Je mehr der globale Westen über die Zerstörung der regelbasierten Weltordnung klagt, desto schwächer wird er. Doch die Frage sollte sein: Wann ändert die Mehrheit der Menschen diese Weltordnung?

Gegen die Profiteure der internationalen Weltordnung und ihre Regeln

Der auf China spezialisierte Sozialaktivist Ralf Ruckus betont ganz klar, dass man bei der Kritik am chinesischen Regime nicht vergessen sollte, dass es nicht nur eine Spielart des Kapitalismus geht, das längst auch in den globalen Kapitalismus verwoben ist. Das bedeutet aber nicht, sich auf die Seite westlicher Regierungen zu stellen, die eben aktuell nicht mehr die Regeln dieser Weltordnung bestimmen. Dafür ist Ernst Lohoff ein negatives Beispiel, der es als langjähriges Mitglied der wertkritischen Krisis-Gruppe auch schon mal besser gewusst hat.

Die Phrase von der regelbasierten Weltordnung, die von China und Russland verletzt beziehungsweise missachtet werde, hat in letzter Zeit Hochkonjunktur. Kein Treffen von Politiker*innen des globalen Westens kommt ohne sie aus. Doch es ist kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche des globalen Westens. Denn die Staatsvertreter*innen und auch ein Teil der Bevölkerung merkt eben, dass die Welt heute nicht mehr nach ihren Regeln läuft.  Das kann man gut an den Staatenbündnis G7 sehen:  Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, das Vereinigte Königreich und die USA – sowie die Europäische Union mit G7-Beobachterstatus – das ist der globale Westen, der sich zu lange einbildete, er wäre …

….die Welt. Dabei waren vor allem kolonialistische Ausbeutung und Zwangsarbeit – im Falle Deutschlands auch die nationalsozialistische Raubpolitik – das Fundament seiner Macht. Doch die Welt hat sich verändert. Längst sind andere Staaten wie China und Indien ökonomisch potenter.

Wenn die ökonomische Macht schwindet, besinnt man sich auf „Werte“

Als die heutigen G7-Staaten die Regeln der Weltordnung bestimmten, redeten sie kaum darüber. Die Phrase von der regelbasierten Weltordnung hat erst Konjunktur, seitdem immer deutlicher wird, dass sie ihre Macht verlieren werden und die Regeln zumindest nicht mehr alleine bestimmen können. Das ist aber nicht verwunderlich. Das Lamento von den verletzten Regeln beginnt auch im Kleinen meistens dann, wenn sie infrage gestellt oder missachtet werden.

Wenn die Regeln hegemonial sind und kaum infrage gestellt werden, dann wird auch kaum darüber geredet. Das ist gerade das Wesen der Hegemonie, dass die Macht eben gar nicht infrage gestellt wird – dann wird auch nicht darüber geredet, sondern die Mächtigen herrschen einfach. Es ist eben ein Zeichen der Defensive, dass auf den G7-Treffen so viel über die verletzte regelbasierte Weltordnung lamentiert wurde.

Das zeigt, dass die Regeln eben nicht mehr nach ihrer Melodie funktionieren. Hier zeigt sich dann auch, dass die Ökonomie die Grundlage ist, auf der Macht und Einfluss von Staaten funktionieren. Und da führen die G7-Staaten längst nicht mehr. Deshalb wird auch so viel über Werte geredet, die angeblich universell sind – auch wenn westliche Staaten wie Deutschland hier in der Praxis erkennbar mit zweierlei Maß messen, etwa bei Energiepartnerschaften mit reaktionären Golfmonarchien als Alternative zur Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen.

Durch die Betonung ideeller Werte wollen Staaten ihre ökonomische Schwäche ausgleichen: Sie bilden sich ein, die ganze Welt zu sein, weil sie angeblich universelle Werte vertreten. Nur wissen auch die Politiker*innen und Funktionär*innen des Wertewestens, dass damit die ökonomische Schwäche nicht kompensiert werden kann. Daher versucht der Wertewesten seinen schrumpfenden Einfluss als guter Materialist nicht mit dem Beschwören von Werten, sondern durch Embargos und Wirtschaftskriege gegen die aufstrebenden Kontrahenten aufzuhalten.

