werden immer von Menschen und Interessengruppen interpretiert und erklärt.

Die knapp 4-minütige Rede der Klimaaktivistin Greta Thunberg vor dem UN-Klimagipfel sorgte für die erwarteten Reaktionen. Ihre Anhänger und das grüne Milieu applaudierten ihr, ohne aber inhaltlich auf ihre Aussagen einzugehen. Die meisten Konservativen und auch die Ultrarechten spotteten oder versuchten wie der CDU-Politiker Friedrich Merz, Thunberg zu pathologisieren. Besonders drastisch ist die Einlassung des ehemaligen SZ-Karikaturisten Dieter Hanitzsch, der ….

….. jeglichen Einfluss des CO2 auf das Weltklima leugnet und Thunberg als „geistig gestörtes Kind“ diffamiert. Da will sich wohl einer als Klimaleugnerstreber profilieren.

Zuletzt war es um Hanitzsch ruhig geworden, nachdem er 2018 als Karikaturist von der Süddeutschen Zeitung entlassen worden war, weil eine seiner Karikaturen von vielen als antisemitisch empfunden wurde.

Darf man Thunbergs Rede als verstörend empfinden?

Doch es gibt auch unter den ökologisch Bewegten genügend Personen, die jede kritische Anmerkung an Thunbergs Auftritt als Sakrileg empfinden und die Jugendliche wie eine Heilige behandeln, die man nur andächtig zu bestaunen hat.

Da scheint sich mancher schon verdächtig zu machen, wenn er die kurze Rede als „verstörend“ bezeichnet. Nur ist das doch das beste Adjektiv, das man ihrem Auftritt geben kann. Die Rede sollte doch wohl im Sinne von Thunberg verstören und aufrütteln. Es geht auch völlig fehl, wer da in lobender oder scheltender Absicht Thunberg unterstellt, sie habe eben als Jugendliche ihre Emotionen gezeigt. Natürlich hat sie ihren Auftritt geplant, wie unschwer zu erkennen ist.

Die Dramaturgie bestand darin, dass sie mit einer Anklage begann und direkt die Anwesenden ansprach: „Wie könnt Ihr es wagen?“ Dem schloss sich ein sachlicher, aber sehr allgemeiner Teil an, in der sie sich zur Klimaproblematik äußert und mit einen Wort auch „Klimagerechtigkeit“ erwähnt, um dann wieder mit einer Anklage zu enden. Auffällig war, dass Thunberg, die sich auf die Wissenschaft bezog, keine wissenschaftliche Rede hielt und auch nicht halten wollte.

Sie agierte eher als eine Art Kassandra, als eine Figur, die besonders sensibel auf Einflüsse der Umwelt und Gesellschaft reagiert und den anderen den Spiegel vorhält. Da wird dann von mehr oder weniger Wohlmeinenden gleich eine Diagnose in die Diskussion gebracht, was völlig überflüssig ist.

Es gab in der Geschichte immer Menschen, die wir heute als Borderline-Personen bezeichnen, die Schwierigkeiten hatten, sich in die gesellschaftliche Ordnung einzufügen und die besonders sensibel auf das reagierten, was in den jeweiligen Gesellschaften schiefgelaufen ist. Sie sind in Erzählungen und Märchen, in der Literatur verewigt, dort werden sie von den jeweiligen Autoren aus unterschiedlichen Blickwinkeln dargestellt, oft mit religiös unterlegten Motiven.

„Outsider-Figuren“ nennt der Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe diese Menschen, die außerhalb der Gesellschaft stehen und dadurch besonders viel Sensibilität für Missstände, Fehlentwicklungen etc. entwickelt haben. Sie stehen damit oft im Gegensatz des Mainstreams der Gesellschaft ihrer Zeit und werden nicht selten verfolgt. Der Hass, der Thunberg hauptsächlich aus rechten Kreisen entgegenschlägt, der Versuch, sie zu infantilisieren und pathologisieren, ist die moderne Methode der Verfolgung von Borderline-Personen.

Die Zurückweisung solcher Angriffe ist richtig. Doch die Antwort sollte keine „Gretamanie“ sein, wo die Aktivistin quasi zur Heiligen erklärt wird. Auch das ist eine Form der Infantalisierung. Stattdessen wäre eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Reden angebracht. Das wäre auch die beste Methode, Thunberg ernst zu nehmen. Dabei fällt eben der Widerspruch auf, dass eine Frau, die sich so explizit auf die Wissenschaft bezieht, eine Rede hält, die das glatte Gegenteil eines wissenschaftlichen Auftritts ist.

