Lina E. Ist verurteilt und vorerst auf freien Fuß. Das Antifa-Ost-Verfahren fordert auch zur Strategiedebatte im antifaschistischen Milieu heraus. Was genau ist radikal?

Urteile in Antifa-Prozess: Gewalt gegen Nazis – ein Reizthema

Antifaschismus radikal im Sinne von "an die Wurzel gehend" – und wann verkommen militante Aktionsformen zum Selbstzweck?

Seit Monaten hatten sich antifaschistische Gruppen auf den „Tag X“ vorbereitet – den Tag, an dem das Urteil im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren gefällt werden sollte. Am Mittwoch, dem 31. Mai, war es so weit. Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden hat Lina E. und drei weitere Angeklagte zu Freiheitsstrafen verurteilt. Zudem sprach es mehreren Geschädigten Schmerzensgeld sowie Schadensersatz zu. Einen Teil der Vorwürfe sah der Senat jedoch nicht als erwiesen an. Die Angeklagte Lina E. wurde …

… wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, mehrfacher gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung, Urkundenfälschung, Diebstahl und Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Allerdings saß die 28-Jährige bereits zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft und kam nach dem Urteil unter Auflagen frei.

Drei Mitangeklagte sind zu Haftstrafen zwischen drei und zwei Jahren verurteilt worden. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Verurteilten und ein noch flüchtiger Mann auf Grundlage eines „militanten Antifaschismus“ eine „auf die Begehung entsprechender Straftaten gerichtete Personenvereinigung“ gebildet hätten, um gegen Angehörige der rechten Szene vorzugehen.

Die Vereinigung hatte sich zum Ziel gesetzt, von ihr als Rechtsextremisten eingestufte Personen körperlich anzugreifen und erheblich zu verletzen, um die Angegriffenen wie auch andere Angehörige der ‚rechten Szene‘ von der Fortsetzung ihres Handelns abzuhalten.


Aus der Pressemitteilung des OLG Dresden

Das Oberlandesgericht hat mehrere der Angriffe aufgelistet, die den Verurteilten zugerechnet werden. Dabei trugen die Betroffenen erhebliche Verletzungen, teilweise mit Folgeschäden davon.

War das Urteil übermäßig hart?

Daher waren alle Beobachter von einer Verurteilung ausgegangen. Allerdings blieb das Gericht mit dem Strafmaß unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft, die für die Hauptangeklagte Lina E. eine achtjährige Haftstrafe gefordert hatte. Bei der Fülle der Vorwürfe und der Schwere der Verletzungen ist es schwer, das Strafmaß zu kritisieren.

Natürlich stimmt das vielfach vorgebrachte Argument, dass die Angegriffenen ausgewiesene Neonazis waren und somit einem gewaltaffinen Milieu angehörten, das seine Hassobjekte eben nicht danach auswählt, ob sie aktiv eine Auseinandersetzung suchen, sondern größtenteils nach rassistischen oder sozialdarwinistischen Kriterien.

Zwei der Geschädigten aus dem Antifa-Ost-Verfahren sind mittlerweile wegen Bildung einer terroristischen neonazistischen Vereinigung beziehungsweise Mitgliedschaft in einer solchen angeklagt und sitzen in Untersuchungshaft. Thorsten Mense spricht in einem Artikel in der Jungle World vom „Eisenach-Komplex“ und stellt dort auch einen Zusammenhang mit dem Antifa-Ost-Verfahren her.

Darüber hinaus kann man am Eisenach-Komplex im Antifa-Ost-Verfahren gut aufzeigen, dass es bei Auseinandersetzungen zwischen Antifaschist:innen und Neonazis in der Regel nicht darum geht, politische Meinungsverschiedenheiten mit Gewalt auszutragen, wie es auch in der Anklageschrift gegen Lina E. angedeutet wird. Sondern es geht darum, Nazis davon abzuhalten, das zu tun, was sie tun, wenn man sie nicht davon abhält: Menschen zu bedrohen, zu vertreiben, zu verprügeln oder gar zu töten, die in ihrer Vorstellung einer national befreiten Zone keinen Platz haben.


Thorsten Mense, Jungle World

Selbst, wenn man die Grundprämissen teilt, muss man sich fragen, ob es nicht hinter die Grundsätze des bürgerlichen Rechtsstaats zurückfällt, wenn ein Mann schwere Kopfverletzungen davonträgt, weil er die Mütze einer rechten Modemarke trägt. Zudem ist von vornherein klar, dass der bürgerliche Staat solche Delikte sanktioniert.

