Was ist am Maidan in der Ukraine 2014 wirklich passiert und warum zieht kaum jemand Parallelen zu den rechten Umsturzversuchen in den USA und in Brasilien?

Ein rechter Umsturz und dann die Opposition ausgebürgert

Es gab berechtigte Kritik unter anderem von dem LINKEN-Vorstandsmitglied Jan Ehling in der Zeitschrift analyse & kritik. Er monierte mit Recht, dass manche sich nur in geopolitischen Überlegungen im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ergehen. Die reale Situation in der Ukraine werde vergessen. Paul Simon schreibt in der Wochenzeitung Jungle World  „vom schrecklichen Dilemma der ukrainischen Gesellschaft“. Doch besteht das Dilemma wirklich nur in Putins Annexionsgelüsten. Lag das Dilemma nicht schon in dem rechtsoffenen Umsturz von 2014, wo eine Regierung gestürzt wurde, die im Konflikt zwischen der EU und Russland neutral geblieben ist?

Vor wenigen Wochen gab es noch eine parteiübergreifende Empörung als Sahra Wagenknecht im Bundestag der Bundesregierung vorgeworfen hat, einen Wirtschaftskrieg gegen Russland zu führen. Selbst bei der LINKEN gab es die üblichen Ausschlussforderungen. Ende Januar hatte Bundesaußenministerin Baerbock bei einer Konferenz des EU-Ministerrats ganz offen erklärt: „Wir führen einen Krieg mit Russland“. Wagenknecht hatte also noch untertrieben: Nicht einen Wirtschaftskrieg, sondern einen Krieg gegen Russland propagiert die Außenministerin jenes Staates, der vor 80 Jahren in Stalingrad schon mal lernen musste, was es heißt, Krieg gegen Moskau zu führen. Da ist es nicht verwunderlich, wenn die ebenso reaktionären kapitalistischen Politiker in Russland von der Wiederauferstehung …

… des Vierten Reiches warnen und damit eine Vokabel aufgreifen, die die deutschlandkritischen Linken in den frühen 1990er Jahren verwendeten. Sie warnten, dass Osteuropa mit der Wiedervereinigung bald zum deutschen Hinterhof werden könnte, dass die Denkmäler der Antifaschist*innen dort durch die von Naziverbündete ersetzt werden könnten und dass Deutschland schließlich auch Revanche für Stalingrad nehmen würde. Ein Großteil der Linken ziehe die Deutschlandkritiker*innen der Panikmache und Schlimmeres. Und die meisten Deutschlandkritiker*innen wurden auch schnell still. Dabei können sie 2023 beobachten, dass ihre Prognosen in Teilen von der Realität noch übertroffen werden. Eine deutsche Außenministerin, die den Krieg gegen Russland propagiert, Denkmäler des Antisemiten und zeitweiligen Hitler-Verbündeten Stefan Bandera sieht man in vielen ukrainischen Städten seitdem 2014 in Kiew ein rechter Umsturz gelungen ist.

Die Proud Boys der Ukraine heißen Asow

Das wird in der Regel sofort als russische Propaganda abgetan. Tatsächlich nutzen die russischen Nationalisten um Putin diese Ereignisse, um den Krieg zu rechtfertigen. Doch der Krieg wird auch von Moskau aus nationalistischen Gründen geführt und ist nicht zu rechtfertigen. Aber er hat eine Vorgeschichte und die begann spätestens 2014. Sie sollte untersucht werden, unabhängig davon, ob sich Putin – oder wer auch immer – ebenfalls darauf beruft. Es ist dann unbestreitbar, dass am Maidan 2014 ein stark von rechten Kräften getragener Umsturz gegen eine durch bürgerlich-demokratische Wahlen an die Macht gekommenen Regierung erfolgreich war und Politiker*innen aus Deutschland und den USA applaudierten. Es wäre falsch, wie einige Traditionslinke es tun, die Maidan-Ereignisse 2014 als einen vom Westen gesteuerten Putsch zu bezeichnen. Es gab innerukrainische Gründe für die Massenproteste. Die durch bürgerlich-demokratische Wahlen an die Macht gekommene Regierung war korrupt und hatte viel Zustimmung in der Bevölkerung verloren. Das konnten die rechten Kräfte nutzten, um dann in einer Phase, in der es ein Abkommen geben sollte, die Macht an sich zu reißen.

