Kiezspaziergang zu den Blumenstraßenkrawallen vor 150 Jahren

Mietenproteste im Gefahrengebiet

Der Andreasplatz, in Berlin-Friedrichshain zwischen dem Ostbahnhof und dem Strausberger Platz gelegen, macht heute den Eindruck eines leicht ungepflegten Hundeauslaufplatzes. Nur ein neobarockes Denkmal fällt ins Auge.

Es handelt  sich um die Figurengruppe „Vater und Sohn“ von Wilhelm Haverkamp. Die Familiengruppe sollte den Platz laut Beschluss der Stadtverordnetenversammlung künstlerisch aufwerten. „Unübersehbar ist der Versuch (…) mit lieblichen Bildmotiven von der sozialen Lage des damaligen Proletariats abzulenken”, heißt es in einer  Informationstafel  des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg. Dort ist auch zu lesen, dass die Stralauer Vorstadt einschließlich des Schlesischen Bahnhofs (heute Ostbahnhof) vor 150 Jahren als …

… Rotlichtviertel galt und verrufen war. Was hier beschrieben wird, hört sich sehr aktuell an. Das Umfeld des Andreasplatzes galt vor 150 Jahren als Gefahrengebiet. Um unerwünschte, meist einkommensarme Nutzer/innen und Bewohner/innen zu verdrängen, sollte der Platz für ein bürgerliches Milieu attraktiv gemacht werden. Man könnte hier von einer früheren Form der Aufwertung und Verdrängung sprechen.

Zwangsräumung als Auslöser

Auffällig ist, dass auf der Informationstafel des Bezirksamts mit keinen Wort auf einen der frühesten bekannten Mietenproteste in Berlin eingegangen wird. Er hatte seinen Ausgangspunkt in unmittelbarer Nähe des Andreasplatzes in der Blumenstraße 51c. Dort sollte am 25. Juli 1872 der Tischler Ferdinand Hartstock aus seiner Wohnung zwangsgeräumt werden, nachdem ihm der Vermieter wegen einer angeblichen Untervermietung gekündigt hatte. Weil sich Hartstock mit einem Fuhrunternehmen nicht über die Transportkosten einigen konnte, blieben seine Möbel auf der Straße stehen. Immer mehr Menschen kamen zusammen und die Wut wuchs. Nachdem sich die Masse am ersten Tag zerstreut hatte, wurde unabhängig von den Ereignissen ganz in der Nähe eine besetzte Siedlung abgerissen, in der sich einkommensarme Menschen niedergelassen hatten, die in Berlin keine bezahlbare Bleibe finden konnten. Vor 150 Jahren war der Zustrom in die Metropole Berlin groß, die Verelendung großer Teile der Bevölkerung hatte im Zuge der Industrialisierung riesige Ausmaße angekommen. Gleichzeitig lebten die herrschenden Eliten in einer Parallelwelt der Reichen und Mächtigen. Bis heute  hält sich die Vermutung, dass die Hüttensiedlung auch abgerissen wurde, weil dem russischen Zar, dessen Besuch anstand, ein „sauberes Berlin“ gezeigt werden sollte. Die Menschen gingen nach der Räumung auf die Straße und schlugen Fenster ein. Das eine oder andere Symbol von Herrschaft und Ausbeutung ging in Flammen auf. Der Kaiser fürchtete, die Proteste könnten sich zu einer Revolution ausweiten und ließ Militär in Berlin einmarschieren. Das brauchte jedoch nicht eingesetzt werden, weil die Polizei ganze Arbeit leistete. 159 Demonstrant/innen wurden mit Säbelhieben verletzt, mehr als 80 Personen verhaftet und später teilweise zu langen Haftstrafen verurteilt. Lange Zeit waren die Blumenstraßenkrawalle vergessen. Erst als die neue Mietenbewegung in Berlin nach ihren historischen Vorgängern forschte, wurden auch die Blumenstraßenkrawalle wieder entdeckt.   Peter Nowak

Der Historiker Axel Weipert hat im MieterEcho 366/ April 2014 die Ereignisse ausführlich beschrieben. Zum 150ten Jahrestag organisierte die Bezirksgruppe Friedrichshain der Berliner Mietergemeinschaft am 24. Juli 2022 einen historischen Kiezspaziergang auf den Spuren der Blumenstraßenkrawalle. Unter den ca. 60 Teilnehmer/innen waren auch Bewohner/innen, die sich darüber informieren wollten, was vor 150 Jahren in ihrer Nachbarschaft passierte. Sie waren verwundert, dass an diesen gut dokumentieren Aufstand von Mieter/innen gegen ihre Entrechtung vor Ort nichts erinnert. Zum Abschluss des Kiezspaziergangs wurde dort eine provisorische Gedenktafel angebracht, die vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg fordert, eine dauerhafte Gedenktafel zur Erinnerung an die Blumenstraßenkrawalle anzubringen. Peter Nowak