Am 17 September 2023, sprang ein Geflüchteter aus Pakistan aus dem fünften Stockwerk seiner Wohnung in Eberswalde, er überlebte schwer verletzt. Der Mann war in Panik geraten, weil die Polizei vor der Wohnungstür stand. Die suchten allerdings einen Mitbewohner. Diese Panik ist auch die Folge einer deutschen Flüchtlingspolitik, die Aktivist*innen der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI) seit 30 Jahren beobachten. In diesen Tagen erscheint ihre neue …
„Staatsgewalt gegen Flucht“ weiterlesenSchlagwort: Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen
Tödliche Folgen der Abschottung
Immer wieder werden Geflüchtete in Deutschland bei Polizeieinsätzen verletzt oder getötet. Das dokumentiert die in Berlin ansässige „Antirassistische Initiative“ seit 1993 jedes Jahr im Report „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“. Dessen neueste, 29. Ausgabe ist nun erschienen. Sie umfasst viele Fälle, die entweder nie besonders bekannt wurden oder längst vergessen sind.Demnach ereignete sich ein gravierender Fall mit tödlichen Folgen am 3. Oktober 2021 im niedersächsischen Harsefeld im Landkreis Stade: Vier Polizeibeamt*innen feuerten dreizehnmal auf Kamal Ibrahim. Der Mann aus dem Sudan war …
„Tödliche Folgen der Abschottung“ weiterlesenAus Angst vor Abschiebung in den Suizid getrieben
Am 22. März 2020 soll ein 25-jähriger Afghane von der Polizei abgeholt und abgeschoben werden. Er springt aus dem dritten Stock der Sammelunterkunft im sächsischen Plauen in die Tiefe und wird mit schweren Verletzungen an Rücken und einer Hand ins Helios-Klinikum Vogtland gebracht werden. Auch nach langer stationärer Behandlung muss er weiter seine Abschiebung fürchten, obwohl er bereits fünf Jahre in Deutschland ist. Dies ist eines von Tausenden Einzelschicksalen, die in der soeben erschienenen 28. Ausgabe der alljährlich aktualisierten …
„Aus Angst vor Abschiebung in den Suizid getrieben“ weiterlesenIn der Zelle allein gelassen
Es ist genau ein Jahr her: Am 23. Juli 2021 verbrannte der algerische Flüchtling Ferhat M. in einer Gefängniszelle in der Haftanstalt Moabit. Der 38-Jährige saß wegen Diebstahlverdachts in Untersuchungshaft. Linke Gruppen rufen anlässlich seines Todestages am Freitag um 20 Uhr zu einer Gedenkkundgebung vor dem U-Bahnhof Turmstraße auf. Anschließend ist eine Demonstration zur JVA-Moabit geplant. Initiiert wird die Gedenk- und Protestaktion von der anarchistischen Gruppe Criminals for Freedom (CfF). Sie setzt sich für eine …
„In der Zelle allein gelassen“ weiterlesenBraucht es eine Untersuchung zum Rassismus bei der deutschen Polizei?
Die „Black Lives Matter“-Bewegung in den USA hat in den letzten Wochen auch in Deutschland zum Aufschwung der antirassistischen Bewegung geführt. Vor allem junge Menschen sind nicht nur aus Solidarität mit George Floyd auf die Straße gegangen. Dafür hatten sie auch in den deutschen Medien und Staatsapparaten noch Sympathiepunkte gesammelt. Es war schon erstaunlich, welch große Sympathie teilweise Denkmalstürze und militante Demonstrationen hatten, wenn sie in den USA stattfanden. Da darf man wohl unterstellen, dass da auch mehr als eine Prise ….
„Braucht es eine Untersuchung zum Rassismus bei der deutschen Polizei?“ weiterlesenDer Verfassungsschutz und der Multikulturalismus
Identitäre Bewegung versenken“ lautet das Motto einer Demonstration, zu der antifaschistische Gruppen bundesweit für den 20.Juli nach Halle mobilisieren. Sie wollen an dem Tag eine Großdemonstration der Identitären Bewegung (ID) verhindern, zu der die rechte Bewegung in der Stadt mobilisiert, in der sie seit einigen Jahren ein Zentrum besitzt. Das hat vor allem deshalb für viel Aufmerksamkeit gesorgt, weil es sich in unmittelbarer Nähe der Universität von Halle befindet.Schon seit vielen Jahren haben zivilgesellschaftliche Gruppen die Identitären beobachtet, es gibt gut recherchierte Broschüren und Bücher zum Thema. Die Proteste gegen die auch als rechte Hipster bezeichnete Bewegung hatten durchaus Erfolge. Man kann von einer Stagnation der ID sprechen. Wenn dann der Verfassungsschutz neuerdings die ID als „gesichert rechtsextreme Bewegung“ einstuft, ist das eigentlich….
„Der Verfassungsschutz und der Multikulturalismus“ weiterlesenCarola Rackete – die neue Greta Thunberg?
Ein Minister, der schon vor Prozessbeginn deutlich zu verstehen gibt, welches Urteil am Ende nur akzeptabel ist? Das erwartet man in der Türkei oder in Russland. Aber in Deutschland? Natürlich ist die Trennung der Gewalten nicht so strikt wie in der Ideologie.So ist für ein Verfahren nach dem Paragraphen 129b, der die Unterstützung einer als terroristisch erklärten ausländischen Organisation in Deutschland sanktioniert, eine Verfolgungsermächtigung des Justizministeriums erforderlich. Doch auch da wird ein Minister in der Regel nicht erklären, wie das Urteil auszusehen hat. Es widerspricht eigentlich sämtlichen bürgerlichen Ansprüchen der Trennung von Justiz und Politik, die ja nicht nur Ideologie sind, sondern für eine kapitalistische Gesellschaft sehr kompatibel. Doch nachdem die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete in Italien…
„Carola Rackete – die neue Greta Thunberg?“ weiterlesenHohe Suizidrate bei Geflüchteten
Taher Rezai aus Afghanistan stürzt sich in der Neujahrsnacht aus dem zweiten Stock einer Gemeinschaftsunterkunft. Er stirbt im Alter von 22 Jahren. Zuvor war er dezentral im Raum Mainburg untergebracht, wo den Traumatisierten ein Helfer*nnenkreis unterstützt hatte. Dies änderte sich jedoch, als diese Unterkunft aufgelöst wurde und er in eine Gemeinschaftsunterkunft nach Niederbayern kam. Sein Asylantrag war abgelehnt worden, eine Arbeitserlaubnis erhielt er nicht, und er blieb mit seiner Angst allein .Am 6. Januar 2019 versammeln sich etwa 60 Menschen auf dem Stadtplatz von Abensberg zu einer Mahnwache im Gedenken an den Toten und forderten einen Abschiebestopp nach Afghanistan. Der Protest war folgenlos, mittlerweile werden in einer größeren Öffentlichkeit Sammelabschiebungen nach Afghanistan kaum mehr zur Kenntnis genommen. Auch der Tod von Taher Rezai war nur in den Lokalmedien kurz Thema. Erinnert daran hat jetzt die …
„Hohe Suizidrate bei Geflüchteten“ weiterlesenLieber tot als zurück
Abschiebungen sind mittlerweile zur Routine geworden. Vor allem die konservativen Parteien drängen darauf, Geflüchtete so schnell und effizient wie möglich loszuwerden. Dass die deutsche Flüchtlingspolitik auch tödlich enden kann, dokumentiert der Verein „Antirassistische Initiative“.
