Kiezspaziergang zu den Blumenstraßenkrawallen vor 150 Jahren

Mietenproteste im Gefahrengebiet

Der Andreasplatz, in Berlin-Friedrichshain zwischen dem Ostbahnhof und dem Strausberger Platz gelegen, macht heute den Eindruck eines leicht ungepflegten Hundeauslaufplatzes. Nur ein neobarockes Denkmal fällt ins Auge.

Es handelt  sich um die Figurengruppe „Vater und Sohn“ von Wilhelm Haverkamp. Die Familiengruppe sollte den Platz laut Beschluss der Stadtverordnetenversammlung künstlerisch aufwerten. „Unübersehbar ist der Versuch (…) mit lieblichen Bildmotiven von der sozialen Lage des damaligen Proletariats abzulenken”, heißt es in einer  Informationstafel  des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg. Dort ist auch zu lesen, dass die Stralauer Vorstadt einschließlich des Schlesischen Bahnhofs (heute Ostbahnhof) vor 150 Jahren als …

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Eine Geschichte der Berliner Mieter*innenbewegung

Mieterkämpfe – Bertz + Fischer

Berlin ist schon länger ein Ort für Mietrebellen. Darüber informiert ein im Verlag Bertz + Fischer erschienenes Buch, das der Politologe Philipp Mattern herausgegeen hat.

Der Erfolg der Mietendemonstration am 6. April in Berlin zeigte, dass es der parteiunabhängigen Bewegung von Mieterinnen und Mietern gelungen ist, Druck aufzubauen, auf den die politischen Parteien reagieren müssen. Doch Berlin ist schon länger ein Ort für Mietrebellen. Darüber informiert ein im Verlag Bertz + Fischer erschienenes Buch, das der Politologe Philipp Mattern herausgegeen hat. Er ist Redakteur der Zeitschrift Mieterecho. Dort veröffentlichte er Beiträge zur Historie der Berliner Mieterbewegung und merkte, dass das Thema genügend Material für ein Buch hergibt. Tatsächlich informieren die elf Kapitel kenntnisreich über die wenig bekannte Geschichte der….

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Alleinige, halbe oder gar keine Schuld?

In einem Band setzen sich Historiker mit dem Anteil Deutschlands am Ersten Weltkrieg auseinander

Warum noch ein Sammelband zum Ersten Weltkrieg, nachdem zum 100. Jahrestag eine Fülle von Publikationen erschienen ist? Diese Frage beantworten die Historiker Axel Weipert, Salvador Oberhaus, Detlef Nakath und Bernd Hüttner mit ihrem, dem Jubiläum zwar nachhinkenden, aber wichtigem Buch. Es behandelt drei Themen, die bisher in der Debatte eher ein stiefmütterliches Dasein fristeten. Einbezogen sind hier zudem Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern.

Der erste Teil des Bandes widmet sich der geschichtspolitischen Deutung des Ersten Weltkriegs. Bereits 2013 bemühten sich der britisch-australische Historiker Christopher Clark und der Berliner Politwissenschaftler Herfried Münkler, das Deutsche Reich von seiner besonderen Verantwortung für den Ausbruch des Weltkriegs freizusprechen. Besonders Münkler polemisierte heftig gegen den Historiker Fritz Fischer, der im wilhelminischen Deutschland den Hauptkriegstreiber gesehen hatte. Die These von der Alleinschuld Deutschlands wird im Band kontrovers diskutiert. Der in Hagen lehrende Geschichtswissenschaftler Wolfgang Kruse stellt die Debatte in einen aktuell-politischen Kontext: Wenn Deutschland angeblich an beiden Weltkriegen nicht Schuld gewesen sei, könne es heute »als eigentlich ganz normale Nation auch mit gutem Gewissen seine prosperierende Stellung in Deutschland und Europa genießen«.

Der Potsdamer Historiker Jürgen Angelow hingegen verteidigt Münkler und Clark. »Jede Innovation in die Forschung, jede Neubewertung der Darstellung, die mit einer Neubewertung der Forschung einhergeht, wird umstritten sein und auf den Widerstand älterer Auffassungen stoßen.« Gegen die besondere Verantwortung des Deutschen Reiches für den Kriegsausbruch argumentiert er mit Liebknecht, Luxemburg und Lenin, die davon ausgingen, dass sämtliche großen europäischen Staaten für die politische Situation verantwortlich waren, die in den Weltkrieg führte. Der Historiker schließlich sieht im Versuch, Deutschland von der Verantwortung für den Ersten Weltkrieg reinzuwaschen, »Argumentationshilfen für militärische Interventionen im Ausland«.