Wissenschaft wird immer mit Emotionsfreiheit und Sachlichkeit verbunden. Der Typus der Physikerin Angelika Merkel passt da eher zum Begriff „wissenschaftlich“. Die kurze Begegnung der beiden so unterschiedlichen Personen bot dann den Medien auch Stoff für allerlei Überlegungen. Da ergibt sich natürlich die Frage, warum die Wissenschaftlerin Angelika Merkel nicht die größte Verteidigerin von Thunberg ist, die sich – wie viele ihrer Anhänger – auf die Wissenschaft bezieht.

Das Problem des Wissenschaftsbezugs

Hier kommen wir zu den Problemen dieses bruchlosen Bezugs auf die Wissenschaft, den Thunberg mit vielen Klimaaktivisten teilt. Sie beziehen sich dabei auf Zahlen und chemische Formeln, die richtig oder falsch sein mögen, und vergessen, dass es die „reine Wissenschaft“ nicht gibt. Wissenschaft und ihre Erkenntnisse werden immer von Menschen und Interessengruppen interpretiert und erklärt.

Nehmen wir den Fall Galilei, einen in der Kunst oft bearbeitenden Stoff des Konflikts zwischen einem Wissenschaftler, der nachweisen könnte, dass sich die Erde um die Sonne dreht, und seinem Gegner, dem damaligen Staatsapparat „Kirche“, der den umgekehrten Fall zur Wahrheit erklärte. Hinter dem Konflikt standen gesellschaftliche Interessen. Die Kirche wollte mit ihrem Weltbild ihre Macht aufrechterhalten, Galilei stand für das aufstrebende Bürgertum, das die Fernrohre und exakte Angaben über Sternenkonstellation und auch den Stand der Sonne für die europäische Seefahrt und den beginnenden Kolonialismus nutzen wollte.

So stehen hinter allen scheinbar rein wissenschaftlichen Fragen gesellschaftliche Interessen und Widersprüche. Mit dem reinen Bezug auf die Wissenschaft werden sie nur verkleistert.

Es waren Wissenschaftler, die bis in die 1980er Jahre fast unangefochten die Nutzung der Atomkraft, die sie Kernkraft nannten, als Segen für Mensch und Natur darstellten. Der Bremer Physiker Jens Scheer (nicht zu verwechseln mit dem umweltbewussten SPD-Politiker gleichen Nachnamens), hatte es zeitlebens schwer mit seinem klaren, wissenschaftlich begründeten Anti-AKW-Kurs.

99-Prozent-Ergebnisse, wenn es der guten Sache dient

Man kann zumindest für die 1970er Jahre sagen, dass die AKW-Befürworter in der Wissenschaft die Dominanz hatten. Man muss da nicht mit Zahlenspielen kommen. Da wird es schnell peinlich für beide Seiten.

So wollte die AfD in einer parlamentarischen Anfrage wissen, woher die Angaben kommen, dass 97 Prozent der Wissenschaftler den Klimawandel als von Menschen gemacht sehen. Die Antwort der Bundesregierung wird gemeinhin nur als Blamage der AfD interpretiert. Denn demnach würden 99,94 Prozent der Wissenschaftler den Klimawandel als von Menschen gemacht klassifizieren. 99,94 Prozent?

Passen solche Ergebnisse nicht eher zu nordkoreanischen ZK-Beschlüssen als zu einer Wissenschafts-Community, die von Streit und Dissens lebt? Solche Zahlen können nur zustande kommen, wenn alle abweichende Erkenntnisse als unwissenschaftlich bewertet werden. Man müsste dann aber sagen, dass aktuelle wissenschaftliche Paradigma geht zu fast 100 Prozent davon aus, dass der Klimawandel überwiegend von Menschen gemacht wird.

In ein solches Paradigma gehen aber nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse ein. Sie sind eine Grundlage für die Sicht auf die Welt. Und hier kommen wir wieder auf die gesellschaftliche Ebene. Die aber wird auch von großen Teilen der Klimabewegung noch weitgehend ausgespart. Das konnte man bei dem Auftritt von Thunberg in der UN gut sehen.

Sie machte in ihrer Rede keine Avancen an die Politiker, ließ sich auch nicht auf Kooperationsprojekte ein. Das dürfte vor allem die Realpolitiker aller Parteien verstört haben. Doch Thunbergs Auftritt war auch keine Absage an die Politik. Indem sie den anwesenden Politikern aller Ländern vorwarf, ihre Träume gestohlen zu haben, gab sie ihnen eine große Macht. Sie bestätigte sie in ihrer Rolle als die Mächtigen und klagte sie nur an, dass sie in dieser Position das in ihren Augen Richtige versäumen.