Der 23 Jahre alte Hashmatulla F., ein Geflüchteter aus Afghanistan, wird am 17. September 2017 rechtswidrig nach Bulgarien abgeschoben. Dort kommt er in Abschiebehaft und wird mit Schlägen gezwungen, sich mit einer „freiwilligen“ Ausreise einverstanden zu erklären. Am 3. Oktober folgt seine Abschiebung nach Afghanistan, obwohl schon am 22. September das Verwaltungsgericht Sigmaringen angeordnet hatte, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihn nach Deutschland zurückholen muss. F. fürchtet in Afghanistan um sein Leben, denn als ehemaliger Militärangehöriger und wegen seiner Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften wurde er von Angehörigen der Taliban und des Islamischen Staates mit dem Tode bedroht. Mit einem weiteren Beschluss ordnet das Verwaltungsgericht Sigmaringen seine Rückholung aus Afghanistan nach Deutschland an, damit das Asylverfahren hier stattfinden kann. Mit einem Visum der deutschen Botschaft in Pakistan kann Hashmatulla F. am 14. Dezember nach Deutschland zurückfliegen.
Das ist eine der wenigen Meldungen mit einem positiven Ende, die in der aktuellen Ausgabe der Dokumentation „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ aufgelistet sind. Seit 25 Jahren sammelt der Berliner Verein „Antirassistische Initiative“ (ARI) die Fälle und gibt sie einmal im Jahr gesammelt heraus.
Elke Schmidt hat das Projekt 1993 mit einer Mitstreiterin gestartet. Damals hatte sich der Onkel eines verschwundenen tamilischen Flüchtlings an die ARI gewandt. Sie forschten nach und fanden heraus, dass er mit acht anderen tamilischen Flüchtlingen beim Grenzübertritt in der Neiße ertrunken war. Mit einem Filmteam machte die ARI damals den Tod in der Neiße öffentlich. Seitdem sammelt das kleine Team Nachrichten über Todesfälle, Misshandlungen und Gewalt, die in direktem Zusammenhang mit der deutschen Flüchtlingspolitik stehen: 261 Geflüchtete töteten sich zwischen dem 1. Januar 1993 und dem 31. Dezember 2017 aus Angst vor ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davon 79 Menschen in Abschiebehaft. 2528 Geflüchtete verletzten sich aus Angst oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung, unter anderen bei Hunger- und Durststreiks, oder versuchten, sich umzubringen, davon befanden sich 743 Menschen in Abschiebehaft.
Schwerpunkt Afghanistan
Der Schwerpunkt der aktualisierten Ausgabe sind Abschiebungen nach Afghanistan, die Mitte Dezember 2016 begannen. Und das, obwohl Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl immer wieder darauf hingewiesen haben, dass das Land nicht sicher ist und sich daher eine Rückführung von Geflüchteten nach menschenrechtlichen Kriterien verbietet. Längst sind die Abschiebungen zur Routine geworden. Schlagzeilen machen sie in der Regel nur noch, wenn es Geflüchteten gelingt, sich erfolgreich einer zwangsweisen Ausweisung zu entziehen.
In der Dokumentation der ARI werden die oft tödlichen Folgen der Abschiebepolitik an vielen Beispielen benannt. Der 23-jährige Geflüchtete Atiqullah Akbari war am 23. Januar 2017 abgeschoben worden. Zwei Wochen später wurde er durch einen Bombenanschlag in Kabul verletzt. Der 22 Jahre alte Farhad Rasuli wurde am 10. Mai 2017, drei Monate nach seiner Abschiebung aus Deutschland, in Afghanistan bei einem Anschlag durch die Taliban getötet. Der 23-jährige Abdullrazaq Sabier wurde am 31. Mai bei einem Bombenanschlag im Diplomatenviertel von Kabul zwar nicht, wie anfangs berichtet, getötet, aber doch schwer verletzt. Sein Asylantrag in Deutschland war abgelehnt worden. Nachdem die dritte Sammelabschiebung stattgefunden hatte, gab er dem Abschiebungsdruck der Behörden nach und war im März „freiwillig“ nach Afghanistan zurückgekehrt.
Elke Schmidt von der ARI macht im Gespräch mit Kontext darauf aufmerksam, dass die Massenabschiebungen nicht nur in Afghanistan, sondern auch hierzulande tödliche Folgen haben können. „Mindestens acht AfghanInnen, davon drei Minderjährige, töteten sich in den Jahren 2016 und 2017, es kam zu 110 Suizidversuchen und Selbstverletzungen. Viele dieser Vorfälle fanden in Abschiebehaft statt. Schmidt geht von einer noch höheren Dunkelziffer aus. Schließlich veröffentlicht die ARI in ihrer Dokumentation nur Meldungen, die gegenrecherchiert und von zwei Quellen bestätigt worden sind.