Im zweiten Teil des Buches setzen sich sieben Autorinnen und Autoren mit der Frage auseinander, welchen Anteil die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste Brutalisierung bei der Etablierung von Faschismus und Nationalsozialismus hatte. So bezeichnete der marxistische britische Historiker Eric Hobsbawn den Ersten Weltkrieg als »Maschine zur Brutalisierung der Welt«. Diese Formulierung wurde zum Buchtitel. Der spanische Historiker und Kulturwissenschaftler Angel Alcalde zeichnet die Debatte um die These des US-Historikers und Faschismusforschers George L. Mosses nach, der eine enge Verbindung zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Aufstieg der europäischen Rechten sah.

Im dritten Teil des Buches befassen sich elf Autoren mit dem Einfluss des Weltkriegs auf die Arbeiterbewegung und die politische Linke. Milos Bakovic Jadzic skizziert die Geschichte der serbischen Sozialdemokratie , die nicht wie die anderer Länder eine »Burgfriedenspolitik« betrieb. Ein weiteres Kapitel widmet sich den wenig erforschten Antikriegsprotesten slowenisch-sprachiger Frauen in Österreich-Ungarn; diese hielten über die gesamten Kriegsjahre an. Axel Weipert beklagt, dass die Aktivitäten der Rätebewegung in Deutschland und Österreich-Ungarn, die entscheidenden Anteil am Sturz der Monarchie hatten, in der Geschichtsschreibung lange Zeit kaum erwähnt wurden. Der Politwissenschaftler Malte Meyer schließlich untersucht die »Verpreußung« der Arbeiterbewegung in Deutschland. Damit rekurriert er auf einen Begriff, den der Sozialist 1937 im französischen Exil prägte. Die Verbreitung militaristischer Ideologie in den Kreisen von Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft ist auch bereits von Linken wie Rosa Luxemburg als Sozialmilitarismus heftig kritisiert worden. Meyer zählt allerdings auch Organisationen wie den KPD-nahen Rotfrontkämpferbund zu den Männerbünden mit militaristischer Attitüde.

Axel Weipert/Salvador Oberhaus/ Detlef Nakath/Bernd Hüttner (Hg.): Maschine zur Brutalisierung der Welt. Der Erste Weltkrieg – Deutungen und Haltungen 1914 bis heute. Dampfboot Verlag, 363 S., br., 35 €.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058025.alleinige-halbe-oder-gar-keine-schuld.html

Peter Nowak

Arbeit – Bewegung – Geschichte

Die Schweiz spielte keine unwichtige Rolle in der Geschichte der linken ArbeiterInnenbewegung. Die Zimmerwalder-Konferenz von 1915, zu der die sozialistischen GegnerInnen des 1. Weltkriegs zusammen kamen, ist ein bekanntes Beispiel. Kaum bekannt ist hingegen, dass die Schweiz vor über 40 Jahren auch eine wichtige Rolle in der europäischen Vernetzung der linken Betriebsintervention gespielt hat.

Anfang der 1970er Jahre wurde in Zürich ein internationales Koordinationsbüro für die länderübergreifende Unterstützung von Streiks und Arbeitskämpfe aufgebaut. Getragen wurde es von Gruppen der radikalen Linken, die durch den Aufbruch nach 1968 entstanden sind und sich weder der sozialdemokratischen noch der traditionskommunistischen Richtung zuordneten. Neben dem Pariser Mai 1968 war auch der italienische Herbst 1969 für diese Linke ein wichtiger Bezugspunkt. Denn in Italien beteiligten sich viele ArbeiterInnen im ganzen Land an Betriebsbesetzungen, Streiks und militanten Demonstrationen. Dort war der Funke des revolutionären Aufbruchs tatsächlich übergesprungen, von den Hochschulen auf die Fabriken. Linke AktivistInnen sowie kämpferische ArbeiterInnen aus vielen europäischen Ländern verfolgten die Entwicklung mit grossem Interesse. «In der historischen Forschung zu den Streikbewegungen und Arbeitskämpfen der 1960er und 1970er ist die internationale Zusammenarbeit von Strömungen und Gruppen, die sich an diesen Auseinandersetzungen in der Fabrik orientieren, noch wenig beachtet worden», schreibt der Berliner Historiker Dietmar Lange in der aktuellen Ausgabe von Arbeit – Bewegung – Geschichte, Zeitschrift für historische Studien.

