Würde diskutiert, wie Menschen ein weniger angsterfülltes Leben ermöglicht wird, dann ginge es auch um die Sozial- statt um Identitätspolitik. Aber wer will das in der Partei?

Welche Identität verträgt die SPD?

Es ist schon bemerkenswert, wie sich da ein SPD-Politiker, der mal sogar als links galt, das Anliegen der "Gesellschaft für Deutsche Sprache", den Kampf gegen das Eindringen englischer Begriffe in die deutsche Sprache, zu eigen macht. Noch interessanter wäre die Frage, wie denn Thierse Hengameh Yaghoobifarah ins Deutsche übersetzten will?

Wolfgang Thierse war lange Zeit das bärtige Gesicht der Ost-SPD. Er war für das Moralische zuständig. Während er weder zu der von seiner Partei forcierten Hartz-IV-Politik noch zu den Menschenrechtskriegen in Opposition ging, galt er doch als das „Gewissen der SPD“. Dass er sich an einer Blockade gegen Neonazis beteiligte, brachte ihm in der außerparlamentarischen Linken Sympathien ein. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag vor acht Jahren war es still um ihn geworden. Doch seit einiger Zeit steht er wieder im Mittelpunkt einer Debatte über die …

… Identitätspolitik. So war einer der wenigen Politiker, der den Appell für freie Debattenräume unterschrieben hat, der sich explizit gegen eine „Cancel-Kultur“ wendet. Mit Verve wird gegen die Absagekultur und Kontaktschuld geschrieben.

Der Aufruf bleibt aber vage bei der Frage, wer damit gemeint ist. Nur so war es möglich, eine Schar an Unterzeichnern zu versammeln, an der sich erklärte Linke ebenso beteiligen wie zahlreiche Rechte. Männerrechtler Arne Hoffmann steht dort neben der erklärten Feministin Barbara Holland-Cunz und Gerhard Meggle fordert sein Recht auf Israelkritik ein. Auch regelmäßige Autorinnen und Autoren der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit sind dort zahlreich vertreten und mittendrin als einer der wenigen unterzeichnenden Politiker a.D.: Wolfgang Thierse.

„Mit mir müssen sie in der alten deutschen Sprache reden“

Mit der Kritik an Identitätspolitik hat der Politiker außer Dienst wohl ein neues Thema gefunden, mit dem er noch auf Zustimmung der schweigenden Minderheit zählen kann, wie er stolz berichtet. Mit Beiträgen in der FAZ und einem Interview im Cicerowurde Thierse zur positiven Projektionsfläche all jener, die nicht nur mit den Gendersternchen fremdeln.

Das zeigte sich gleich bei Thierses Antwort auf eine Frage des Cicero-Journalisten mit dem Wörtchen „woke“:

Herr Thierse, auf einer Skala von null bis Hengameh Yaghoobifarah, wie woke sind Sie?

Mit mir müssen Sie in der alten deutschen Sprache reden. Sonst verstehe ich Sie nicht.

Das heißt, Sie wissen nicht, was „woke“ bedeutet, und Sie kennen auch Hengameh Yaghoobifarah nicht?

Doch, ich kenne beides. Aber ich bin an einer Stelle leicht störrisch, wie Sie merken. Ich möchte mich nicht immerfort dem Sprachgebrauch anderer unterwerfen müssen. Wir haben eine sich gewiss verändernde, verbindende Sprache, der ich mich gerne bediene.

Aus Cicero-Interview mit Wolfgang Thierse

Da ist es schon bemerkenswert, wie sich da ein SPD-Politiker, der mal sogar als links galt, das Anliegen der „Gesellschaft für Deutsche Sprache“, den Kampf gegen das Eindringen englischer Begriffe in die deutsche Sprache, zu eigen macht. Noch interessanter wäre die Frage, wie denn Thierse Hengameh Yaghoobifarah ins Deutsche übersetzten will?

Wenn er sie doch angeblich kennt, dann kann man seine Einlassung nur so verstehen, dass die Journalistin, die wegen ihrer bissigen deutschlandkritischen Kolumnen öfter Ärger mit Rechten, aber auch mit Innenminister Seehofer hatte bekam, nicht zum alten Deutschland gehört. Mit solchen Andeutungen wird Thierse auch beim rechten Teil der Unterzeichner Zustimmung finden, die den Appell für freie Debattenräume ebenfalls unterzeichneten.

