„Den Rechten nicht die Strasse überlassen?“

Auswertungsdiskussion zu den Sozialprotesten gegen Inflation

Die bürgerliche Welt veranstaltete Salons zu schöngeistigen Themen. Dran knüpfen die regelmässigen Veranstaltungen von Berliner Erwerbslosenaktivist*innen an, doch sie widmen sich nicht schöngeistigen Themen, sondern Fragen von Protest und Widerstand.

Unter dem Titel „Heisser Herbst und kalter Winter“ ging es kürzlich um die Auswertung der Herbstproteste gegen Inflation und hohe Mieten und da standen die Begriffe als Metaphern. Den heissen Herbst erhofften sich verschiedene linke Bündnisse, die seit dem Spätsommer diese Proteste organisierten. Der kalte Winter stand für die Furcht, dass ohne russisches Gas die Wohnungen kalt bleiben. Beides ist  …

… weitgehend ausgeblieben. Die Herbstproteste blieben überschaubar, und Kälte mussten wie bisher einkommensarme Menschen erleiden, die sich entweder gar keine Wohnung leisten können oder denen Strom und Gas abgestellt wurde. 

Zur Diskussion kamen alle Protestbündnisse zusammen und versuchen sich an einer Auswertung der bisherigen Aktivitäten. Wenn man die Diskussionsunfähigkeit der Linken kennt war es schon ein Erfolg, dass man die unterschiedlichen Standpunkte austauschte, ohne gleich schreiend auseinanderzulaufen und sich gegenseitig die Verantwortung dafür zuzuschieben, dass die Proteste nicht stark geworden sind. 

An dem Podium teilgenommen haben Ines Schwerdtner von dem Bündnis „Genug ist genug“, Marcus Staiger vom Bündnis Heizung, Brot und Frieden, zwei Aktive der libertären Gruppe „Perspektive Selbstverwaltung“ und der langjährige Erwerbslosenaktivist Harald Rein. Er hat angelehnt an den linken Bestseller „Aufstand der Armen“ von Fox Piven Frances das Buch „Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen“ herausgegeben. Mit einen Informationsstand vertreten war die anarchistische Gruppe „Der Preis ist heiss“ die für einen antiautoritären Ausweg aus der Krise eintritt, wie ein dort Aktiver am Anfang kurz erklärte. 

Die unterschiedlichen Bündnisvertreter waren sich zumindest weitgehend einig, dass die Proteste auch deshalb klein geblieben sind, weil der Staat mit sozialen Massnahmen vor allen die Menschen ruhiggestellt hat, deren Arbeitskraft noch verwertbar ist. 

Warum sollen die Armen auf die Strasse gehen, wenn linke Bündnisse es für richtig halten? 

Die sogenannten Überflüssigen, die Armen, aber werden auch von linken Aufrufen nicht mehr erreicht. Dann wird von linken Bewegungsaktivisten oft gesagt, man müsse noch besser mobilisieren, noch verständlichere Aufrufe verteilen, um die Betroffenen zu erreichen. Dem stellte Harald Rein die provokative Frage entgegen, warum sollten die Armen dann auf die Strasse gehen, wenn linke Bewegungsaktivisten die Zeit für gegeben halten. Er erinnerte an die Proteste gegen Hartz IV vor fast 20 Jahre, die im Sommer 2004 begannen. Die Linke war noch in der Sommerpause und hatte die Agenturschluss erst für den Herbst vorbereitet.

„Den Rechten nicht die Strasse überlassen?“

Rein hinterfragte auch die Motive der unterschiedlichen Protestbündnisse für die Aufrufe, gegen Inflation auf die Strasse zu gehen. Da habe vor allem die Überlegung mitgespielt, dass man den Rechten nicht die Strasse überlassen dürfe und ihnen daher mit eigenen Aufrufen zuvorkommen müsse. Die Frage, wie man mit den Rechten umgehend soll, war auch bei der Veranstaltung immer wieder ein Thema. So sagte ein Mann aus dem Publikum dass der heisse Herbst zumindest in Ostdeutschland nicht ausgefallen sei und dort vor allem in kleineren Städten Tausende auf die Strasse gegangen seien. Dabei aber blendete er aus, dass diese Treffen so spontan nicht waren. 

Schliesslich haben sie sic nicht selten über rechtsoffenen oder offen rechten Telegramkanälen mobilisiert. Und warum sollen sie unter Sozialproteste subsumiert werden? Waren es nicht vielmehr nationalistische Proteste für den Standort Deutschland, wie der Journalist und Gewerkschaftler Stefan Dietl in der Jungle World schreibt. Darüber hätte sich eine ausführlichere Diskussion ebenso gelohnt, wie über die Frage, ob die Angst vor der Inflation vor allen arme Menschen überhaupt so stark mobilisiert. 

Harald Rein erinnert daran, dass arme Menschen Überlebensstrategien im Alltag entwickelt haben, die durchaus nicht im Rahmen der bürgerlichen Legalität bleiben. Das reicht von sogenannten illegalen Beschäftigungsverhältnissen bis zu Formen der Aneignung, die ein Mann aus dem Publikum so formulierte. Er habe einen Freund mit wenig Geld einen Flyer zu Protesten gegen hohe Inflation in die Hand gedrückt. Der habe gefragt, was das mit ihm zu tun habe. Auf die Gegenfrage, ob er die Inflation nicht spüre, wenn er einkaufen geht, verneinte er. 