Die Prophezeiung des heraufziehen den Postfordismus

Das Schwerpunktthema lautet «Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988». Dietmar Lange, der gemeinsam mit Fabian Bennewitz, Ralf Hoffrogge und Axel Weipert die Zeitschrift herausgibt, forscht seit längerem zur Geschichte der linken Betriebsinterventionen der 1960er und 1970er Jahre. Dabei hat er auch einen Bericht über eine Internationale ArbeiterInnenkonferenz im April 1973 ausgegraben, die in Paris stattgefunden hat. Sie wurde wesentlich von dem Zürcher Koordinationsbüro vorbereitet und widmete sich den Klassenauseinandersetzungen in der Automobilindustrie. Anwesend ArbeiterInnen aus den wichtigsten Automobilkonzernen wie BMW, VW, Fiat, Opel, Alfa Romeo, Renault und Citroen. Aus der Schweiz waren Beschäftigte von Saurier vertreten. Auch verschiedene Linke aus Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien nahmen an der Konferenz teil. Aus der Schweiz waren AktivistInnen der Gruppe Klassenkampf nach Paris gekommen, die sich aus einer maoistisch orientierten Jugendbewegung in der italienischen Schweiz entwickelt hatte und Anfang der 70er Jahre ihren Einfluss auf die deutschsprachige Schweiz ausdehnte. Mitte der 70er Jahre löste sich die Gruppe auf. In dieser Zeit war die linke Betriebsintervention in eine Krise geraten geraten
und auch das Zürcher Koordinierungsbüro stellte die Arbeit ein. Die Vorbereitung der Pariser Konferenz war ihre wichtigste Arbeit. «Nur kurze Zeit nach der Konferenz in Paris vollzog ein Grossteil der beteiligten Gruppen einen Richtungswechsel oder löste sich auf», schreibt Dietmar Lange. In einem Interview mit dem Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der damals an der linken Betriebsintervention beteiligt war, spürt Lange den Gründen für den schnellen Zusammenbruch der transnationalen Solidaritätsarbeit nach, der zu einem langen Abschied der linken Bewegung vom Proletariat führen sollte. Roth erinnert sich an warnende Stimmen auf der Konferenz, die berichteten, wie durch Konzernstrategien das Konzept des kämpferischen Massenarbeiters untergraben wurde. «Diese Prophezeiung des heraufziehenden Postfordismus stand als Menetekel an der Wand des Kongresses», so Roth. Er begründet auch, warum das Koordinierungsbüro, dass neben der Gruppe Klassenkampf auch von der Berner und St. Gallener Ortsgruppen der Proletarischen
Front getragen wurden, in der Schweiz errichtet wurde: «Die Standortwahl lag nicht nur aus geographischen Gründen nahe, sondern hatte mit der damals leider noch sehr seltenen Mehrsprachigkeit der schweizerischen Genossinnen und Genossen zu tun».
Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen
Das Koordinierungsbüro habe sich zum Ziel gesetzt, die Selbstorganisation der am meisten marginalisierten Sektoren der europäischen ArbeiterInnenklasse zu fördern. Das ist eine sehr aktuelle Zielsetzung. Schliesslich gibt es zurzeit eine linke Betriebsintervention bei Amazon. Es gab bereits mehrere Treffen von Beschäftigten von Amazon-Werken in Deutschland und Polen. Deshalb weckt das Schwerpunktthema der Zeitschrift Arbeit – Bewegung – Geschichte nicht nur historisches Interesse. Die HerausgeberInnen weisen darauf hin, dass sich «in den hier publizierten Texten zahlreiche Aspekte finden, die Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen aufweisen». Nelly Tügel untersucht in ihren Beitrag, wie der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) auf gewerkschaftliche
Aktivitäten von ArbeitsmigrantInnen in Westdeutschland reagierte, die oft noch Klassenkampftraditionen einbrachten, die in Deutschland durch den Nationalsozialismus ausgelöscht worden waren. «Zum einen erging die Aufforderung an die Einzelgewerkschaften, jeweils einen Kollegen zu benennen, der in einen der Abteilung Organisation unterstellten Unterausschuss für die Betreuung ausländischer Kollegen entsandt werden sollte. Zum anderen wurde beschlossen, Materialen über die kommunistische und faschistische Unterwanderung durch ausländische Arbeitnehmer zusammenzustellen und allen Bundestagsabgeordneten zuzustellen». Sehr empfehlenswert sind auch die Beiträge in der Zeitschrift, die sich nicht mit dem Schwerpunktthema befassen. Auch dabei wird deutlich,
dass die Schweiz in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung eine wichtige Rolle spielte. So berichtet die Historikerin Miriam Sachse von einem Symposium, das sich mit der internationalen sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern befasste. Dabei betonte die Präsidentin der Schweizer Robert Grimm Gesellschaft, Monika Wick aus Zürich, dass die Konferenz, die in klarer Opposition zum sozialdemokratischen Kurs des Burgfriedens stand, auch männliche Unterstützer hatte. Dazu gehörte in der Schweiz Robert Grimm.