Man könnte sagen, in der Ukraine war am Maidan erfolgreich, was 2021 mit dem Sturm auf das Kapitol in Washington und Anfang Januar 2023 in Brasilien gescheitert ist, ein wesentlich von Rechten und Ultrarechten getragener Sturz einer durch bürgerlich-demokratische Wahlen an die Macht gekommenen Regierung. Tatsächlich sprachen brasilianische Linke nach dem gescheiterten Umsturzversuch von Bolsonaro-Anhänger*innen Anfang Januar 2023 vom brasilianischen Maidan, der aber im Gegensatz zum Kiewer Original schnell gescheitert ist. Der Vergleich könnte schon vorher ansetzen. In Brasilien wurde 2017 eine sehr heterogene Protestbewegung unter anderem gegen Fahrpreiserhöhungen bei Bussen von Rechten gekapert. Damit wurde ein Klima geschaffen, das zur Präsidentschaft Bolsonaros führte. Auch der Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 kann als amerikanischer Maidan bezeichnet werden. Was in den USA die Proud Boys waren, ist in der Ukraine die Asow-Bewegung. Müssten da die Ereignisse 2014 am Kiewer Maidan nicht eigentlich ein Argument gegen die Unterstützung der Regierung in Kiew sein?

Opposition wird kriminalisiert und ausgebürgert

Und liefert die Selenski-Regierung nicht mit der permanenten Unterdrückung der Opposition im Land viele Gründe dafür, keine Waffen dorthin zu liefern? Wer hat schon mitbekommen, dass Anfang Januar dieses Jahres die ukrainische Regierung vier führende Oppositionelle ausbürgern ließ. Sie verloren ihre Pässe und mussten das Land verlassen. Betroffene von der Ausbürgerung sind Wiktor Medwedschuk, sein Geschäftspartner Taras Kosak, der ehemalige stellvertretende Generalstaatsanwalt Renat Kuzmin sowie der Geschäftsmann Andrei Derkatsch. Letzterer war fraktionslos, die drei anderen gehören der „Oppositionelle Plattform – für das Leben“ an, die in deutschen Medien meistens mit dem Adjektiv „prorussisch“ versehen wird. Besser wäre wohl, sie als bürgerlich-neutralistisch zu beschreiben. Es handelt sich um eine pro-kapitalistische ukrainische Partei. Doch sie tritt für eine Ukraine ein, die eine Brückenfunktion zwischen der EU und der russischen Welt einnehmen sollte, ohne sich an eine Seite anzubinden. Das war die Politik der Ukraine bis zum Maidan-Umsturz 2014 und damit ist die Ukraine so schlecht nicht gefahren.

Übrigens handelt es sich bei der „Oppositionellen Plattform – für das Leben“ um eine politische Formation, die der gegenwärtigen Regierung bei bürgerlichen Wahlen hätte gefährlich werden können. Vorher wurden schon nominal linke Organisationen wie die Kommunistische Partei der Ukraine verboten, die allerdings aus emanzipatorischer linker Sicht kritisch zu betrachten sind, vertreten sie doch ein konservatives Gesellschafts- und Familienbild, und manche dieser Gruppen haben wenig Distanz zur russischen Regierung. Trotzdem ist die Repression gegen diese Organisationen zu verurteilen, weil sie durchaus Teile der ukrainischen Bevölkerung repräsentieren. Die durch den Maidan-Umsturz an die Macht gekommene Regierung will mit der Repression gegen immer mehr Oppositionelle ihre Macht behaupten. Auch gegen die reaktionäre ukrainische Kirche, die weiterhin an Kontakten mit Moskau festhalten will, werden Razzien angesetzt. Der durch den Maidan-Umsturz entstandene Machtzirkel befürchtet, bei bürgerlich-demokratischen Wahlen wieder abgewählt werden könnten. Das wollen sie mit der Ausbürgerung und Kriminalisierung der Opposition verhindern. Das fürchten auch ihre Unterstützer aus dem globalen Westen, besonders aus Deutschland und den USA. Wäre diese Ausbürgerung der Opposition nicht für die gesellschaftliche Linke ein Grund mehr, die Beziehungen zu der ukrainischen Regierung zu überprüfen und auf keinen Fall dorthin noch Waffen zu liefern?

