Bundeskanzlerin Merkel und der ungarische Ministerpräsident werden uns gerne als die beiden Antipoden auf der EU-Bühne präsentiert. Nach politischer Ausrichtung ist der Ungar der Verteidiger des Abendlandes bzw. der Rechtspopulist und Merkel das freundliche bzw. naive Gesicht der EU. Und dann feiern beide eine Grenzöffnung vor 30 Jahren und tauschen ….
…..Höflichkeitsfloskeln aus. Da versteht mancher Orban-Freund in der konservativen Presse die Welt nicht mehr:
Bundeskanzlerin Angela Merkel blieb bei ihrem Treffen mit Ungarns Regierungschef Viktor Orbán erstaunlich unkritisch. Die Frage nach der Rechtsstaatlichkeit? Kein Thema. Was steckt hinter der Merkel-Wende?
Boris Kálnoky, Die Welt
Natürlich wird da wieder zu viel reininterpretiert. Da wird doch glatt vergessen, dass Orban und Merkel noch immer in der gleichen konservativen Parteienfamilie sind, auch wenn das nicht immer ohne Streit abgeht. Und auch Merkel und die Orban-Kritiker unter den europäischen Konservativen haben Orbans „Verdienste“ als Grenzwächter der EU nie in Frage gestellt.
Wenn Orban dann im Stil polemisch tönt, Ungarn sorge auch dafür, dass in Deutschland die Leute sicherer leben können, dann bekommt er nicht nur bei der AfD, sondern auch in den Ortsvereinen der Unionsparteien Applaus. Manche werden sich nun fragen, wie kann man sich als Grenzsicherer gerieren und gleichzeitig eine Grenzöffnung vor 30 Jahren feiern?
Das liberale Wunschkonzern vom Sommer ’89
Das wird nur zur Frage, wenn man den Sommer 1989 durch die linksliberale Brille sieht, wie sie die Band Kettcar in ihren Song „Sommer 89“ vertonten. Der vom liberalem Milieu vielgelobte Song beschrieb einen Mythos, dass da einige einfach Löcher in den Zaun geschnitten und damit die Grenzen geöffnet hätten.
Dann wird vom ungarischen 1989 zum „Herbst der Migration 2015“ eine klare Linie gezogen. Das ist Kitsch, der sich besonders staatstragend gibt, weil er in einer Strophe mit den linken Bedenkenträgern im eigenen Freundeskreis bricht. Das sind diejenigen, die daran erinnern, dass das ungarische Picknick mitnichten eine Aktion von antirassistischen Aktivisten war, die mit dem Bolzenschneider in der Hand Löcher in den Zaum schnitten.
Zur historischen Wahrheit gehört, dass das „paneuropäische Picknick“ seinen Namen deshalb trägt, weil es von der Paneuropa-Union, einer heute wenig bekannten Gruppe im Graubereich zwischen den Unionsparteien und der Ultrarechten initiiert wurde. Bekanntestes Mitglied war Otto von Habsburg, ein Rechtskonservativer, der auch keine Berührungsängste mit der „Braunzone“ hatte.
Über die Rechtswende der Paneuropa-Union nach dem Tod des Gründers schrieb die Bundeszentrale für Politische Bildung:
Danach übernahmen rechtskonservative Politiker, darunter Otto von Habsburg, die Paneuropa-Union. Sie gestalteten die Bewegung erfolgreich zu einer Europaorganisation um, die sich nicht zuletzt das im Ost-West-Konflikt „vergessene“ Mitteleuropa zum Thema machte. Damit fand die Paneuropa-Union v. a. in konservativen politischen Kreisen Anhänger. Sie ist bis heute eine der größten Europaorganisationen.
Bundeszentrale für Politische Bildung
Dass die Paneuropa-Union unter Otto von Habsburg keine Berührungsängste nach Rechtsaußen hatte, beschreibt das Antifaschistische Infoblatt:
Eine Gruppe prominenter Rechter begann nun, aus den Resten der alten PEU eine Sammlungsbewegung aufzubauen. Die Grundlagen waren ein strikter Antikommunismus, die gemeinsame Europaidee und das Christentum. Parteiübergreifend vereinten sie verschiedene Strömungen, die seit Jahren nebeneinander arbeiteten, z.B. die Abendländische Akademie, das Franco-nahe CEDI, die Deutschland-Stiftung, Teile der deutschen Vertriebenen, Monarchisten sowie Vertreter rechter Parteien und Regierungen Europas. Bis 1989/90 kooperierte die PEU immer wieder mit der extremen Rechten. Heute bestehen nur noch vereinzelt Kontakte dorthin, da der Antikommunismus als einendes Moment bedeutungslos geworden ist. Ein Trennstrich nach rechts wurde nur dann gezogen, wenn es um eine konkurrierende Europa- und Deutschlandpolitik ging.