Arbeit – Bewegung – Geschichte.
Zeitschrift für historische Studien, Heft
1/2016, 230 Seiten, Bezug: www.metropolverlag.de

aus: vorwärts – 26. April 2016

http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1185.html

Peter Nowak

Rosa, Karl & die Räte

Axel Weipert
erinnert an die Zweite Revolution

Sie erhielten kein Rederecht auf dem Reichsrätekongress vom 16. bis zum 20. Dezember 1918 in Berlin: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Und so entschied sich die Mehrheit der Delegierten wider das Rätesystem für Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung, also die parlamentarische Demokratie. „Rosa, Karl & die Räte“ weiterlesen

Die vergessene Rätebewegung

Die zweite Revolution - Axel Weipert
Axel Weipert
Die zweite Revolution
Rätebewegung in Berlin 1919/1920

Der Autor zeigt die Bedeutsamkeit der revolutionären Organisationen für die Weimarer Republik auf.

Trotz ihrer Bedeutung für die politischen Entwicklungen wurde die in der Zeit von 1918 bis 1920 aktive Rätebewegung in Deutschland von der Geschichtswissenschaft kaum beachtet. Die ArbeiterInnen- und Soldatenräte hatten das Ziel einer grundsätzlichen politischen und sozialen Umwälzung. Deshalb galten konservativen HistorikerInnen die Räte als Vorboten der kommunistischen Revolution. Viele linke HistorikerInnen sahen in den Räten wiederum nur eine Art Übergangsregierung. Ihre Rolle sollten eigentlich Arbeiterparteien übernehmen.

Überschätzt wurde nach Ansicht Einiger die Bedeutung der KPD innerhalb der revolutionären Bewegung, vor allem von DDR-WissenschaftlerInnen. Schließlich hatte die erst an der Jahreswende 1919 gegründete Partei gar nicht die Möglichkeiten, einen großen Einfluss auf die revolutionären Entwicklungen dieser Zeit zu nehmen. Fraglich ist, ob sich die Räte nicht selber entmachteten, als sie mit großer Mehrheit auf dem Reichsrätekongress, der im Dezember 1918 in Berlin tagte, für eine parlamentarische Demokratie votierten? Für viele HistorikerInnen war das Kapitel der Räte damit beendet.

Erst in den letzten Jahren haben sich ForscherInnen wieder verstärkt mit der Rätebewegung befasst und dargestellt, dass diese keine unbedeutsamen Akteure einer kurzen historischen Episode waren, wie es die bisherige Geschichtswissenschaft suggeriert. Ihr Einfluss sollte nicht unterschätzt werden. So waren beispielsweise die von den Freikorps blutig niedergeschlagenen Streiks im März 1919 von der Rätebewegung getragen. An diese republikweite Streikbewegung knüpft auch der Berliner Historiker Axel Weipert in seinem Buch „Die Zweite Revolution – Rätebewegung in Berlin 1919/1920“ an. Sehr detailliert geht Weipert auf die Rolle der Räte in der Streikbewegung vom Frühjahr 1919 ein. Dabei sieht er in der schlechten Koordination der Bewegung einen Hauptgrund für deren Niederlage. Noch bevor der Streik in Berlin begonnen hatte, war er in anderen Teilen der Republik schon niedergeschlagen.