Die Träume und Utopien können die Mächtigen nicht stehlen

Darin liegt auch das größte Problem des Thunberg-Auftritts. Es liest sich wie eine Aufforderung an die Mächtigen, im Namen des Klimas jetzt mal durchzugreifen. Das ist genau die Stimmung, in der von Klimaaktivisten die Ausrufung des „Klimanotstands“ gefordert wird. Da wird nicht daran gedacht, dass man damit Politikern aller Couleur Sondervollmachten in die Hand gibt.

Vor mehr als 50 Jahren war die Bewegung gegen die Notstandsgesetze ein wichtiger Funke für den Aufbruch der damals alten mit der damals neuen außerparlamentarischen Opposition. Diese Ermächtigung der Mächtigen rührt daher, dass noch zu wenige die Klimakrise als Problem der Verwertungsinteressen des Kapitalismus erkennen. Es gibt viele Menschen nicht nur im globalen Süden, sondern auch in Deutschland, die gar nicht die Zeit haben, sich Sorgen um den Untergang der Welt machen, weil sie sich sorgen müssen, wie sie als Wohnungslose oder als prekär Beschäftigte überleben können.

Wenn es nicht gelingt, die Klimabewegung mit der sozialen Bewegung zu verbinden, wird der Klimanotstand als Drohung gegen die Ärmsten der Gesellschaft empfunden. Die Klammer, die diese und andere aktuellen Krisen verbinden könnte, ist aber eine Suche nach einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus. Es ist nun nicht so, dass es da nicht durchaus realpolitische Ansätze gibt.

Eine antikapitalistische Perspektive bedeutet nicht, das Warten auf den großen Kladderadatsch. Man braucht nur das kluge Interview des Wirtschaftsinformatikers Ludger Eversmann in der Septemberausgabe der Monatszeitschrift konkret zu lesen, um eine Fülle von Anregungen zu bekommen für eine antikapitalistische Klimapolitik.

Nur ein Beispiel: Eversmann setzt sich für kommunales Eigentum ein und kritisiert, dass die Stadt Hamburg dem Fahrdienstleister Uber gestattet, seine Dienste in der Hansestadt anzubieten. Uber gibt sich dabei ökologisch und bewirbt seine Dienste damit, dass er Autofahrer motivieren möchte, vom Privatauto auf Uber umzusteigen. Da setzt Eversmanns Kritik an:

Aber Uber ist eben ein Kapitalunternehmen, das langfristig gezwungen ist, seine Profite zu maximieren und Druck auf die Fahrer, die Kunden, die Konkurrenten auszuüben. Es wird also, sobald dies durchsetzbar ist, seine Preise erhöhen. Setzte sich jedoch die Stadt Hamburg diese Ziele – wie das andere europäische Städte schon ausprobieren- und vernetzte alle Verkehrsmittel via App miteinander und betriebe sie auf eigene, also kommunale Rechnung, würde der Zwang zur Renditemaximierung entfallen.

Ludger Eversmann, Konkret September 2019

Das ist nur eines von mehreren sehr konkreten Projekten, die der Wissenschaftler in dem Interview vorschlägt. Ähnlich könnte man für ganz viele andere Politikbereiche konkrete Forderungen formulieren, die eine antikapitalistische Grundausrichtung haben und die Klimakrise mit anderen sozialen Themen verbinden. Wäre das nicht etwas für die antikapitalistische Plattform bei Change for Future, über die man nach einigen Interviews wenig mehr gehört hat?

Eine Verbindung von Antikapitalismus und Ökologiebewegung und nicht „Gretamanie“ und der Ruf nach Klimanotstand mit Sondervollmachten wäre eine lohnende Aufgabe für eine Jugendumweltbewegung. Das würde deutlich machen, dass die Mächtigen der Welt nicht die Träume und Utopien geklaut haben.

Die Subalternen haben längst eigene Vorstellungen. Sie wollen nicht von Uber und Co. enteignet werden. Eine Borderline-Person wie Greta Thunberg kann aufrütteln. Die Vorstellungen für eine Änderung müssen aus den realen Kämpfen überall auf der Welt mit Unterstützung von progressiven Wissenschaftlern entwickelt werden. Wenn das gelingt, könnte das auch weltweit für eine ganz andere Welt mobilisieren, die nicht aus Angst vor dem Aussterben in Panik gerät und so sich selbst ganz in die Zwänge der Natur begibt.

Peter Nowak