Tod am Bodensee
In der Flüchtlingsunterkunft „Inter-Mezzo“ im Wasserburger Ortsteil Hengnau in der Nähe von Lindau tötete sich am 27. Februar 2017 ein 17 Jahre alter Flüchtling aus Afghanistan – zwei Tage vor seiner Volljährigkeit. Der Jugendliche lebte seit 2015 in Lindau, war offensichtlich traumatisiert und litt unter Depressionen. Ein Stein, den er in der Schule für eine Ausstellung bemalte, zeigt eine skizzierte Person mit traurigem Gesichtsausdruck hinter oder vor Gittern. Der Jugendliche hatte in Afghanistan ohne für ihn ersichtlichen Grund im Gefängnis gesessen, bevor er seine Flucht antrat. Doch in Deutschland traf er auf Bürokratie und Ablehnung.
Am 2. Januar 2017 zündete sich ein 19-jähriger Afghane im Warenlager eines Supermarkts im bayerischen Gaimersheim selbst an, nachdem er sich mit Benzin übergossen hatte. Mit schweren Brandverletzungen wurde er ins Krankenhaus gebracht. Der bayerische Flüchtlingsrat erinnerte nach dem Vorfall daran, dass die Arbeitsverbote und die sich häufenden Abschiebungen bei vielen Geflüchteten aus Afghanistan Ängste auslösen, die bis zum Suizid führen können. Oft komme es auch zur Retraumatisierung bei Menschen, die in Afghanistan und auf ihrer Flucht mit Gewalt und Misshandlungen konfrontiert waren.
Doch solche menschenrechtlichen Dokumente sind für die Abschiebungen nicht entscheidend, sondern die Einschätzungen und Berichte des Auswärtigen Amtes (AA). Das beschreibt Afghanistan in einem neuen Bericht als Land in desaströser Lage, in dem es kaum Fortschritte in Sachen Menschenrechte gebe. Aber da es in dem Bericht auch heißt, dass in Afghanistan keine systematische, staatlich organisierte Gewalt gegen die eigene Bevölkerung“ besteht, forderten CSU-PolitikerInnen sofort, die Abschiebungen nach Afghanistan weiter zu intensivieren. Dieser Auffassung hat sich auch Bundeskanzlerin Merkel in der Fragestunde des Bundestages angeschlossen. Für viele Geflüchtete aus Afghanistan bedeuteten diese Ankündigungen noch mehr Angst und noch mehr Stress.
Sturz in sieben Meter Tiefe
Auch die gesundheitlichen Folgen von Abschiebungen werden in der Dokumentation der ARI aufgelistet. Der 56 Jahre alte Herr S. wird im Rahmen einer Sammelabschiebung aus der Abschiebehaft Pforzheim von der Polizei abgeholt und über Frankfurt am Main nach Afghanistan ausgeflogen. Auf dem Asphalt des Flughafens in Kabul erleidet der physisch und psychisch kranke Mann einen schweren Schwindelanfall, so dass die afghanischen Behörden ihn direkt nach Deutschland zurückschicken. Hier kommt er erneut in Abschiebehaft.
Doch nicht nur Geflüchtete aus Afghanistan verüben Suizid aus Angst vor der Abschiebung. Am 26. Oktober 2017 wollten PolizeibeamtInnen einen Geflüchteten aus Gambia zur Identitätsfeststellung zum Regierungspräsidium Karlsruhe aus der Unterkunft in der Salmbacher Straße in Schömberg im Landkreis Calw abholen. Sie treffen ihn aber nicht an. PassantInnen finden den 43 Jahre alten Mann lebensgefährlich verletzt vor dem Haus am Boden. Ein Zeuge sagt aus, dass der Gambier aus dem Fenster geklettert und von der Dachkante sieben Meter in die Tiefe gesprungen war. Er hatte Angst vor einer drohenden Abschiebung.
Die alljährlich aktualisierte Dokumentation ist auch eine Entgegnung auf den anschwellenden Chor der PopulistInnen. Durch die Datenbank, die auch online verfügbar ist, hoffen Elke Schmidt und ihre MitstreiterInnen, dass die Schicksale der Opfer deutscher Flüchtlingspolitik breiter wahrgenommen werden, als es bisher der Fall ist. Und ihre Hoffnung scheint aufzugehen: In der letzten Zeit habe es vermehrt Anfragen von SchülerInnen und Studierenden gegeben.
aus: KONTEXT:Wochenzeitung, Ausgabe 376
https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/376/lieber-tot-als-zurueck-5140.html
Peter Nowak
„Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“
Der neueste Lagebericht für Afghanistan der Bundesregierung und eine Dokumentation der Antirassistischen Initiative
Viel Konkretes ist bei der ersten Abgeordnetenbefragung der Bundeskanzlerin nicht herausgekommen. Es seien zu viele Fragen gestellt wurden und daher waren die Antworten erwartbar unkonkret, lautet die Kritik.
Und doch könnte die Antwort auf eine Frage dafür sorgen, dass Flüchtlinge aus Afghanistan noch mehr in der Angst leben müssen, in ihre Heimat zurück geschickt zu werden. Angesichts eines neuen Lageberichts aus dem Auswärtigen Amt ist Merkel der Meinung, dass die Gründe für die Einschränkung des Abschiebestopps entfallen.
Wie unterschiedlich ein Lagebericht zu Afghanistan bewertet wird
Der neueste Lagebericht für Afghanistan wird sehr unterschiedlich bewertet. Diejenigen, die die afghanischen Flüchtlinge möglichst schnell abschieben wollen, stützen sich auf die Passage, „die keine systematische, staatlich organisierte Gewalt gegen die eigene Bevölkerung“ in Afghanistan mehr feststellt.
Vor diesem Hintergrund hatte die CSU bereits gefordert, den Abschiebestopp auf den Prüfstand zu stellen. Nun hat sich Merkel dem angeschlossen. In der SPD gibt es noch Widerspruch dazu. Doch, es gibt auch eine ganz andere Interpretation des Berichts. „Die Lage in Afghanistan bleibt desaströs“, lautet[1] zum Beispiel das Fazit der Süddeutschen Zeitung, die an den noch als vertraulich eingestufen Bericht gekommen ist.
Das Auswärtige Amt hat einen neuen Bericht über die Lage in Afghanistan fertiggestellt. Demnach ist die Situation in dem Land nach wie vor desaströs, auf fast jede positive Entwicklung folgt ein Aber.