Statt geopolitische Überlegungen über die Verhältnisse in der Ukraine reden

Es gab berechtigte Kritik unter anderem von dem LINKEN-Vorstandsmitglied Jan Ehling in der Zeitschrift analyse & kritik. Er monierte mit Recht, dass manche sich nur in geopolitischen Überlegungen im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ergehen. Die reale Situation in der Ukraine werde vergessen. Paul Simon schreibt in der Wochenzeitung Jungle World  „vom schrecklichen Dilemma der ukrainischen Gesellschaft“. Doch besteht das Dilemma wirklich nur in Putins Annexionsgelüsten. Lag das Dilemma nicht schon in dem rechtsoffenen Umsturz von 2014, wo eine Regierung gestürzt wurde, die im Konflikt zwischen der EU und Russland neutral geblieben ist? Dafür gab es durchaus in großen Teilen der Bevölkerung Unterstützung. Darauf hat der emeritierte Professor der Osteuropageschichte an der Universität Regensburg Klaus Buchenau in einem in der Wochenzeitung Freitag 3/2023 abgedruckten Text hingewiesen. 

Demokratische Zustände in der Ukraine wiederherstellen 

Und könnte es nicht ein Teil der Lösung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine sein, wenn die Konsequenzen des Maidan-Umsturzes überwunden würden? Müsste nicht Druck auf die Ukraine ausgeübt werden, alle nach 2014 in der Ukraine verbotenen Parteien wieder zuzulassen? Sollten nicht dann von internationalen Organisationen überwachten Neuwahlen anberaumt werden? Dann müsste auch der Krieg und die Kriegsverbrechen auf allen Seiten von einem unabhängigen Gremium aufgearbeitet werden, die in der Folge des Maidan-Umsturzes im Osten der Ukraine verübt wurden. Dazu gehört auch die Brandstiftung im Gewerkschaftshaus von Odessa am 2. Mai 2014 das 44 Maidan-Gegner*innen das Leben kostete. Niemand wurde dafür bisher zur Verantwortung gezogen, und der Wertewesten mit Samt des bellizistischen linken Feigenblätter schweigt dazu. Das aber wären Schritte, um eine unabhängige Ukraine wieder herzustellen, das dann mit Russland in Verhandlungen treten könnte. Über die Zukunft der Krim sollte eine international beobachtete Volksabstimmung entscheiden. Das ist ein ambitioniertes Programm – aber es ist eine Alternative zur der Strategie, immer mehr und immer gefährlicheren Waffen in die Ukraine zu pumpen und in dem Land ein Stellvertreterkrieg verschiedener kapitalistischen Mächte zu führen. Hier versagen die meisten unabhängigen Linken, die oft die Mythen des deutschen und ukrainischen Nationalismus unhinterfragt übernehmen. 

Dabei müssten sich doch diese Linken und Liberalen sagen: Wir lehnen die rechten Aufstandsversuche in den USA 2021 und in Brasilien 2023 mit Recht ab. Aber warum schweigen wir zu dem so folgenreichen rechten Aufstand in Kiew 2014? 

Peter Nowak ist gemeinsam mit Clemens Heni und Gerald Grüneklee Autor des Buches „Nie wieder Krieg ohne uns… Deutschland und die Ukraine.“