Wenn westliche Werte wie eine Monstranz vor sich hergetragen werden

Das Beschwören von Werten ist dann nur die Begleitmusik, die vor allem für liberale Kreise in den Staaten des Wertewestens bestimmt ist. Dort sind es vor allem Teile der Kleinbourgeoisie und der intellektuellen Kreise, die westliche Werte wie eine Monstranz vor sich hertragen und schnell beleidigt sind, wenn jemand an die materiellen Grundlagen ihrer bisherigen Macht erinnert.

Die Stichworte lauten ursprüngliche Akkumulation, Kolonialismus und Ausbeutung von Arbeitskraft in aller Welt. Nur braucht man den Menschen der aufstrebenden Mächte China und Indien über Kolonialismus und westliche Ausbeutung nicht aus den Büchern zu erzählen. Diese Länder waren schließlich Opfer des Kolonialismus in einer Zeit, als die heutigen G7-Staaten natürlich auch in Konkurrenz zueinander die Regeln der Welt bestimmten.

Daher braucht sich der Wertewesten auch nicht zu wundern, wenn ihn Staaten des globalen Südens immer wieder an die Geschichte des Kolonialismus erinnern, also ihm die blutigen Grundlagen seiner Herrschaft immer wieder vor Augen führen. Dann bekommt die deutsche Außenministerin in Afrika schon mal zu hören, dass China Afrika nicht kolonisiert hat.

Russland dagegen genießt in verschiedenen afrikanischen Staaten immer noch Vertrauen, weil dort noch Erinnerung an eine Zeit lebendig ist, in der die Sowjetunion und Kuba einen wichtigen Beitrag zur Zerschlagung des südafrikanischen Apartheidsystems leisteten. Dieses System war mit dem heutigen Wertewesten eng verbandelt – und es war nicht die Beschwörung westlicher Werte, die die Apartheid besiegte, sondern die militärische Hilfe von Kuba für die Frontstaaten gegen Südafrika, die sich in den 1970er-Jahren vom Kolonialismus Portugals und Großbritannien befreit hatten. Auch ist in vielen Ländern des globalen Südens nicht vergessen, dass das südafrikanische Apartheidsystem stark war, als die Regeln des Wertewestens dominierten und das der Kolonialismus erst die materielle Grundlage schuf für den Aufstieg des Kapitalismus im globalen Norden. 

Kuba wird nicht verziehen, dass es die regelbasierte Weltordnung verletzt hat

Es war Kuba, dass die damalige regelbasierte Weltordnung verletzt hat, indem es nicht nur Waffen, sondern auch Soldaten für den Kampf gegen das südafrikanische Apartheidsystem stellte, dass bis dahin die dominierende militärische Macht im südlichen Afrika war. Auch damals schrie der Westen auf und warf Kuba vor, die Regeln zu verletzen. Das hat die kleine Insel bereits getan, als dort 1959 eine Revolution siegte, die von den Mächtigen in den USA mit allen Mitteln bekämpft wurde und die dann auch noch mit Hilfe der Sowjetunion, aber vor allem mit der Unterstützung großer Teile der Bevölkerung überlebte. Das hat der Wertewesten den Menschen auf Kuba nicht verziehen. Deswegen gibt es seit mehr als 60 Jahren eine Kampagne gegen die Insel und das USA-Embargo. Sie wird unter den Allzweckwaffen des Wertewestens Freiheit and Demokratie geführt. Klar ist, dass es auf Kuba viel Autoritarismus gibt und es eine linke Bewegung braucht, um diese Strukturen zu überwinden, ohne wieder vom Wertewesten vereinnahmt zu werden. Doch wenn heute Kuba auch in liberalen Medien besonders angegriffen wird – und nicht etwa die USA, die mit dem Embargo beständig Regeln der UNO verletzen, dann ist das Teil der Rache für die Revolution 1959, die die damalige wertebasierte Weltordnung verletzt hat. Das gilt auch für andere Staaten auf dem afrikanischen Kontinent, die sich entschieden haben, ihre Politik nicht nach den Interessen der USA auszurichten. 
 