Süddeutsche Zeitung
Mitte Dezember 2016 haben die Massenabschiebungen von Geflüchteten aus Deutschland nach Afghanistan begonnen. Längst sind sie zur Routine geworden und die Kritik[2] wie auch die Einschränkungen haben daran wenig geändert.
Die wenig bekannten Konsequenzen
Schlagzeilen machen sie in der Regel nur noch, wenn es einem Geflüchteten gelingt, sich erfolgreich einer zwangsweisen Ausweisung zu entziehen. Jetzt erinnert die Antirassistische Initiative Berlin[3] mit einer Dokumentation an die Konsequenzen dieser Abschiebungen für die Betroffenen.
Sie ist anders als die Berichte des Auswärtigen Amts keine Grundlage für die Regierungspolitik. Daher spielt sie auch bei der Debatte im Bundestag keine Rolle. Dabei steht die Situation der Flüchtlinge in Afghanistan im Mittelpunkt der aktualisierten Dokumentation „Die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“, die die ARI seit 1994 jährlich herausgibt.
Dort sind die Menschen benannt, die nach ihrer Abschiebung in Afghanistan verletzt oder getötet wurden:
Der 23-jährige Asylbewerber Atiqullah Akbari war am 23. Januar 2017 abgeschoben worden. Zwei Wochen später wurde er durch einen Bombenanschlag in Kabul verletzt. Der 22 Jahre alte Farhad Rasuli wird am 10. Mai 2017, drei Monate nach seiner Abschiebung aus Deutschland, in Afghanistan bei einem Anschlag durch die Taliban getötet. Der 23jährige Abdullrazaq Sabier stirbt am 31. Mai bei einem Bombenanschlag im Diplomatenviertel von Kabul. Sein Asylantrag in Deutschland war abgelehnt worden. Nachdem die dritte Sammelabschiebung stattgefunden hatte, gab er dem Abschiebungsdruck der Behörden nach und war im März „freiwillig“ nach Afghanistan zurückgekehrt.
Antirassistische Initiative Berlin
Die Angst wächst auch unter afghanischen Flüchtlingen in Deutschland
Elke Schmidt von der ARI macht im Gespräch mit Telepolis darauf aufmerksam, dass die Massenabschiebungen nicht nur in Afghanistan tödliche Folgen haben. „Mindestens 8 Afghanen, davon 3 Minderjährige, töteten sich in den Jahren 2016 und 2017 selbst. Es kam zu 110 Selbstverletzungen und Suizidversuchen.“
Doch Elke Schmidt geht von einer höheren Dunkelziffer aus. Schließlich veröffentlicht die ARI in ihrer Dokumentation nur Meldungen, die gegenrecherchiert und bestätigt wurden. So zündete sich am 2. Januar 2017 ein 19jähriger Afghane im Warenlager eines Supermarkts im bayerischen Gaimersheim selbst an, nachdem er sich mit Benzin übergossen hatte. Er wurde mit schweren Brandverletzungen ins Krankenhaus gebracht.
Der bayerische Flüchtlingsrat[4] erinnerte nach dem Vorfall in einer Presseerklärung daran, dass die Arbeitsverbote und die sich häufenden Abschiebungen bei vielen afghanischen Geflüchteten Ängste auslösen, die bis zum Selbstmord führen. Oft kam es auch zur Retraumatisierung bei Menschen, die in Afghanistan und auf ihrer Flucht mit Gewalt und Misshandlungen konfrontiert waren.
Die aktuelle Debatte um die Aufhebung der noch bestehenden Einschränkungen bei den Abschiebungen nach Afghanistan dürfte die Ängste der Menschen noch erhöhen. Die Dokumentation liefert viele erschreckende Beispiele über die tödliche Flüchtlingspolitik aus der ganzen Republik. Sie ist seit 1994 ein leider noch immer unverzichtbares Stück Gegenöffentlichkeit.
Seit wenigen Wochen ist diese wohl umfangreichste Dokumentation des bundesdeutschen Alltagsrassismus unter ari-dok.org[5] auf einer Datenbank im Internet zu finden. Durch die Onlinedatenbank hoffen Schmidt und ihre Mitstreiter, dass noch mehr Menschen auf die gesammelten Daten zugreifen. In der letzten Zeit habe es vermehrt Anfragen von Schülern und Studierenden gegeben.
Schmidt gehörte vor 24 Jahren zu den Mitbegründern des Projekts. Damals hatte sich der Onkel eines verschwundenen tamilischen Flüchtlings an die ARI gewandt. Bei der Recherche stellte sich heraus, dass er mit 8 tamilischen Flüchtlingen beim Grenzübertritt in der Neiße ertrunken ist. Die Neiße als EU-Grenze ist längst Geschichte, die gewalttätige und oft auch tödliche deutsche Flüchtlingspolitik leider nicht
Peter Nowak
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http://www.heise.de/-4075253
https://www.heise.de/tp/features/Bundesdeutsche-Fluechtlingspolitik-und-ihre-toedlichen-Folgen-4075253.html
Links in diesem Artikel:
[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/lagebericht-des-auswaertigen-amts-afghanen-droht-wieder-abschiebung-1.3998925
[2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-01/fluechtlinge-afghanistan-abschiebeflug
[3] http://www.ari-berlin.org
[4] https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/informationen.html
[5] https://www.ari-dok.org/
Schrecken nach der Abschiebung
Die Antirassistische Initiative Berlin hat Schicksale von abgewiesenen Asylbewerbern in Afghanistan dokumentiert
Mitte Dezember 2016 haben die Abschiebung von Geflüchteten aus Deutschland nach Afghanistan begonnen. Mittlerweile sind sie zur Routine geworden. Insgesamt 13 Abschiebeflüge gab es in den vergangenen anderthalb Jahren. 234 Menschen wurden ausgeflogen. Schlagzeilen machen die Flüge in der Regel nur noch, wenn es einem Geflüchteten gelingt, sich erfolgreich einer Ausweisung zu entziehen. Jetzt hat die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) an die Konsequenzen dieser Abschiebungen für die Betroffenen erinnert. Sie stehen im Mittelpunkt der aktualisierten Dokumentation »Die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen«, welche die ARI seit 1994 jährlich herausgibt. Dort sind die Menschen benannt, die nach ihrer Abschiebung in Afghanistan verletzt oder getötet wurden.