Das vergessene Massaker vor dem Reichstag

Ein großer Verdienst von Weipert sind seine Forschungen zu einem weitgehend vergessenen Blutbad vor dem Reichstag am 13. Januar 1920. Freikorps schossen in eine von der Rätebewegung organisierte Demonstration gegen das beschlossene Reichsrätegesetz sowie die damit einhergehende Entmachtung der Räte in den Betrieben. 42 Tote und über 100 zum Teil Schwerverletzte waren die Folge. Damit fand der von der SPD-gestellten Regierung zumindest tolerierte Terror der Freikorps, dem bereits 1919 Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, aber auch tausende namenlose ArbeiterInnen zum Opfer fielen, seine Fortsetzung. Die alten Machtverhältnisse sollten nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft wieder hergestellt werden. Weipert sieht in dem Massaker vor dem Reichstag keine unglückliche Verkettung von nicht beherrschbaren Umständen, wie manche Liberale die staatliche Repression zu entschuldigen versuchen:

Der 13. Januar ist in vielerlei Hinsicht ein Lehrstück über die politischen Verhältnisse Deutschlands in jener Zeit. Besonders deutlich zeigte sich hier, wie grundlegend unterschiedlich das Politikverständnis in der Rätebewegung einerseits und in den etablierten Institutionen andererseits war. (…) Während im Reichstagsgebäude die Parlamentarier berieten, standen draußen die Demonstranten, ohne direktes Mitspracherecht, dafür aber bedroht und schließlich beschossen von den bewaffneten Organen des Staates. Man glaubte, die Volksvertreter vor dem Volk schützen zu müssen. Und das mit reinen Gewissen – denn, wie der Reichskanzler formulierte, es handelte es sich um nichts weniger als die ‚Verteidigung des heiligsten Volksrechts, der Meinungsfreiheit der Volksvertreter‘. Das war ein bemerkenswertes Demokratieverständnis. Nicht der Wille des Volkes und dessen Meinungsfreiheit standen im Mittelpunkt, sondern die Meinungsfreiheit der Parlamentarier“ (S. 185).

Sebastian Haffner, einer der wenigen bürgerlichen Publizisten, der nicht auf dem rechten Auge blind war, zog 1969 in seinem Buch „Die verratene Revolution/Deutschland 1918/19“ eine Linie vom Staatsterror in der Frühphase der Weimarer Republik zum Aufstieg des Nationalsozialismus. Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vom 15. Januar 1919 war für ihn der Beginn eines Weges, der ins Dritte Reich führte, „der Auftakt zu den tausendfachen Morden der Noske-Zeit, zu den millionenfachen Morden in den folgenden Jahrzehnten der Hitler-Zeit“. Haffner war ein Zeitgenosse, der Augen und Ohren offenhielt und den Terror der frühen Jahre der Weimarer Republik nicht vergaß. Heute ist der blutigste Angriff auf eine Demonstration in der Weimarer Republik weitgehend unbekannt.

Vielleicht trägt seine Forschungsarbeit dazu bei, dass am 20. Januar 2020, wenn sich der Staatsterror vor dem Reichstag zum hundertsten Mal jährt, ein Erinnerungs- und Gedenkort für die Opfer eingerichtet wird.

