Initiativen haben sich das zur Aufgabe gemacht. Dazu müsste aber auch mit den Menschen diskutiert werden, die die Maßnahmen aus Selbstschutz verteidigen.

Kann man die Pandemie-Maßnahmen aufarbeiten?

In eine Debatte über die Coronajahre gehört daher unbedingt auch die kritische Auseinandersetzung nicht nur mit der staatlichen Corona-Politik, sondern auch mit den Reaktionen und Äußerungen der Kritikerinnen und Kritiker. Waren sie nicht zu schnell bereit, auf Schutzrechte zu verzichten, die andere Menschen, die diese Privilegien nicht haben, aber brauchten, um zu überleben?

Corona – war da mal was? Diesen Eindruck hat man in diesen Monaten. Die zwei Pandemiejahre scheinen so gründlich aus den öffentlichen Diskussionen verschwunden, dass man manchmal meint, sie hätten nie stattgefunden. Corona scheint wieder eine Biersorte zu sein, die in den letzten Jahren im Preis gestiegen ist. Nur manchmal noch kommen Meldungen, die zeigen: …

… Die Pandemiejahre haben doch tatsächlich stattgefunden.

Wo bleiben die Zwischentöne?

Aber es gibt Initiativen, die sich immer noch die Frage stellen, wie die Jahre der Pandemie die Gesellschaft geprägt haben.

Wie kann es gelingen, ein Diskussionsfeld zu öffnen, wo dem Gegenüber nicht gleich das Schlimmstmögliche unterstellt wird, sondern wo Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen einander wohlwollend begegnen, ohne Unterschiede einzuebnen?

Das sind einige Fragen, die die Initiative Mut zu Zwischentönen aufstellt. Eine der Referentinnen ist Elisabeth Voss, die schon in den Pandemiejahren Debatten gegen die linke Kritikunfähigkeit organisierte. Eine aktuelle Veranstaltung knüpft an diese Fragestellung an, heißt es dort.

Nach drei Jahren wurden die staatlichen Corona-Maßnahmen beendet, aber was in dieser Zeit geschehen ist, wirkt fort. So wie Maßnahmenkritiker*innen pauschal diffamiert wurden, geht es nun denen, die sich für den Frieden einsetzen. 

Statt einander zuzuhören und Argumente auszutauschen, wird Andersdenkenden abgesprochen, überhaupt Gesprächspartner*innen, geschweige denn potenziell Verbündete zu sein. 

Es gilt – mit wenigen Ausnahmen – nur noch Entweder-Oder, Freund oder Feind. Wo bleiben die Zwischentöne? Wie kann es gelingen, ein Diskussionsfeld zu öffnen, in dem nicht gleich dem Gegenüber das Schlimmstmögliche unterstellt wird, sondern wo Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen einander wohlwollend begegnen, ohne Unterschiede einzuebnen?

Ankündigung zur Veranstaltung „Nach Corona – die Spaltung überwinden“

Jedoch sollte man immer skeptisch sein, wenn propagiert wird, gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden. Vielleicht wäre es besser, anzuerkennen, dass die Gesellschaft im Spätkapitalismus gespalten ist und das liegt auch an unterschiedlichen Interessen.

„Mut zu Zwischentönen“ ist nicht die einzige Initiative, die weiterhin darüber diskutieren will, was in den Pandemiejahren mit der Gesellschaft und den Menschen geschehen ist.

Die Psychoanalytikerin Jeanette Fischer setzt sich in einem Interview mit der Wochenzeitung Freitag für eine Aufarbeitung der Jahre ein. Dabei hinterfragt sie auch das Schutznarrativ, das vor allem viele Linke dazu brachte, den Pandemie-Maßnahmen zuzustimmen:

Es machte mich sprachlos, dass ich instrumentalisiert wurde, indem man mir dieses Opfer-Etikett aufklebte, mit dem dann Schutzmaßnahmen legitimiert wurden. Das finde ich noch immer unerhört. Zumindest so wollte ich nicht geschützt werden.

Jeanette Fischer

Wer braucht den Schutz?

Allerdings drängt sich da gleich die Frage auf, ob das nicht eine Position ist, die man in einer relativ privilegierten Position leicht vertreten kann. Wer genug Geld und Platz hat, kann natürlich auf Schutz verzichten, den die Menschen, die beispielsweise in der Pandemie die Pakete oder das Essen ausfahren mussten, oft nicht hatten.

Diese Einwände werden nicht kleiner, wenn man liest, was Fischer auf die Frage sagte, ob die von ihr sehr hochgehaltene Eigenverantwortung nicht ein neoliberales Konzept ist.

Aus psychoanalytischer Sicht hat die Eigenverantwortung nichts mit diesem neoliberalen Freiheitsbegriff zu tun. Dieser geht nur ja von einem bindungslosen Individuum aus, als gäbe ein Ich oder Du. Für mich gibt es aber das Ich aber nur in Beziehung zu einem anderen.

Jeanette Fischer

Nun gibt es vor allem unter Lohnabhängigen und Geflüchteten Menschen, die erst einmal individuell auf sich allein gestellt sind. Ihnen helfen diese schönen Sätze wenig. Hier wäre auf jeden Fall die Kritik mitzubedenken, die Ernst Block in seinem Buch „Prinzip Hoffnung“ an Freud und seiner Psychoanalyse geäußert hat

Sie ist nicht ohne ihre klassenmäßige Verortung im Bürgertum im Wien vor über 130 Jahren zu denken. Freuds Klientel waren Menschen, die keinen unmittelbaren Hunger und keine unmittelbare Not mehr verspürten. Das ist nicht als Kritik an der Psychoanalyse gemeint, aber für deren soziale Einordnung.