Doch statt kritischer Fragen bekam er große Solidarität, als sich die gegenwärtige SPD-Vorsitzende Saskia Esken gemeinsam mit Kevin Kühnert bei der AG Queer der SPD dafür entschuldigte, „dass „einzelne Vertreter der SPD ein rückwärtsgewandtes Bild“ haben. Sie hat erst kürzlich eine Diskussion der SPD-Grundwertekommission mit der Leiterin des FAZ-Feuilletons, Sandra Kegel, kritisiert, die einen aus Sicht der AG queerfeindlichen Artikel geschrieben hat.

Die AG Queer kritisierte die Veranstaltung („ein Desaster“), nahm aber die Partei gegen Vorwürfe in Schutz, sie sei queerfeindlich.

Weil die zweimalige SPD-Kandidatin für das Bundespräsidentenamt, der Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, für die kritisierte Diskussion der SPD-Grundwertekommission verantwortlich zeichnete, stand auch sie auf einmal in der Kritik.

Schwan solidarisierte sich mit Thierse und erklärte die Debatte für beendet, nachdem sich Esken und Kühnert bei ihr und Thierse entschuldigt hatten. Schwan scheint auch Kühnert noch immer nachzutragen, dass er ihr Angebot ablehnte, mit ihr gemeinsam als Duo für den SPD-Vorsitz zu kandidieren.

Um welche Identität geht es?

Doch, wenn auch der Burgfrieden in der SPD vielleicht wieder hergestellt ist, so dürfte die Diskussion in- und außerhalb der SPD damit noch lange nicht vorbei sein. Denn die zentrale Frage wurde gar nicht gestellt. Welche Identität wird denn hier kritisiert?

Schließlich stand Wolfgang Thierse für eine bestimmte Identität des DDR-Bürgerrechtlers mit theologischem Hintergrund und Bart, die er auch bediente. Wie die Bloggerin Detlef Georgia Schulze mit Recht feststellte, ist auch der klassischen Arbeiterbewegung „essentialistische „Identitätspolitik“ nie fremd gewesen.

„Nur hieß sie damals noch nicht so, sondern Arbeitertümelei, Ouvrierismus, Proletkult, ‚Kult der schwieligen Faust’…“

Es sind oft gerade die Arbeitertümler, die Arbeiter heroisch auf Sockel stellen wollen und nicht im Sinne von Marx für die Abschaffung alle Klassen und damit auch der Arbeiterklasse kämpfen, die jetzt gegen die Identitätspolitik neuer Schichten der Bevölkerung kämpfen und den Untergang des Abendlands beschwören, wenn englische Begriffe oder Gendersternchen Eingang in die deutsche Sprache finden.

Natürlich verdient auch diese neue Identitätspolitik Kritik, aber dabei sollte man wie der Journalist Jörn Schulz in einem Diskussionsbeitrag für die Jungle Worldnicht vom Kapitalismus schweigen. Schulz fasst einige Grundlagen zusammen, die bei einer Debatte um Identität nicht vergessen werden sollten.

Die Debatte über cancel culture ist die Begleiterscheinung einer längst nicht abgeschlossenen Umstrukturierung, die mittlerweile einer größeren Zahl von Menschen aus diskriminierten oder unterdrückten gesellschaftlichen Gruppen den Aufstieg oder zumindest ein weniger angsterfülltes Leben ermöglicht. Ihre Bewegungen kämpfen überwiegend für eine bessere Teilhabe an der kapitalistische Gesellschaft, nicht aber für deren Überwindung. Man mag das bedauern und einmal mehr das Versagen der Linken beklagen, aber es ist das gute Recht der Aufsteiger und Aufsteigerinnen, keine besseren Menschen zu sein.

Jörn Schulz, Jungle World

Wenn die SPD darüber diskutieren würde, wie allen Menschen ein weniger angsterfülltes Leben ermöglicht wird, dann ging es auch um die Sozial- statt Identitätspolitik. Doch das wollen weder Thierse und Schwan noch deren innerparteilichen Kontrahenten. (Peter Nowak)