Von Schüler –und Erwerbslosenräten

Echte Pionierarbeit leistet Weipert auch da, wo er sich detailliert mit den Schüler- und Erwerbslosenräten befasst. Hier wird deutlich, dass der Rätegedanke in den Jahren 1919/1920 nicht nur in den Großfabriken, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft verankert war. Dass die Räte nicht per se revolutionär waren, wie Weipert bereits im Vorwort betont, zeigte sich an der Aktivität von Schülerräten in den bürgerlichen Stadtteilen Berlins, die sich dafür einsetzten, dass der Sohn des ermordeten Sozialisten Karl Liebknecht vom Gymnasium verwiesen wurde. Der bürgerliche Nachwuchs wollte nicht mit dem Sohn eines „Roten“ die Schulbank drücken. Allerdings waren diese reaktionären Räte die absolute Minderheit. Mehrheitlich organisierten sich in den Räten linke ArbeiterInnen sowie von der Produktion Ausgeschlossene. Sehr aktiv waren im Jahr 1920 vor allem die Erwerbslosenräte, deren Verhältnis zu den sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften konfliktreich war. In einem eigenen Kapitel geht Weipert auf die Konzepte zur politischen Aktivierung von bis dato unterrepräsentierten Frauen in Räten ein. Er zeigt auf, dass die geringe Teilnahme von Frauen innerhalb der Rätebewegung zumindest problematisiert wurde: „Einmal zeigte sich, dass während der ganzen Zeit der Rätebewegung, vom November 1918 bis weit in das Jahr 1920 hinein, immer wieder Vorschläge für eine wirkungsvolle Einbindung von Frauen in die Räte erarbeitet und publiziert wurden“ (S. 340).

Pionierarbeit leistet Weipert auch da, wo er die kurze Geschichte der Revolutionären Betriebsrätezentrale nachzeichnet, mit der AktivistInnen den Räten eine Struktur geben wollten. In der Abwehr gegen den Kapp-Putsch erfuhren die Räte noch einmal einen Aufschwung. Danach aber spielte die Rätebewegung keine große Rolle mehr. Führende AktivistInnen wie Richard Müller engagierten sich kurzzeitig in der KPD, bis sie im Linienstreit unterlagen und ausgeschlossen wurden. Erst am Ende der Weimer Republik wurde mit den Mieterräten diese Politikform wieder aufgegriffen. Weipert hat mit seiner gut lesbaren Arbeit nicht nur eine wichtige historische Arbeit über ein Stück vergessener linker Geschichte geleistet. Er hat auch für die heutige politische Praxis Anstöße geliefert. „Gerade in der Verbindung von basisdemokratischen und sozialistischen Ansätzen sehe ich eine wichtige Alternative zu einem übervorsichtigen Reformismus und dem zu Recht gescheiterten autoritären Sozialismusmodell à la DDR“, erklärte Weipert in einem Interview in der Berliner Tageszeitung taz die Aktualität der Rätevorstellungen.

zusätzlich verwendete Literatur:

Sebastian Haffner (1969): Die verratene Revolution – Deutschland 1918/19. Stern-Buch, Hamburg.

http://www.kritisch-lesen.de/rezension/die-vergessene-ratebewegung

Peter Nowak

„Diese Räte waren von breiter Unterstützung getragen“

FORSCHUNG Die Rätebewegung in Berlin gilt vielen nur als kurze Episode.
Ein neues Buch des Historikers Axel Weipert zeichnet ein anderes Bild

taz: Herr Weipert, lange Zeit wurde die Rätebewegung in Berlin als kurze Episode nach der Novemberrevolution betrachtet.
Sie haben in Ihrem neuen Buch dieses Bild korrigiert. Ist die Rätebewegung unterschätzt worden?

Axel Weipert: Bislang wurde die Rätebewegung primär als Wegbereiter der parlamentarischen Republik von Weimar gesehen. Konservative HistorikerInnen haben sie mitunter auch als völlig undemokratisch und bolschewistisch gebrandmarkt. Ich dagegen zeige, dass die Ansprüche der Räte und ihrer breiten Anhängerschaft deutlich über die Weimarer Ordnung hinauswiesen.

Wieso?
Sie wollten einen basisdemokratischen Sozialismus – also eine Gesellschaftsordnung, die mit den Vorrechten der alten Eliten in Militär, Verwaltung und vor allem in der Wirtschaft wirklich konsequent aufräumt. Dabei hat die Forschung lange übersehen, wie stark die Unterstützung für solche Ziele auch noch in den Jahren 1919/20 war. Allein in Berlin sprechen wir hier über rund eine Million AnhängerInnen, die sich aktiv beteiligten.

Warum wurde der Neuaufschwung der Rätebewegung nach dem Kapp-Putsch bisher kaum wahrgenommen?
Ein Faktor ist sicherlich, dass sie im Schatten des großen Generalstreiks und der bewaffneten Auseinandersetzungen stand. Außerdem ging die Regierung, nachdem sie den Putsch überstanden hatte, schnell zur Tagesordnung über und schob alle weitergehenden Erwartungen erfolgreich beiseite. Das gilt übrigens nicht nur für die Ziele der Räte, sondern auch für die der Gewerkschaften.