Antifaschistisches Infoblatt
Rechter Duktus, dem Viktor Orban aus Überzeugung zustimmen kann
Auch heute versteckt die Paneuropa-Union ihre rechtskonservative Richtung keineswegs: So heißt es auf ihrer Homepage:
Die Befreiung der Völker Mittel- und Osteuropas vom Joch des Kommunismus hat eine neue Phase der europäischen Geschichte eröffnet, die die Chance auf die Vereinigung Europas in greifbare Nähe rückt.
Paneuropa-Union
Vor 1945 haben manche der Mitglieder und Bündnispartner der Paneuropa-Union „die Befreiung der Völker Mittel- und Osteuropas“ noch als Teil der Waffen-SS und der deutschen Wehrmacht zu bewerkstelligen versucht. So bekam der langjährige Vorsitzende der Paneuropa-Union, Erich Mende, noch im Frühjahr 1945 das Ritterkreuz am Bande. In einem Interview mit Günter Gaus fand Mende noch 1964 keine Kritik am NS:
Gaus: Wie lautete das Urteil des jungen Offiziers Mende?
Mende: Es war in den 30er Jahren positiv über den Staat, über das, was geschah, über die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, über mehr Ordnung und weniger Kriminalität. Ich hatte nach meinem Abitur 1936 und dann als Soldat keinen Anlass, negativ zu urteilen über das, was sich uns optisch politisch darbot. Im Gegenteil, manche Dinge haben mich sehr beeindruckt; insbesondere das Ordnungsbild des damaligen Staates.
Gaus: Wann begannen erste Zweifel an diesem Ordnungsbild?
Mende: Erste Zweifel begannen Ende des Jahres 1941 bei den ersten Rückschlägen im Mittelabschnitt der Ostfront kurz vor Moskau. Aber davor hatte es schon gewisse Nachrichten gegeben – nach dem Polenfeldzug, auch nach dem Frankreichfeldzug – über Säuberungen in den rückwärtigen Gebieten, die zum Teil zu Protesten der Generalität, aber auch zu sehr harten Urteilen bei den Gesprächen unter Offizieren geführt hatten.
Erich Mende im Interview mit Günther Gaus 1964
Linksliberaler Mythos, um zu den Siegern der Geschichte zu gehören
Als dieser Versuch gescheitert war, ging natürlich auch ein Mende auf Distanz zu manchen Erscheinungen des NS. Doch am meisten störte, dass der Krieg verloren wurde, und es nichts wurde, mit der „Befreiung vom Joch des Kommunismus“. Da ging die Paneuropa-Union neue Wege und war 1989 erfolgreich. Daher ist es auch nur konsequent, wenn Viktor Orban das „paneuropäische Picknick“ vor 30 Jahren feiert.
Die Organisation und ihr Duktus stimmen mit seiner Ideologie überein. Linke und linksliberale Geschichtsklitterung à la Kettcar hat nur den Zweck, dass sich auch manche mit der rechten Organisation versöhnen, die noch in den 1970er und 1980er Jahren mit Grund auf Distanz geblieben sind. Man will irgendwo zu den Siegern der Geschichte gehören.
Dabei wird vergessen, dass die Paneuropa-Union wie Orban ein starkes Mitteleuropa mit starken Grenzen propagiert. Insofern haben sie vor 30 Jahren mit dazu beigetragen, dass die Grenzen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden gewachsen sind. Verrenken mussten sich also nicht die Orbans und ihre Anhänger, wenn sie das paneuropäische Picknick feiern, sondern diejenigen, die es mythologisieren und irgendwie mit offenen Grenzen generell in Verbindung bringen wollen.
Dabei gelte es, an die Geschichte einer antistalinistischen Linken in Europa und darüber hinaus anzuknüpfen, die niemanden vom Kommunismus befreien wollten, sondern klarstellen, dass der Stalinismus und der Poststalinismus in Osteuropa eine Pervertierung des Kommunismus waren.