„Antifaschismus ist kein Verbrechen“

Kritikwürdig ist auf jeden Fall, das nicht nur konkrete Angriffe bestraft wurden, sondern auch noch das Konstrukt einer kriminellen Vereinigung herangezogen wurde. Hier haben die Solidaritätsgruppen recht mit ihrer Parole „Antifaschismus ist kein Verbrechen“. Statt konkreter Straftaten wie gefährliche Körperverletzung wird hier auch eine Gesinnung sanktioniert.

Ein häufiges Argument bei der Verurteilung linker Aktivisten ist der Vorwurf, die Justiz sei auf dem rechten Auge blind. Das ist im Grunde ein sehr bürgerliches Argument, weil es gar nicht infrage stellt, dass die Justiz aburteilen muss, es wird nur moniert, dass sie die Rechten nicht genau so hart oder noch härter bestraft wie die Linken.

Dieses Argument wird auch auf linken Demonstrationen gerne auf die Polizei verlängert, wenn dann Parolen wie „Wo wart Ihr in Rostock?“ skandiert werden. Die Stadt kann dann durch andere Namen von Orten mit rechten Gewalttaten ersetzt werden. Auch hier wird am Polizeieinsatz nur kritisiert, dass nicht auch Rechte eingekesselt wurden.

Historisch ist das Argument von der auf den rechten Auge blinden Justiz auf jeden Fall verifizierbar. Es gibt für die Weimarer Republik eine Studie des Mathematikers und Publizisten Ernst Gumbel, der nachwies, dass Linke von der Justiz wesentlich häufiger und härter verurteilt wurden als Rechte. Dieses Urteil kann man auch für viele Jahre der BRD übernehmen. Die Staatsapparate sind strukturell konservativ.

Trotzdem bleibt festzuhalten, dass in den letzten Jahren auch gegen rechtsmotivierte Straftaten, teilweise harte Haftstrafen verhängt werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass es nicht immer wieder gegenteilige Beispiele gibt. So wurden im September letzten Jahres zwei junge Neonazis zu Bewährungsstrafen verurteilt, die im thüringischen Frettersdorf zwei antifaschistische Rechercheure überfallen haben, ihnen die Kamera raubten und sie schwer verletzten.

Hier kann man auf jeden Fall Parallelen zu den Verletzungen bei den Aktionen sehen, die im Antifa-Ost-Verfahren zur Anklage kamen.

Wie glaubwürdig war der Kronzeuge?

Ein bedenkenswertes Argument, dass unter anderem in der taz geäußert wurde, lautet, dass es sich um einen Indizienprozess handelt, in dem letztlich nicht endgültig bewiesen wurde, ob die Angeklagten wirklich vor Ort waren. Bei zwei der Angeklagten, wurden Vorwürfe fallen gelassen, weil sie ein Alibi vorweisen konnten.

Doch ist damit bewiesen, dass sie für die anderen Taten verantwortlich sind? Es ist davon auszugehen, dass es Freisprüche gegeben hätte, wenn der Justiz nicht ein Kronzeuge zur Hilfe gekommen wäre. Es handelt sich um einen Beschuldigten, der in der linken Szene der sexuellen Gewalt bezichtigt wurde – und dann zum Kronzeugen. Seine Glaubwürdig wurde von der Verteidigung der Angeklagten angezweifelt.

Angeklagte vorübergehend auf freien Fuß

Teile der linken Szene wollen am Samstag in Leipzig gegen das Urteil protestieren. Schon werden in den Medien wilde Gerüchte über militante Aktionen verbreitet. Zur Deeskalation konnte beigetragen haben, dass das Gericht trotz der hohen Strafe die Hauptangeklagte aus der Untersuchungshaft entlassen hat, bis das Urteil rechtskräftig ist. Als Begründung wurde auch die lange Untersuchungshaft und die Vorverurteilung in Teilen der Medien genannt. Rechte Medien toben und sehen wieder den „Linksstaat“ in Aktion.

Für die antifaschistische Linke ist nun eine Strategiedebatte angesagt: Wann ist Antifaschismus radikal im Sinne von „an die Wurzel gehend“ – und wann verkommen militante Aktionsformen zum Selbstzweck?

Dazu gibt es schon gute Vorarbeiten – beispielsweise einen längeren Text der linken Leipziger Gruppe Kappa unter dem programmatischen Titel „Leipzig, die Repression wirkt, reden wir darüber!“ Dort geht es um die Wirkung von staatlicher Repression auf politisch aktive Menschen. Hier werden auch eigene Schwächen angesprochen. (Peter Nowak)