Auch die Kritiker der Corona-Maßnahmen müssen sich kritische Fragen stellen

In eine Debatte über die Coronajahre gehört daher unbedingt auch die kritische Auseinandersetzung nicht nur mit der staatlichen Corona-Politik, sondern auch mit den Reaktionen und Äußerungen der Kritikerinnen und Kritiker. Waren sie nicht zu schnell bereit, auf Schutzrechte zu verzichten, die andere Menschen, die diese Privilegien nicht haben, aber brauchten, um zu überleben?

Diesen Vorwurf macht Frederic Valin in einem Beitrag im Neuen Deutschland, wo er begründet, warum er für strenge Pandemie-Maßnahmen eingetreten ist:

Meine medizinische Vorgeschichte hat mich nie sonderlich beeinträchtigt. Ich bin immunschwach. Ich hatte in der Vergangenheit bereits neurologische Ausfallerscheinungen. Aber die meiste Zeit meines Lebens war es mehr eine schattenhafte Bedrohung irgendwo in ferner Zukunft. 

Mit Corona wurde diese Bedrohung konkret. Ich habe fast zehn Jahre in der Pflege gearbeitet, und eines habe ich gelernt: Hilfebedürftigkeit wird in dieser Gesellschaft nur verziehen, wenn man Geld hat, und selbst dann bleibt sie Makel und Bürde. 

Das ist die direkte Konsequenz des Neoliberalismus: Die Kehrseite einer Ideologie persönlicher Freiheit ist die Unterstellung individueller Schuld am eigenen Schicksal.

Frederic Valin, Neues Deutschland

Für Valin ist auch mit dem Ende der Coronamaßnahmen die Pandemie nicht beendet.

„Wenn es keinen Schutz mehr gibt, müssen sich alle infizieren. Es fällt mir schwer, für diese Art der Politik ein anderes Wort als eugenisch zu finden. Was ist mit Leuten wie mir, für die eine Infektion keine Option ist, weil beispielsweise die Impfung nicht sauber anschlägt? Tja. Pech. Das Ende der Pandemie ist kein Ende der Gefährdung. Im Gegenteil: Das Ende der Maßnahmen heißt mehr Gefahr für Leute wie mich“, schreibt er.

Eine Aufarbeitung der Corona-Zeit kann nicht gelingen, wenn man nicht auch Stimmen von ihm und den vielen anderen Menschen hört, die nicht aus Staatstreue, sondern aus Angst um ihre Gesundheit und ihr Leben für strenge Pandemie-Maßnahmen eingetreten sind.

Es wäre doch viel gewonnen, wen es gelänge, mit die Kritik von Valin an einem neoliberalen Konzept der individuellen Schuld mit Jeannette Fischers Verzicht auf jeden Schutz zu konfrontieren. 

Da gibt es sicher erst einmal keine Einigung, weil hier auch völlig unterschiedliche Interessen aufeinanderprallen.

Können Long-Covid- und Post-Vac-Patienten zusammen diskutieren?

Es gibt auch sehr viele Menschen, für die die Pandemie auch gesundheitlich nicht zu Ende ist. Da gibt es die Menschen, die an Long Covid leiden, einem wissenschaftlich noch wenig erforschten Phänomen.

Und dann gibt es die Menschen, die infolge der Impfungen krank geworden sind, was auch noch wenig erforscht ist.

Wir haben hoffentlich die Zeit überwunden, wo man gesundheitliche Schäden durch Impfungen in den Bereich der Verschwörungstheorien verwiesen hat. Das war wissenschaftlich nie haltbar, weil schließlich bekannt ist, dass jede Impfung auch gesundheitliche Schäden verursachen kann.

Zu einer Aufarbeitung der Pandemiejahre würde gehören, die beiden Gruppen von Menschen, für die weiterhin die Pandemie nicht vorbei ist, nicht gegeneinander auszuspielen. Vielmehr wäre es sinnvoll, eine Konferenz machen, wo beide Gruppen ihre Ansprüche formulieren, an Gesundheit und Wohlbefinden. 

Dann würde sich wahrscheinlich schnell rausstellen, dass die Forderungen gar nicht so verschieden sind. Die Symptome sind schließlich bei Long-Covid und Post-Vac-Patienten sehr ähnlich.

Immer noch Anklagen gegen Corona-Maßnahmenkritiker

Und dann sollte nicht vergessen werden, dass auch die juristischen Folgen nicht vorbei sind. Noch immer gibt es die Anklage wegen Rechtsbeugung gegen einen Weimarer Familienrichter, der im April 2021 die Maskenpflicht in Schulen für verfassungswidrig erklärt hatte.

Man muss nun nicht mit dem politischen Hintergrund dieses Richters übereinstimmen. Aber man sollte sich dagegen wehren, dass ein Richter für eine Entscheidung wiederum juristisch belangt wird. Es gab schließlich in der Vergangenheit immer wieder Richterentscheidungen, die mindestens für Kopfschütteln sorgen. Sie wurden meistens von einer höheren Instanz aufgehoben.

Da muss man sich schon fragen, woher das besondere staatliche Verfolgungsinteresse gegen einen Richter herkommt, der eine Entscheidung traf, auf die er sich doch in einem bürgerlichen Staat eigentlich auf seine richterliche Freiheit berufen könnte.