Der 23-jährige Asylbewerber Atiqullah Akbari war am 23. Januar 2017 abgeschoben worden. Zwei Wochen später wurde er durch einen Bombenanschlag in Kabul verletzt. Der 22 Jahre alte Farhad Rasuli wurde am 10. Mai 2017, drei Monate nach seiner Abschiebung aus Deutschland, in Afghanistan bei einem Anschlag durch die Taliban getötet. Der 23-jährige Abdullrazaq Sabier stirbt am 31. Mai bei einem Bombenanschlag im Diplomatenviertel von Kabul. Sein Asylantrag in Deutschland war abgelehnt worden. Nachdem die dritte Sammelabschiebung stattgefunden hatte, gab er dem Abschiebungsdruck der Behörden nach und war im März »freiwillig« nach Afghanistan zurückgekehrt.
Elke Schmidt von der ARI macht im Gespräch mit »nd« darauf aufmerksam, dass die Massenabschiebungen nicht nur in Afghanistan tödliche Folgen haben können, sondern auch hierzulande. »Mindestens acht Afghan_innen, davon 3 Minderjährige, töteten sich in den Jahren 2016 und 2017 selbst. Es am zu 110 Selbstverletzungen und Suizidversuchen«. Elke Schmidt geht von einer noch höheren Dunkelziffer aus. Schließlich veröffentlicht die ARI in ihrer Dokumentation nur Meldungen, die gegenrecherchiert und bestätigt wurden. So zündete sich am 2. Januar 2017 ein 19-jähriger Afghane im Warenlager eines Supermarkts im bayerischen Gaimersheim selbst an, nachdem er sich mit Benzin übergossen hatte. Mit schweren Brandverletzungen wurde er ins Krankenhaus gebracht. Der bayerische Flüchtlingsrat erinnerte nach dem Vorfall daran, dass die Arbeitsverbote und die sich häufenden Abschiebungen bei vielen Geflüchteten aus Afghanistan Ängste auslöst, die bis zum Selbstmord führen können. Oft komme es auch zur Retraumatisierung bei Menschen, die in Afghanistan und auf ihrer Flucht mit Gewalt und Misshandlungen konfrontiert wurden.
Die Dokumentation liefert viele erschreckende Beispiele über die tödliche deutsche Flüchtlingspolitik. Sie ist seit 1994 ein leider noch immer unverzichtbares Stück Gegenöffentlichkeit. Seit wenigen Wochen ist diese wohl umfangreichste Dokumentation des deutschen Alltagsrassismus auf einer Datenbank im Internet zu finden (www.ari-dok.org). Durch die Onlinedatenbank hoffen Elke Schmidt und ihre Mitstreiter_innen, dass noch mehr Menschen auf die gesammelten Daten zugreifen. In der letzten Zeit habe es vermehrt Anfragen von Schüler_innen und Studierenden gegeben.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1090400.schrecken-nach-der-abschiebung.html
Peter Nowak
Webarchiv gegen Rassismus
Die bisher als Broschüre veröffentlichte Dokumentation rassistischer Vorfälle in Berlin der Antirassistischen Initiative ist nun auch als Datenbank im Internet
„4. Januar 2016, Marzahn-Hellersdorf: Eine hochschwangere Bewohnerin einer Flüchtlingsunterkunft wird vor einem Supermarkt angegriffen. 6. Januar 2016, Marzahn-Hellersdorf: Eine schwangere Bewohnerin der Flüchtlingsunterkunft Blumberger Damm wird zum wiederholten Mal auf der Straße attackiert.“
Das sind zwei von mittlerweile etwa 9.000 rassistischen Vorfällen, die die Antirassistische Initiative (ARI) in Berlin seit mehr als 24 Jahren sammelt, auswertet und dokumentiert. Alljährlich gibt die ARI eine aktualisierte Broschüre mit dem Titel „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ heraus. Seit wenigen Tagen ist diese wohl umfangreichste Dokumentation des bundesdeutschen Alltagsrassismus unter der Webadresse www.ari-dok.org/ auf einer Datenbank im Internet zu finden.
Über mehrere Jahre hätten solidarische Menschen ohne jegliche finanzielle Unterstützung diese Datenbank erstellt, berichtet ARI-Mitarbeiter Johannes Hykel. Die Initiative musste in den fast 25 Jahren ihres Bestehens ohne Fördergelder ausgekommen. „Statt die Zeit auf lange Anträge und Projektbeschreibungen zu verwenden, haben wir uns auf die zeitaufwendige Arbeit der Dokumentation der rassistischen Vorfälle konzentriert“, erklärte Hykel.
Schließlich werde jeder dokumentierte Vorfall auch gegenrecherchiert. Die Quellen sind angegeben. Die ARI dokumentiert neben rassistischen Angriffen aus der Bevölkerung auch Verletzungen und Todesfälle von Geflüchteten während der Abschiebungen, in Abschiebegefängnissen oder Unterkünften.
Die tödlichen Folgen der Abschottungspolitik führten 1994 dazu, dass eine kleine Gruppe mit der Dokumentation begann. Der Onkel eines verschwundenen tamilischen Flüchtlings hatte sich an die ARI gewandt. Bei der Recherche stellte sich heraus, dass sein Neffe mit acht tamilischen Flüchtlingen beim Grenzübertritt in der Neiße ertrunken war.
Mittlerweile haben sich die tödlichen Orte verschoben, doch die Arbeit ist auch nach fast 25 Jahren immer noch notwendig. Durch die Onlinedatenbank hoffen Hykel und seine MitstreiterInnen, dass noch mehr Menschen auf die Dokumentation zugreifen und für die tödlichen Folgen der bundesdeutschen Abschiebepolitik sensibilisiert werden. In den vergangenen Jahren habe es vermehrt Anfragen von SchülerInnen und Studierenden gegeben, berichtet Hykel.
