Ronald M. Schernikaus kurzes Leben scheint im Nachhinein wie eine Legende: ein schwuler Kommunist, in Niedersachsen geboren, geht freiwillig in die DDR. Er überlebte sie um ein Jahr, stirbt 1991 mit nur 31 Jahren an Aids. Zuvor konnte er noch sein Mammutwerk vollenden. „Legende“ hiess auch sein voluminöser Roman, der erst posthum veröffentlicht wurde. Bekannt wurde er wohl als …
… der letzte BRD-Bürger, der im Sommer 1989 die Staatsbürgerschaft der DDR annahm, als sich das Ende schon längst abgezeichnet hatte. Schernikau war das bewusst, doch es kümmerte ihn nicht. Er war das exakte Gegenteil eines Populisten – er war ein schlauer Kommunist. Das zeigte sich in seiner berühmten Rede auf der letzten Tagung des Schriftstellerverbands der DDR.
Vom Mass der Unterwerfung, das der Westen jedem Einzelnen abverlangt
Während viele der langjährigen Mitglieder schon nach den Westverlagen schielten, in denen sie unterkommen könnten, hielt das Neumitglied Schernikau eine völlig unzeitgemässe Rede. Mittlerweile können seine Worte als das Fundierteste bewertet werden, was zum Ende der DDR gesagt wurde:
Man braucht nur an diese Passagen erinnern:
„Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Mass an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt. Was Sie vorerst begriffen haben: Der Westen ist stark. Sie haben, statt das gute Geschäft Ihrer schlechten Regierung zu fördern, die Feinde der Regierung ins Land geholt. Sie haben sich einen Kulturminister geben lassen, der schon ein paar grünen Jungs vom Spiegel gegenüber vollkommen hilflos ist, eine widerliche Niederlage.“ Ronald M. Schernikau
Es ist natürlich kein Zufall, dass Schernikaus Rede kaum erwähnt wird, wenn heute über die Folgen vom Ende der DDR gesprochen wird. Das ist ein Zeichen dafür, dass in Schernikaus Rede mehr Wahrheit steckt, als in den vielen Texten, die vor allem zu Jahrestagen veröffentlicht werden.
Erinnerung an den jungen Schernikau
Schernikaus Rede wurde im Theaterabend am Magdeburger Schauspielhaus an die Wand gebeamt, allerdings erst im letzten Teil der 80minütigen Aufführung. Dort wird mit Kleinstadnovelle eines der frühesten Werke von Schernikau in der Regie von Florian Fischer auf die Bühne gebracht. Die zweite Kammer am Magdeburger Schauspielhaus ist wie der Raum eines grösseren Lokals ausgestattet. Das Publikum sitzt rund um die Tische und dazwischen agieren die drei Darsteller:innen Anton Andreew, Nora Buzalka, Lorenz Krieger.
In dem knapp 80 minütigen Theaterabend steht ein grosses Bett im Mittelpunkt. Dort findet ein Grossteil der Szenen statt. Wir werden in das Leben eines jungen Mannes geführt, der gerade erkannt hat, dass er schwul ist. Sehr sensibel wird die Beziehung mit einem Mitschüler dargestellt, die dann in einen Kleinstadtskandal endet. Denn der junge Mann erzählt Eltern und Freund*innen, er wäre verführt worden und sei keineswegs schwul. Daraufhin soll der angebliche Verführer von der Schule verwiesen werden. Doch der mobilisiert die Öffentlichkeit, linke Gruppen und die Schüler:innenselbstverwaltung, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre durchaus aktionsfähig waren.
Der drohende Schulverweis war in der niedersächsischen Kleinstadt dann doch nicht umzusetzen. Der junge Mann wurde auch von seiner Mutter unterstützt, die erklärte, wie stolz sie sei, dass ihr Sohn so offen mit seiner Sexualität umgeht und sich nicht zum Opfer homophober Erzählungen machen lässt.
Eine Würdigung von Irene Binz
Wer die Biographie von Ronald M. Schernikau kennt, weiss, dass „Kleinstadtnovelle“ viele biographische Elemente enthält. Schliesslich lebte er mit seiner sehr aufgeschlossenen Mutter in Lehrte, einer Kleinstadt zwischen Hannover und Braunschweig. Später erhält dann in der Aufführung die Mutter auch den Namen Irene Binz, den Schernikau seiner Mutter in seinen Büchern gegeben hat. Viele Jahre nach seinem Tod hat sie selber ein Buch unter diesen Namen veröffentlicht. Im hohen Lebensalter ist die überzeugte Kommunistin noch immer politisch aktiv. Sie hält auch das politische Vermächtnis ihres so jung verstorbenen Sohnes wach, welches in der Aufführung vor allem in Details angedeutet wird, die man zu lesen verstehen muss.
So sind am Bettrand Bücher von Brigitte Reiman und Erika Runge gestapelt. Beide Schriftstellerinnen und Kommunistinnen, die eine aus der DDR, die andere aus der BRD, waren enge Freundinnen des jungen Schernikau. Als er den Roman Kleinstadtnovelle veröffentlichte und in der BRD in einer linken Öffentlichkeit bekannt wurde, war er bereits aktives Mitglied der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SdAJ). Wenig später trat er in die DKP ein und wechselte später nach seinen Umzug nach Westberlin in die Sozialistische Einheitspartei Westberlin (SEW). Die hatte sich in den späten 1980er Jahren auch feministischen und subkulturellen Strömungen geöffnet.
Ein Höhepunkt des Stücks war eine Gesangseinlage. Die drei Darsteller:innen sangen eine Strophe des Lieds „Brot und Rosen“, die Hymne der proletarischen Frauenbewegung. Es war wie der ganze Abend eine angemessene Würdigung des Kommunisten, des Aktivisten der progressiven Schwulenbewegung, die auch feministisch war. Wer noch nichts von Schernikau kennt, wird durch den Theaterabend inspiriert, mehr von ihm lesen zu wollen. Auch wer Schernikaus Welt schon betreten hat, kann sich an dieser Aufführung erfreuen, die viele humoristische Elemente hat und doch voller Tiefgang ist.
Peter Nowak
Kleinstadtnovelle, von Ronald M. Schernikau, Schauspielhaus Magdeburg, 2 Kammer, 80 Minuten, Besetzung: Anton Andreew, Noro Buzalka, Lorenz Krieger, Regie: Florian Fischer
Weitere Termine im Schauspiel Magdeburg: 27.10, 06.11., 29.1, jeweils 19.30 Uhr
Weitere Termine und Details zu den Tickets finden sich hier: https://www.theater-magdeburg.de/inszenierungen/schauspiel/sz-20242025/premieren-2425/kleinstadtnovelle/#spielplan