„Nein ich klaue Sachen, die zu teuer sind“. Diese Überlebensstrategie von Armen im Kapitalismus korrespondiert mit der Kampagne „Wir zahlen nicht“, die Aktiven von Perspektive Selbstverwaltung vorstellen. Dabei geht es um ein kollektives öffentliches Bekenntnis, Strom und Gas nicht mehr zu bezahlen, weil sie zu den Grundbedürfnissen zählen. Die Strategie der organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter besteht hingegen darin, ihre Arbeitskraft so teuer wie möglich zu verkaufen. Das bedeutet, dass der Lohnzuwachs zumindest nicht niedriger als die Inflationsrate sein sollte. Darum geht es im Kern bei den aktuellen Tarifrunden verschiedener Branchen. 

Die Gewerkschaften fordern zweistellige Lohnerhöhungen, das Kapital will das verhindern. Es könnte daher dieses Mal zu Arbeitskämpfen kommen, die Warnstreiks der letzten Tage sind da ein Vorgeschmack. Iris Schwerdtner von Genug ist Genug sieht in diesen Tarifkämpfen die Fortsetzung der Krisenproteste und ruft zu ausserbetrieblicher Unterstützung auf. Die kann sehr unterschiedlich aussehen. So haben sich Klimaaktivist*nneen mit den Streik des Flughafenpersonals solidarisiert, der einen ihrer Wunschträume wahrgemacht hat. Alle Flugzeuge mussten am Boden bleiben. Das machte auch wesentlich aus Kleinbürgertum stammenden Aktivisten der Klimabewegung deutlich, dass die immer wieder totgesagte Arbeiterklasse doch mehr Einfluss hat, als beispielsweise der Klimaaktivist denkt, der im Film „Der laute Frühling“ von Johanna Schellhagen sagt, er wisse nicht, warum die Arbeiter mehr zur Lösung der Klimakrise beitragen können, als die Beatlesfans.  

Für die Diskussion wäre interessant gewesen, die unterschiedlichen Aneignungskämpfe, vom individuellen Klauen über das kollektive „Wir zahlen nicht“ bis zum Arbeitskampf um mehr Lohn zu diskutieren und zu fragen, wie die unterschiedlichen Bündnisse unterstützt werden können. Dass wären Themen für Diskussionen in kleiner Runde gewesen, die an die Auftaktdiskussion anknüpfen hätten können. So aber bleib es bei der Formulierung der gemeinsamem Formulierung der Probleme.

Wie hälst Du es mit der Friedensdemo am 25.2.?

Obwohl es bei der Diskussion um die Krisenproteste ging, konnte natürlich der Krieg in der Ukraine nicht ausgespart werden. Eine kleine Gruppe sprach sich im Publikum für die bedingungslose Solidarität mit der Ukraine aus. Von den Gruppe am Podium zog nur Heizung Brot und Frieden eine Verbindung zwischen dem Krieg in der Ukraine und der Inflation und Energiekrise. 

Ein Aktiver des Bündnisses „Der Preis ist heiss“ widersprach dem und nannte es die Lesart der Regierung, die kapitalistischen Krisenerscheinungen mit den Krieg in Russlands zu verbinden. Damit werde verschwiegen, dass Krise und Inflation zum Kapitalismus gehören. Auch dass wäre ein Thema für eine interessante Diskussion gewesen, ebenso die Fragt. ob der von der Taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann (propagierte Krisenkeynsianismus, für den sie Grossbritannien während des 2 Weltkriegs zum Vorbild nimmt), ein emanzipatorischer Ausweg aus der Krise sein kann, was ein Diskussionsteilnehmer vorschlug. 

Doch gestritten wurde eher über eine Kundgebung, die von dem Initiator*innen des Friedensmanifests um Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht für den kommenden Samstag am Brandenburger Tor in Berlin angemeldet wurde. Während Heizung, Brot und Frieden die Kundgebung unterstützt und Rechte raushalten wollen, sprachen sich Schwerdtner und die Aktiven von Genug dafür aus, die Aktion zu ignorieren. Aus dem Publikum aber kamen Aufrufe, für Gegendemonstrationen, weil die Abgrenzung nach Rechts vermisst wird. Tatsächlich steht diese Kundgebung in der Tradition der Deutschen Friedensbewegung der 1980er Jahre, bei der linke Kritiker wie Wolfgang Pohrt schon damals eine Abgrenzung nach Rechts vermissten. 

Die deutsche Brille wurde nicht abgesetzt

Auffällig war, dass bei der Diskussion niemand auf die Welle von Streiks und sozialen Kämpfen einging, die in den Nachbarländern von Frankreich über Grossbritannien bis nach Portugal aktuell stattfinden. Am Infostand von „Der Preis ist heiss“ gab es dazu zumindest Informationen. So zeige die Diskussionsveranstaltung auch den Stand der sehr unterschiedlichen linken Gruppen und ihre Probleme, bei den Krisenprotesten eine gesellschaftliche Kraft zu werden.

Peter Nowak