28. märz 2018 taz
Peter Nowak
Zurück Flüchtlinge sollen sich den Tigern zum Fraß vorwerfen
Angewandter Humanismus oder Ausdruck eines regressiven Politikverständnisses? Die aktuelle Kunstaktion des Zentrums für Politische Schönheit hinterlässt viele Fragen
Die Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen nimmt von der EU und ihren Mitgliedstaaten keine finanziellen Mittel mehr [1] an, weil sie nicht teilhaben wollen an einer Politik der Flüchtlingsabwehr, die offizielle EU-Politik ist. „Wir sehen in unseren Projekten jeden Tag, welches Leid die aktuelle EU-Politik verursacht“, begründet Florian Westphal, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Deutschland, die Entscheidung. Er präzisiert:
„Die verheerenden Auswirkungen der EU-Abschottungspolitik für Menschen auf der Flucht, besonders für verletzliche Gruppen wie Schwangere, Kinder und unbegleitete Minderjährige, erleben unsere Teams täglich – in Europa, an dessen Außengrenzen und bis in die Herkunftsländer hinein.“
Mit diesem Schritt reißt eine große NGO der EU, aber auch den Politikern all ihrer Mitgliedstaaten die humanitäre Maske vom Gesicht. Die Reaktionen der Politiker, die alle Bedauern über diesen Schritt heucheln, zeigen, dass die Aktionen getroffen haben.
Suche nach einem Retter des römischen Reiches
Während hier der Mythos der helfenden Politiker entlarvt wird, geht das Zentrum für Politische Schönheit [2] mit seiner neuesten Aktion einen anderen Weg. Hier wird wieder einmal an die Politik appelliert, doch bitte einen humanitären Schritt zu tun und sich zum Retter des „europäischen Reiches“ aufzuspielen. Als erste Adresse für diesen Retter hat sich das Künstlerkolletiv den scheidenden Bundespräsidenten Joachim Gauck ausgesucht.
Um seinem Ego zu schmeicheln, haben sie sogar ein Flugzeug nach ihm benannt [3]. Die „Joachim I“ soll syrische Flüchtlinge, die in Deutschland einen Aufenthaltsstatus bekommen würden, Ende Juni nach Berlin bringen. Dann müssten sie nicht die gefahrvolle und teure Dienstleistung der Schlepper in Anspruch nehmen.
Der Grundgedanke ist richtig. Die Forderung nach sicheren Transitrouten für Geflüchtete wird in der Flüchtlings- und Antirassismusbewegung schon lange erhoben. Doch dort wird sie nicht als Akt eines politischen Retters verstanden, sondern als eine Aufgabe für die außerparlamentarische Bewegung, möglichst länderübergreifend einen gesellschaftlichen Druck zu entwickeln, der solchen Forderungen politisches Gewicht verleiht. Im Zeichen eines europäischen Rechtsrucks ist es nicht einfach, einen solchen Druck zu entwickeln.
Nun stattdessen an edlen Retter zu appellieren, ist aber nur regressiv.
Hinzu kommt noch, dass die Kampagne die komplizierte juristische Lage vereinfacht, damit sie besser passt. Einreisen per Flugzeug sei für Flüchtlinge einfach, wird vermittelt. Der Fokus wird auf den <x>Paragraphen 63::https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/BJNR195010004.html<x> des Aufenthaltsgesetzes gelegt, der theoretisch von der Bundesrepublik verändert werden könnte. In einem Spiegel-Artikel zum Thema „Warum sie nicht per Flugzeug kommen können“ [4] wird auf eine EU-Richtlinie 2001/51/EG verwiesen, welche die Einreise mit einem Flugzeug untersagt.
Die könnte nun aber nicht in einem Gnadenakt von Gauck außer Kraft gesetzt werden. Da stellt sich doch die Frage, ob diese Zusammenhänge extra weggelassen werden, damit das besser zu einer Kampagne passt, die zu keinem Erfolg führen kann und soll.
Das Kampganen-Konzept unterstellt, dass es nur auf den Willensakt des Einzelnen ankommen würde. Gesellschaftliche Interessen, Klassen- und Machtverhältnisse spielen beim Zentrum für politische Schönheit keine Rolle. Das war bereits bei den früheren Aktionen der Gruppe ein Problem. Allerdings war es in den Aktionen trotz der strikten Regie der Künstler noch immer möglich, politischen Eigensinn einzuschmuggeln, der die zutiefst elitären Staats- und Politikvorstellungen des Künstlerkollektivs etwas entgegenwirkte. So gelang es im letzten Jahr bei der Aktion Die Toten kommen [5], Antirassisten, die sich am Protestmarsch zum Regierungsviertel beteiligten, die Zäune um den Rasen des Bundestags zu stürmen und eine Menge von Gräbern aufzuschütten. Die wurden zusammen mit den Kreuzen zu einem Symbol für die tödliche bundesdeutsche Flüchtlingspolitik.
„Nur im Theater kann man Flüchtlinge den Tigern zum Fraß vorwerfen“
Doch bei der aktuellen Aktion „Flüchtlinge fressen“ ist es kaum möglich, solche Spuren des emanzipatorischen Eigensinns in ein zutiefst regressives Konzept einzuspeisen. Höhepunkt der Aktion ist dieses Mal keine Aktion mit Beteiligung einer gewissen kritischen Öffentlichkeit.
Vielmehr sollen am 28.Juni – wenn sich weder Gauck noch der Papst dazu bereit erklären, den „imperialen Retter des Humanismus“ zu spielen, wie ihn die Ideologen hinter dem Zentrum für politische Schönheit verstehen – Geflüchtete vier Tigern zum Fraß vorgeworfen werden.
Die sind derweil in einer Art römischen Manege vor dem Berliner <x>Gorki-Theater::http://www.gorki.de/<x> in Berlin-Mitte untergebracht und können durch ein Fenster beobachtet werden. Die sibirischen Tiger, die für das Stück aus Libyen stammen sollen, sind die eigentliche künstlerische Intervention des Zentrums für politische Schönheit. Durch sie bekommt die ansonsten zwischen Größenwahn und Belanglosigkeit schwankende Spendenaktion die nötige Aufmerksamkeit.
Im Künstlergespräch im Gorki-Theater betonte der Dramaturg Carl Hegemann [6] in der Kunst könne man Geflüchtete auffordern, sich den Tigern zum Fraß vorzuwerfen. Als politische Aktion wäre das nicht möglich. Damit hat Hegemann erfreulicherweise den Charakter der Aktion klargestellt. Es ist eine besondere Kunstaktion und als solche hat sollte sie auch betrachtet werden.