Bisher wurden vor allem Arbeiter-und Soldatenräte betrachtet. Welche Räte haben Sie untersucht?

Man kann sicher sagen, dass diese Räte auch den Kern der Bewegung darstellten. Allerdings ist es sehr spannend zu sehen, wie breit der Rätegedanke rezipiert wurde. So gab es auch spezielle Räteorgane für Lehrlinge, Intellektuelle, KünstlerInnen oder Erwerbslose. Diese
Räte waren durchaus von breiter Unterstützung getragen, wie der von den Schülerräten organisierte Streik im Sommer 1919 zeigt, an dem sich rund 30.000 von 35.000 Berliner BerufsschülerInnen beteiligten.

Erstmals untersuchen Sie auch die Rolle der Frauen in der Rätebewegung. Zu welchem Fazit kommen Sie?
Es wurde eine ganze Reihe von Konzepten entwickelt, wie Frauen integriert werden könnten. Allerdings muss man auch festhalten, dass Frauen in der politischen Praxis der Räte nur eine sehr geringe Rolle spielten. Das lag teils an Vorurteilen, wie sie mituinnerhalb der Arbeiterbewegung bestanden. Wichtig war zugleich, dass Frauen oft eine strukturell schwache Position in den Betrieben einnahmen,  waren sie doch meist nur ungelernte Hilfskräfte, politisch und organisatorisch unerfahren sowie rhetorisch kaum geschult. Hinzu
kam noch, dass durch die Wiedereingliederung der Soldaten ins Arbeitsleben viele Frauen ihre Jobs verloren.

Hat Ihre Beschäftigung mit der Rätebewegung nur historische Gründe oder sehen Sie Anknüpfungspunkte für eine linke Politik heute?
Ich würde mir schon wünschen, dass diese Bewegung den heute politisch Aktiven Denkanstöße liefert. Gerade in der Verbindung
von basisdemokratischen und sozialistischen Ansätzen sehe ich eine wichtige Alternative zu einem übervorsichtigen Reformismus und dem zu Recht gescheiterten autoritären Sozialismusmodell à la DDR.
Axel Weipert,  35, Historiker, promovierte an der FU zur Rätebewegung. Erst kürzlich hat er die Studie „Die Zweite Revolution Rätebewegung in Berlin 1919/1920“ herausgegen

aus taz 17.09.2015

Interview: Peter Nowak

Wirtschaftsdemokratie

»Demokratisches Wirtschaften von unten ist, örtlich oder regional vernetzt oder auch als Einzelprojekt, möglich. Dafür sprechen Tatsachen, auch in Deutschland«. Diese optimistische Einschätzung stammt von der DDR-Historikerin Ulla Plener. Die Referate der Tagung »Demokratische Transformation als Strategie der Linken«, die zum 80. Geburtstag von Ulla Plener stattfand, wurden nun unter dem Titel »Demokratisierung von Wirtschaft und Staat« als Buch veröffentlicht. Ralf Hoffrogge geht auf die Debatte über Wirtschaftsdemokratie in der Weimarer Republik ein. Nachdem rätedemokratische Modelle im Bündnis von Freikorps und SPD-Führung blutig zerschlagen wurden, setzte Mitte der 1920er Jahre in der SPD eine Debatte über wirtschaftsdemokratische Konzepte ein. Ziel war es, den Kapitalismus zu bändigen, nicht, ihn abzuschaffen. In Deutschland hatten diese reformkapitalistischen Konzepte nie eine Realisierungschance. Davon ließ sich aber die arbeiterzionistische Aufbaugeneration in Israel inspirieren. Gisela Notz untersucht die wirtschaftsdemokratischen Elemente in der Genossenschaftsbewegung. Auch internationale Erfahren werden mit einbezogen, etwa die Diskussionen über Arbeiterselbstverwaltung in der Frühphase der polnischen Solidarnosc-Bewegung. Auch kritische Stimmen sind in dem Band vertreten. Michael Hewener sieht eine doppelte Illusion: »die eines möglichen demokratischen Kapitalismus und die eines möglichen Übergangs zum demokratischen Sozialismus«.

