Die zentrale Aufgabe eines kritischen Journalimus in Kriegszeiten wäre ein Abstand zu Nationalisten und Nationalistinnen aller Seiten

Wider den eingebetteten Kriegsjournalismus

Dabei wäre es doch gerade im Zeichen der so viel beschworenen Diversität und Vielfalt sinnvoll, deutlich zu machen, dass in der Ukraine auch Menschen leben, die für keine Seite in den Krieg ziehen wollen, die desertieren wollen, die nicht einverstanden sind mit der Politik seit 2014. Wo bleiben diese Stimmen in der ukrainischen Perspektive?

„Die Jungs von ‚Asow‘ werden dort rauskommen und sie (die russischen Soldaten P.N.) verbrennen.“ zitiert das Portal Obosrewatel Oleksi Arestowitsch. Dabei handelt es sich um den Chef der ukrainischen Präsidialadministration, der hier ganz offen zu einem Kriegsverbrechen aufruft, das die ukrainischen Kameradschaften der Asow-Brigadenverüben sollen, die aktuell noch in einer Fabrik am Rande von Mariupol von russischen Truppen eingeschlossen sind. Arestowitschs Drohung erfolgte, nachdem der russische Präsident angekündigt hat, diese Fabrik nicht zu stürmen. Dieser Drohung mit faschistischem Terror durch einen offiziellen Repräsentanten der Ukraine folgte in der Mehrzahl …

… der Medien in Deutschland kein Aufschrei, der berechtigterweise erfolgt wäre, wenn solche Töne von der russischen Regierung gekommen wären. Dies ist nicht verwunderlich, denn die Medien in Deutschland von links bis weit rechts gerieren sich im Ukraine-Konflikt als eingebettete Journalisten und Journalistinnen, die selbst über die Nazis in der Ukraine keine kritischen Worte finden. Das betrifft auch Medien, von denen man eigentlich erwarten könnte, dass sie kritische Stimmen auch und gerade in Kriegszeiten zulassen. 

Pro-russische Stimmen nicht erwünscht

Dazu zählt die Wochenzeitung Freitag, die sich noch in der Corona-Pandemie über eine gewisse Diskussionsfreudigkeit zu den Corona-Maßnahmen auszeichnete. Dort publizierte über viele Jahre der Journalist Ulrich Heyden, der als einer der wenigen auch über die Zustände im Ostteil der Ukraine berichtete, wo es seit 2014 Krieg zwischen ukrainischen, russischen Nationalisten/Nationalistinnen und Separatisten/Separatistinnen gab. Ein Höhepunkt waren dieser Auseinandersetzungen war am 2. Mai 2014 der Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa, bei dem 48 Menschen umgekommen sind. In den meisten Medien in Deutschland wurde der Tod dieser „Prorussen“ als bedauerliche Tragöde bezeichnet, ohne die politischen Hintergründe zu benennen und Aufklärung zu fordern. Heyden gehörte hingegen zu den wenigen, der mit den Freunden/Freundinnen und Angehörigen der Getöteten sprach und sie in dem Film „Lauffeuer“ zu Wort kommen ließ. Der Film ist sicherlich nicht neutral oder objektiv, aber er vermittelt die Sichtweise der Menschen, die hierzulande meistens nur als Prorussen bezeichnet werden. Wären nicht in der aktuellen Kriegssituation solche Stimme besonders wichtig? Nicht weil sie eine angebliche Wahrheit benennen. Das ist weder die Aufgabe noch die Funktion von Medien, sondern weil sie andere Seiten in dem Konflikt zu Wort kommen lassen. Doch ausgerechnet jetzt kündigte die Freitag-Redaktion Ulrich Heyden, mit der Begründung, er würde beim Ukraine-Krieg die Verantwortung nicht nur bei Russland sehen. 

„Aber ein Autor mit dieser Haltung hat keinen Platz im Freitag – zumindest nicht solange, wie der Ukraine-Krieg dauert oder seine politischen Auswirkungen das Geschehen in Europa dominieren“, schrieb Freitag-Chefredakteur Philip Grassmann an Heyden. So gibt es in den meisten Medien in Deutschland kaum noch Autoren oder Autorinnen, die nicht einverstanden sind mit dem nationalistischen Kurs, den die Regierenden in der Ukraine seit dem Umsturz von 2014 eingeschlagen haben. Dass es sie noch gibt in der Ukraine, zeigte sich an den Ergebnissen der letzten Wahlen in Land, wo die als pro-russich bezeichneten Parteien durchaus ein politischer Faktor waren. Viele der Kandidaten/Kandidatinnen und Funktionäre/Funktionärinnen mussten entweder fliehen oder sind inhaftiert. Sie sind nicht gemeint, wenn es in den hiesigen Medien heißt „Wir sind solidarisch mit der Ukraine“. In solchen Slogans wird das Land als nationales Kollektiv imaginiert, ein Konstrukt, das immer Ausschlüsse und Nationalismus produziert. Der Wochenzeitung Freitag ist bei aller vorherigen Kritik hoch anzurechnen, dass dort eine in Deutschland lebende ukrainische Staatsbürgerin mit den Alias-Namen Marija Hirt begründen konnte, warum sie kein blau-gelb mehr sehen kann. Diese Frau stellt einige wichtige Fragen zur aktuellen Entwicklung in der Ukraine: 