Nur stellt sich dann die Frage, warum die Aktion nicht in den Feuilletons diskutiert und kritisiert wird und stattdessen auf den Politikseiten Platz findet? Das ist nicht belanglos. Als künstlerische Intervention hat die Aktion durchaus ihren provokativen Charakter und auch einen gewissen politischen Gehalt. #
Wird sie aber als politische Aktion verstanden, müsste ihr durch und durch regressiver Gehalt im Mittelpunkt der Kritik stehen. Eine politische Aktion, die an den einsamen Retter der Zivilisation im Vatikan oder Bundespräsidentenamt appelliert, kennt keine Staatskritik und will sogar noch den bürgerlichen Parlamentarismus zugunsten der edlen Tat des Einzelnen ersetzen.
Bild vom verzweifelten Flüchtling
Genau so problematisch ist das Bild von Geflüchteten, das durchgängig in den Videos und den Erklärungen zur Aktion gezeichnet werden. Es wird das Bild von verzweifelten, dem Tod geweihten Menschen gezeichnet, die nur durch eine Spende für Joachim I noch gerettet werden können. Das ganze wird garniert mit Bildern von Flüchtlingskindern, die sich bei den edlen Rettern bedanken. Damit wird unterschlagen, dass die Geflüchteten politische Subjekte sind, die Entscheidungen für sich treffen, die Grenzen überwinden. Der Höhepunkt der Victimisierung von Geflüchteten ist erreicht, wenn Geflüchtete gesucht werden, die sich freiwillig den Raubtieren zum Fraß vorwerfen.
„Haben Sie einen Flüchtlingshintergrund? Haben sie Angehörige verloren? Sind Sei verzweifelt? Dann sind sie dafür qualifiziert, sich als Futter für die Tiger zu bewerben.“
In den letzten Jahren haben immer wieder Flüchtlinge Suizid verübt, aus Angst vor der Abschiebung oder wegen der schlechten Lebensverhältnisse in den Unterkünften. Alljährlich dokumentiert [7] die Antirassistische Initiative Berlin solche Fälle. In den letzten Jahren haben immer wieder politisch engagierte Geflüchtete ihren Körper zur Waffe gemacht. Sie organisieren Hunger- und Durststreiks. Dadurch hat die Schweizer Publizistin Sabine Hunzinker von diesen politischen Kampfformen erfahren. Sie hat im letzten Jahr dazu das Buch „Protestrecht des Körpers – Einführung zum Hungerstreik in Haft“ herausgegeben [8].
Andere Flüchtlinge drohten vom Dach einer Berliner Unterkunft zu springen, um ihre Räumung zu verhindern. Hier war die Überlegung, den eigenen Körper als Waffe einzusetzen, Teil einer Widerstandsperspektive. Doch Flüchtlinge als politische Subjekte kommen in der Kampagne des Zentrums für politische Schönheit nicht vor.
http://www.heise.de/tp/news/Fluechtlinge-sollen-sich-den-Tigern-zum-Frass-vorwerfen-3241117.html
Peter Nowak
Links:
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Angriffe an der Tagesordnung
345 Flüchtlinge durch Attacken im vergangenen Jahr verletzt / Dokumentation belegt Gewalt gegen Schutzsuchende
Während in Politrunden über die Gefahren diskutiert wird, die Deutschland aus dem »Flüchtlingsstrom« erwachsen, sind Flüchtlinge realer Gewalt ausgesetzt, wie eine Dokumentation erneut belegt.
Eine brennende lebensgroße Strohpuppe, ein drei Meter hoher Galgen, ein Holzkreuz in Flammen oder aufgepflockte Schweinsköpfe vor Flüchtlingsunterkünften. Abscheuliche rassistische Vorfälle, doch schwerer als diese finden häufig Angriffe auf Flüchtlinge den Weg in die Medien. Seit 23 Jahren sammelt die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) Fälle von Gewalt gegen Flüchtlinge – von institutioneller wie solcher, die Flüchtlingen auf der Straße entgegenschlägt; sie nennt ihre Dokumentationen die »Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik«. Die Arbeit der Aktivisten hat mit den jüngsten Entwicklungen eine neue Aktualität erfahren. In ihrer 23. aktualisierten Ausgabe haben sie eine erschreckende Entwicklung mit vielen Beispielen und Zahlen untermauert.
Die Anzahl der Gewalttaten mit Verletzungs- oder Tötungsabsicht gegen Geflüchtete ist in einigen Bundesländern immens angestiegen – und damit auch die Anzahl der Opfer. »Bei Angriffen auf Wohnunterkünfte und auf der Straße wurden im vergangenen Jahr mindestens 345 Flüchtlinge verletzt. Diese Zahl ist dreimal höher als im Jahre 2014 und elfmal höher als 2013«, heißt es in der Dokumentation. Durch Brandstiftungen, Werfen oder Schießen von Gegenständen wie Molotow-Cocktails, Böllern, Steinen, Flaschen, Metallkugeln, Silvester-Raketen auf bewohnte Flüchtlingsunterkünfte und Wohnungen und durch direkte tätliche Angriffe in den Wohnbereichen kamen nach ARI-Recherchen im letzten Jahr mindestens 107 Bewohner körperlich zu Schaden. Diese Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr 2,7-fach höher, im Vergleich zu 2013 15,3-fach. Auch durch Angriffe auf der Straße, in Bussen, an Haltestellen, in Straßenbahnen oder Supermärkten wurden mindestens 238 Flüchtlinge zum Teil schwer verletzt. Das sind dreimal so viele wie noch 2014 und zehnmal mehr als 2013. Wie in den vergangenen 23 Jahren werden in der aktualisierten Dokumentation überdies die verschiedenen Formen staatlicher Gewalt gegen Flüchtlinge dokumentiert.
Sechs Suizide und 94 Selbstverletzungen und Suizidversuche von Flüchtlingen im letzten Jahr sind für Elke Schmidt von der ARI die Folgen eines anhaltenden staatlichen Drucks auf Schutzsuchende. »Existenzielle Angst vor der Abschiebung, jahrelanges traumatisierendes Warten und die zerstörerischen Lebensbedingungen im Rahmen der Asylgesetze nehmen den Menschen die Hoffnungen auf ein Leben in Sicherheit«, so Schmidt gegenüber »neues deutschland«.