Peter Nowak

Axel Weipert: Demokratisierung von Wirtschaft und Staat. NoRa Verlagsgemeinschaft, Berlin 2014. 230 Seiten, 19 EUR.

Eine spannende Debatte

Ist eine Demokratisierung der Wirtschaft überhaupt möglich?

»Demokratisches Wirtschaften von unten ist, örtlich oder regional vernetzt oder auch als Einzelprojekt, möglich. Dafür sprechen Tatsachen, auch in Deutschland«. Diese optimistische Aussage stammt von Ulla Plener.

Die renommierte DDR-Historikerin beschäftigt sich seit Jahren in ihren Forschungen und Schriften mit Theorie und Praxis der Wirtschaftsdemokratie. Daher war es nur konsequent, dass der von ihr mitbegründete Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung zu ihrem 80. Geburtstag eine Tagung unter das Thema »Demokratische Transformation als Strategie der Linken« stellte. Daran beteiligten sich ausgewiesene Experten aus der alten Bundesrepublik und der DDR sowie viele junge Nachwuchswissenschaftler.

Der Tagung entsprang der hier anzuzeigende Band. Er enthält wichtige Anregungen für eine konstruktive linke Strategiedebatte in- und außerhalb der Parlamente sowie in den Gewerkschaften und sollte deshalb einen breiten Leserkreis, nicht nur unter Genossen und Genossinnen der Linkspartei und der SPD, sondern auch deren Spitzenfunktionären und Wirtschaftsexperten finden.

Ralf Hoffrogge stellt die Debatten über die Demokratisierung der Wirtschaft in der Zeit der Weimarer Republik vor. Nachdem die in der Novemberrevolution aufblühenden rätedemokratischen Modelle im Bündnis von Freikorps und SPD-Führung blutig zerschlagen waren, begann Mitte der 1920er Jahre in der Sozialdemokratie eine neue Debatte über wirtschaftsdemokratische Konzepte, die im Heidelberger Programm von 1925 ihren Niederschlag fand. Ziel war, den Kapitalismus zu bändigen, nicht abzuschaffen.

Doch in Deutschland hatten selbst solche reformkapitalistischen Konzepte nie die Chance einer praktischen Umsetzung. Von jenen ließ sich aber die arbeiterzionistische Aufbaugeneration im späteren Israel inspirieren. Einer der wichtigen sozialdemokratischen Theoretiker der Wirtschaftsdemokratiekonzepte in Weimarer Zeit war Fritz Perez Naphtali, der vor den Nazis nach Palästina floh.

Die Feminismusforscherin Gisela Notz untersucht wirtschaftsdemokratische Elemente in der Geschichte der Genossenschaftsbewegung. Einbezogen sind in diesem Band auch internationale Erfahrungen. Sarah Graber und Kamil Majchrzak zeichnen die Diskussionen über Arbeiterselbstverwaltung in der Frühphase der polnischen Solidarnosc-Bewegung nach. Offen bleibt hier allerdings, wie stark diese Tendenzen wirklich waren. Schließlich konstatieren die Autoren, dass auch die erklärten Marktwirtschaftler, die eine starke Konkurrenz zwischen den Betrieben propagierten, von Anfang an in der Solidarnosc-Bewegung vertreten waren. Von besonderem Interesse dürften die Erfahrungen sein, die mit selbstverwalteten Betrieben in Argentinien gemacht wurden. Jörg Roesler hat sich damit intensiv befasst.

Auch kritische Stimmen zur Wirtschaftsdemokratie sind in diesem Band vertreten. So spricht der Politologe Michael Hewener von einer doppelten Illusion: »die eines möglichen demokratischen Kapitalismus und die eines möglichen Übergangs zum demokratischen Sozialismus«. Er vertritt den Standpunkt, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft dienen stets nur der Verbesserung der Kapitalakkumulation und nicht der Demokratisierung.

Gerade solche kontroversen Einschätzungen und Urteile weisen dieses Buch als eine exzellente Diskussionsgrundlage über das Verhältnis von Demokratie und Wirtschaft aus, um das es in der heutigen Bundesrepublik arg bestellt ist – was wohl keiner ernsthaft negieren kann.

Axel Weipert (Hg): Demokratisierung von Wirtschaft und Staat. Nora Verlag. 230 S., br., 19 €.

Peter Nowak