Wenn die Subalternen ihre eigenen Regeln setzen

Kuba, Nicaragua und Venezuela sind Staaten, die zu verschiedenen Zeiten die Regeln des Wertewestens verletzt haben – und das war für deren Bevölkerung auf jeden Fall ein Gewinn. Das bedeutet allerdings nicht, sich heute bedingungslos hinter die Regierungen dieser Länder zu stellen.

Kritik an den autoritären innenpolitischen Entwicklungen in Nicaragua und Venezuela ist notwendig. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass die Staaten, die sich aktuell anschicken, die Regeln der Weltordnung zu bestimmen, wie Indien und China, ebenfalls Klassengesellschaften sind, die einen Großteil ihrer Einwohner ausbeuten und unterdrücken.

Widerstand dagegen ist notwendig und unterstützenswert. Wie der aussehen kann, zeigt das Video „China Bejing, I love You“ von Köken Ergun, das sich mit dem Widerstand gegen imperiale chinesische Projekte in Indonesien befasst und aktuell als Teil der Ausstellung „Indigo Waves and other stories“ im Berliner Gropiusbau zu sehen ist. Dort geht es auch um Widerstand von Arbeiter*innen gegen das von der chinesischen Regierung vorangetriebene Projekt der Seidenstraße. Ein solcher Widerstand von unten ist bei verschiedenen Projekten in der ganzen Welt zu beobachten. Die Gründe reichten von schlechtem Lohn und Arbeitsbedingungen bis zu massiven Umweltschäden. Der auf China spezialisierte Sozialaktivist Ralf Ruckus betont ganz klar, dass man bei der Kritik am chinesischen Regime nicht vergessen sollte, dass es nicht nur eine Spielart des Kapitalismus geht, das längst auch in den globalen Kapitalismus verwoben ist. 

Das bedeutet aber nicht, sich auf die Seite westlicher Regierungen zu stellen, die eben aktuell nicht mehr die Regeln dieser Weltordnung bestimmen. Dafür ist Ernst Lohoff ein negatives Beispiel, der es als langjähriges Mitglied der wertkritischen Krisis-Gruppe auch schon mal besser gewusst hat. In einem Beitrag in der Wochenzeitung Jungle World schreibt Lohoff über China, als wolle er eine zeitgemäße Version der Mär von der gelben Gefahr verbreiten. 

„Als Hort der chinesischen Konterrevolution will die chinesische Führung das Recht erkämpfen, überall in der Welt bestehende Freiheitsrechte gewaltsam zu liquidieren und den Friedhofsfrieden, den sie im eigenen Land durchgesetzt hat, überall in der Welt durchsetzen.“
Ernst Lohoff, Jungle World

Wenn man Lohoff ernst nimmt, ist China die große Weltgefahr, die überall, also auch in Deutschland, Freiheitsrechte gewaltsam liquidieren will. Das ist die Ideologie, mit der vor allem Linksliberale reif für die Weltordnungskriege gemacht werden. Da tönt Lohoff, als hätte er die alte Platte von der gelben Gefahr irgendwo im Keller wieder gefunden. 

Doch eine neue Welt ist nur möglich, wenn sich die Subalternen in aller Welt nicht in die Auseinandersetzung um die regelbasierte Weltordnung hineinziehen lassen. Nur dann kann erreicht werden, dass die Mehrheit der Bevölkerung aller Länder die Regeln der neuen Weltordnung bestimmt. In der Schlussszene des Films „Kuhle Wampe“ von Berthold Brecht fragen die jungen Arbeiter*innen: Wer verändert die Welt? Die, die ein Interesse daran haben, lautet die Antwort. So könnten wir die Fragen aktualisieren: Wer sollte die Regeln der internationalen Weltordnung bestimmen? Die Mehrheit der Menschen, die in dieser Welt leben? Das Klagen über die Verletzung der Regeln der internationalen Weltordnung sollten wir denen überlassen, die bisher davon profitiert haben.

Peter Nowak