„Man hat für den Kampf zahlreiche Häftlinge freigelassen, auch Gewalttäter und Mörder, wie jüngst in einer deutschen Zeitung stand. Laut Regierung sind ausländische Kämpfer in fünfstelliger Zahl im Land, ideologisch hoch motiviert, nicht selten rechtsradikal. Nach dem Krieg werden diese jungen Männer traumatisiert sein und zugleich euphorisch über den „Sieg“. Wer sammelt dann die Waffen wieder ein? Wer bringt die „Legionäre“ unter Kontrolle? Man muss nicht ängstlich sein, um überall, wo sich diese Kräfte dann bewegen können, wilde Rache an „Verrätern“ zu fürchten. Wer sollte das stoppen? Die Polizei und Justiz, die den Massenmord im Gewerkschaftshaus von Odessa nicht ahnden? Viele dieser Waffen werden in kriminelle Hände geraten. Auch darunter wird das Land noch lange leiden.“ Marija Hirt, freitag 13/2022
 

Was ist die ukrainische Perspektive?

Das sind einige der zentralen Fragen, die sich Journalisten und Journalistinnen stellen müssten, die über Länder berichten, die in Kriegssituationen sind. Doch genau solche kritischen Fragen vermisst man aktuell, wenn es um die Ukraine geht. Dabei kommen in den letzten Wochen in vielen Zeitungen Menschen aus der Ukraine zu Wort, was auch positiv ist. Doch es sind eben fast ausschließlich Anhänger*innen des aktuellen Systems, wie es sich nach dem Maidann-Umsturz etabliert hat. Ukrainer*innen wie Marija Hirt kommen in dieser ukrainischen Perspektive nicht vor, die immer wieder besonders eingefordert wird. Dabei wäre es doch gerade im Zeichen der so viel beschworenen Diversität und Vielfalt sinnvoll, deutlich zu machen, dass in der Ukraine auch Menschen leben, die für keine Seite in den Krieg ziehen wollen, die desertieren wollen, die nicht einverstanden sind mit der Politik seit 2014. Wo bleiben diese Stimmen in der ukrainischen Perspektive? Zudem wird bei den vielen Berichten, die jetzt von den eingebetteten Journalisten und Journalistinnen mit und ohne ukrainischen Pass in deutschen Medien veröffentlicht werden, selten der Wahrheitsgehalt überprüft und kritische Fragen unterbleiben. Nur ein Beispiel: Da schreibt eine Polina Fedorenko in der Taz über ihren Kriegsalltag in der Ukraine. Dabei erfahren wir beiläufig, dass die ukrainische Militärs schwer auszusprechende ukrainische Wörter nutzen, um Saboteure aufzudecken. „Man forderte diese dazu auf, dass Wort korrekt auszusprechen“, schreibt Fedorenko und vermisst hier kritische Nachfragen. „Wer sind diese ukrainischen Militärs? Wer sind die vermeintlichen Saboteure und wie werden sie erkannt? Welche Zwangsmittel werden angewendet, damit diese Menschen diese Begriffe auszusprechen? Was geschieht mit ihnen, wenn sie diese Begriffe in den Augen der Militärs falsch aussprechen? Was passiert mit den Menschen, die den Begriff nicht kennen und deshalb falsch aussprechen? Ist es möglich, die Menschen, die diesen sehr speziellen Sprachtest ausgesetzt waren, zu kontaktieren, damit man erfahren kann, ob sie die Prozedur ohne gesundheitliche Schäden überlebt haben? Das wären wichtige Fragen eines Journalismus, der sich gerade in Kriegszeiten im Streit zwischen verschiedenen Nationalismen auf keine Seite stellt. Vielmehr wäre es die wichtigste Aufgabe, die Perspektive der Opfer, der Deserteure und Deserteurinnen, der Oppositionellen und Geflüchteten auf beiden Seiten darzustellen. Nach diesem Anspruch hat der eingebettete Journalismus in Deutschland in den letzten Wochen versagt. Peter Nowak