Exemplarisch hat die ARI für den Monat September 2015 die verschiedenen Fälle von Gewalt gegen Flüchtlinge einzeln aufgelistet. Fast jeden Tag gibt es unterschiedliche Formen von Gewalt. Am 25. September wird zwei Geflüchteten, die in Dresden mit ihren Fahrrädern unterwegs sind, eine brennende Flüssigkeit ins Gesicht gesprüht. Sie müssen ambulant behandelt werden.
Auch Todesfälle, die öffentlich kaum wahrgenommen wurden, finden Eingang in die Dokumentation. So wurde am 1. September 2015 eine stark verweste Leiche unter einer Autobahnbrücke in Bayern gefunden. Dank der Dokumente in seinem Rucksack konnten der Tote identifiziert und die Todesumstände verifiziert werden. Es handelt sich um einen 17-Jährigen aus Afghanistan. Er gehörte zu einer Flüchtlingsgruppe, die Mitte Juli 2015 nachts auf der Autobahn unterwegs war. Vermutlich um einer Polizeikontrolle auszuweichen, kletterte der Mann über die Leitplanke und stürzte 20 Meter in die Tiefe. Für Elke Schmidt ist die Dokumentation ein Spielbild der Verhältnisse, denen Geflüchtete in Deutschland ausgesetzt sind. »Anhand von über 8000 Einzelgeschehnissen wird der gesetzliche, behördliche und gesellschaftliche Druck deutlich, den nur die wenigsten Flüchtlinge unbeschadet überstehen können«, betont Schmidt.
Wie bei allen bisherigen Dokumentationen ging der Präsentation der neuesten Aktualisierung ein langwieriger Rechercheprozess voraus. Alle Daten wurden gründlich gegenrecherchiert. Anfragen bei Polizei und Behörden sind nach Schmidts Angaben oft sehr zeitaufwendig und werden manchmal auch schlicht ignoriert. Im Zeitraum zwischen den 1.1.1993 und dem 31.12.2015 starben 188 Geflüchtete durch Selbstmord oder starben bei dem Versuch, der Abschiebung zu entgegen. 22 Flüchtlinge kamen in dieser Zeit bei rassistischen Angriffen ums Leben.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1011616.angriffe-an-der-tagesordnung.html
Von Peter Nowak
Selbstmord am Oranienplatz
Flüchtling sprang in den Tod
Am 7. Juli sprang ein Geflüchteter aus einem Haus in Berlin-Kreuzberg in den Tod. Der Suizid geschah in unmittelbarer Nähe des Protestcamps am Oranienplatz. Die Polizei gab die Information nicht an die Medien weiter.
Am Abend des 7. Juli sprang ein Mann aus der vierten Etage eines Gebäudes am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Als er gegen 19 Uhr gefunden wurde, konnte nur noch sein Tod festgestellt werden. Erst eine Woche später wurde der Suizid durch eine Pressemeldung des »Bündnisses gegen Rassismus« bekannt. In einer Pressemitteilung übt es heftige Kritik an Polizei und Medien. »Der Tod des Mannes wurde in keiner Weise von der Presse aufgegriffen. Polizei und Medien sehen sich offensichtlich nicht veranlasst, über diesen Tod zu berichten.«
Eine Mitarbeiterin der Pressestelle der Berliner Polizei bestätigte den Selbstmord. Der Mann habe vor seinen Suizid die Kontaktstelle für Flüchtlinge und Migranten aufgesucht. Dort habe er angegeben, seit drei Tagen in Deutschland zu sein und aus der Ukraine zu kommen. »Die Identität des Toten ist noch nicht geklärt. Die Ermittlungen laufen noch«, erklärt die Mitarbeiterin der Polizeipressestelle. Auch über die Hintergründe des Selbstmordes sei noch nichts bekannt. Momentan werde ein bei dem Toten gefundener Abschiedsbrief ausgewertet.
Die vom Bündnis gegen Rassismus angedeutete Vermutung, dass die Nachricht über den Selbstmord von der Polizei bewusst zurückgehalten worden sei, weist die Mitarbeiterin der Pressestelle zurück: »Wir berichten generell über Suizide nur dann, wenn daran ein öffentliches Interesse besteht. Das ist aber nur selten der Fall«. Diese Regelung solle auch die Privatsphäre der Betroffenen schützen.
Für das Bündnis gegen Rassismus ist der Selbstmord mehr als ein individuelles Schicksal. »Der Oranienplatz ist für uns ein Symbol des Refugee-Widerstands. Hier stand das Widerstandscamp, das für Geflüchtete aus vielen Städten zum Symbol für den Kampf gegen rassistische Sondergesetze geworden war«, erklärt einer der Aktivisten. Er erinnert daran, dass immer wieder Geflüchtete in Deutschland Selbstmord begehen, weil sie an den Verhältnissen, unter denen sie hier leben müssen, verzweifeln.
Das bestätigt auch Elke Schmidt von der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI). Sie gehört zu einem kleinen Team, das eine jährlich aktualisierte Dokumentation über »Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen« herausgibt. Die dort gesammelten Informationen werden immer akribisch auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft. Danach gab es in den vergangenen zwei Jahren allein in Berlin sechs Selbstmorde von Geflüchteten. Für die Jahre 1993 bis 2014 hat die ARI 179 Suizide von Flüchtlingen dokumentiert. »Einige verübten Selbstmord aus Angst vor ihrer Abschiebung, andere konnten das Leben in den Flüchtlingsheimen nicht mehr aushalten, die ihnen von den Ausländerbehörden zugewiesen wurden«, sagt Elke Schmidt.
Noch wesentlich höher ist die Zahl der Selbstmordversuche. Zwischen 1993 und 2014 versuchten 1383 Menschen ihrem Leben ein Ende zu setzen oder verübten Selbstverletzungen. Schmidt sieht in den bundesdeutschen Asylgesetzen einen wesentlichen Grund für diese Verzweiflungstaten. Erst Ende Juni hatte die Bundesregierung diese Gesetze erneut verschärft.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/978213.selbstmord-am-oranienplatz.html
Peter Nowak