Das Ende der Relikte des Stalinismus wären dann die Voraussetzungen für neue Überlegungen über eine Welt jenseits des Kapitalismus. Das wäre ein Ansatz, der völlig konträr zu dem liegt, was die Paneuropa-Union propagierte und von Orban und Co. durchaus richtig verstanden wurde.
Missbraucht die AfD den Umsturz in der DDR?
Im Vorfeld des 30. Jahrestags des Mauerfalls werden solche Debatten auch in Deutschland an Bedeutung gewinnen. Die AfD propagiert im Wahlkampf in Ostdeutschland, dass mit ihrer Wahl die Wende 1989 vollendet würde.
Jetzt werfen Bürgerrechtler der AfD in einer Erklärung vor, sie würde das Erbe der sogenannten Friedlichen Revolution fälschlicherweise aneignen. Auch hier wäre Differenzierung angebracht.
DDR-Oppositionelle erinnern an die revolutionäre Phase der Ereignisse in der DDR vor 30 Jahren. Doch ihnen ging es in ihrem Kampf gegen die autoritäre DDR-Bürokratie gleichzeitig um einen Kampf für eine anarchistische und sozialistische Gesellschaft. Auf diese Tradition beruft sich die AfD nicht.
Sie sieht sich als Fortsetzung der Massen, die Deutschlandfahnen schwenkend bereits im Oktober 1989 gegen linke DDR-Oppositionelle vorgegangen sind. Es gibt heute noch die ostdeutsche Zeitung telegraph, die in der Tradition der linken DDR-Oppositionellen steht. Sie veröffentlicht auch Dokumente aus dem Herbst 1989, aus denen deutlich wird, dass die AfD sich durchaus als Vollstrecker der Wende sehen kann.
So schrieb ein Beobachter der so hoch gelobten Demonstrationen im November 1989 in den hektographierten Blättern des telegraph am 29.November 1989:
Aber es ist nicht mehr die gewohnte Leipziger Demo: überall Deutschlandfahnen, Transparente wie „Wiedervereinigung jetzt“, „Weizsäcker – Präsident aller Deutschen“, „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Während der Ansprachen verdichtet sich das Gefühl, unter die REPs geraten zu sein. Auf die wenigen klaren Absagen an die Wiedervereinigung (SDP Vereinigte Linke) ein Mensch aus Heidelberg)(sic!) folgen Pfiffe und der Schlachtruf „Deutschland einig Vaterland“ in Fußballstadionmanier. Selbst als ein Redner notwendige gute Nachbarschaft mit unseren polnischen und tschechischen Freunden fordert, wird er ausgepfiffen – diese Ausländerfeindlichkeit bekam Nahrung durch staatliche Stimmungsmache in der DDR in den letzten Tagen.. Nur vereinzelt andere Plakate: „Gegen Aufkauf der DDR durch die BRD- kein viertes Reich“. „Alle Herrschaftssysteme sind brutal, weil sie auf Gewalt aufbauen“, „Gegen Faschismus, Rassismus, Sexismus“ – auf der Rückseite die Faust, die das Hakenkreuz zerschlägt, „Umweltreich statt Deutsches Reich“. Wir sind nur ca. 50 Andersdenkende, hauptsächlich Punks und Anarchisten, und beschließen, in die entgegengesetzt Richtung zu laufen…. Aus der dumpfen Menge schlägt uns entgegen „Ihr seid das letzte“, „Schämt euch was“, „Geht erst mal arbeiten“, „Wichser“, selbst als „Stasischweine“ und „Faschos“ (Gipfel der Demagogie!) werden wir beschimpft. Plötzlich weiß ich, wie Adolf-Hitler-Wähler aussehen. Es riecht förmlich nach Pogrom“.
Aus dem telegraph vom 29. November 1989
Wenn sich die AfD auf diesen Teil der Wende bezieht, ist das keine Vereinnahmung, sondern nur konsequent. Es liegt an den Bürgerrechtlern, die sich von der AfD distanzieren wollen, erst einmal zu klären, wie sie zu den nationalistischen Aufwallungen vor 30 Jahren stehen.
Peter Nowak
https://www.heise.de/tp/features/Es-begann-mit-einem-rechten-Picknick-4501348.html