Über selektive Solidarität in Zeiten des Krisen-Biedermeier

Wo bleibt die Luftbrücke für gestrandete Flüchtlinge?

Während das Schicksal der gestrandeten deutschen Urlauber, deren größter Unbill oft darin bestand, dass sie nicht wussten, ob sie für die längeren Aufenthalte auch noch das Hotel bezahlen müssen, die Medien in Deutschland bewegt, wird über die Menschen, die an der deutsch-türkischen Grenze gestrandet sind, weniger berichtet.

Die Corona-Krise ist jetzt auch schon einige Wochen alt und noch immer gibt es Meldungen von deutschen Touristen, die in irgendwelchen Ländern oder Kontinenten gestrandet seien. Mal werden Zahlen aus Peru, mal aus Australien verbreitet. Mal kommen auch die als „Gestrandete“ bezeichneten Personen zu Wort. Man hat den Eindruck, das größte Unglück für diese Menschen ist, dass sie …..

…. teilweise ihren Urlaub vorzeitig abbrechen müssen. Trotzdem werden dann schnell Vorwürfe laut, beispielsweise „Geiseln von Marokko“ zu sein, nur weil mal die Flüge nicht so punktgenau sind wie gewohnt.

Aus den Worten hört man das Erstaunen von Menschen heraus, die registrieren, dass man auch mit Euros mal in der Warteschlange steht. Da trifft die Publizistin Charlotte Wiedemann mit ihrer Polemik in der Taz schon einen Punkt, wenn sie über das „Krisen-Biedermeier“ schreibt:

Achtsamkeit und Vernunft sind Schlüsselbegriffe. Wer diese beiden Tugenden für sich selbst in besonderem Maße in Anspruch nimmt, erschafft dieser Tage ein neues Milieu, eine Art Krisen-Biedermeier. Das eigene regelkonforme Verhalten wird mit detaillierten Selbstverpflichtungen öffentlich bezeugt und die verordnete Entschleunigung als ein Schonraum erlebt – so öko-sauber, mit stillen Straßen, die nicht gegen Automobil-Interessen erkämpft werden mussten … Wer gegenwärtig von Freiheitrechten spricht, wird leicht der Verantwortungslosigkeit bezichtigt.

Charlotte Wiedemann, Taz

Es sind schlechte Zeiten für Menschen, die Rechte für alle Menschen für selbstverständlich halten.

Luftbrücke auch für die an der EU-Grenze Gestrandeten

Während das Schicksal der gestrandeten deutschen Urlauber, deren größter Unbill oft darin bestand, dass sie nicht wussten, ob sie für die längeren Aufenthalte auch noch das Hotel bezahlen müssen, die Medien in Deutschland bewegt, wird über die Menschen, die an der deutsch-türkischen Grenze gestrandet sind, weniger berichtet.

Es handelt sich um die Migranten, die zum Spielball der politischen Interessen von EU und der Türkei geworden sind. In der Corona-Krise ist das Thema eindeutig weit nach hinten gerückt. Trotzdem bemühen sich Initiativen wie die Seebrücke auch in Zeiten des Notstands weiter darum, die Forderung, dass die Lager an der türkischen Grenze evakuiert werden, und die Menschen die Möglichkeit haben, in die EU einzureisen, zu verbreiten.

Tatsächlich hätten diese Menschen Unterstützung auf jeden Fall verdient. Sie haben nicht die Möglichkeit, in Hotels abzuwarten, wann sie ausgeflogen werden. Sie müssen in provisorischen, viel zu engen Camps überleben und können nur hoffen, dass das Corina-Virus sie verschont. Es war vor allem Glück, dass in den überfüllten Camps das Virus bislang noch nicht weiter verbreitet wurde. Erste Infektionsfälle im Lager Ritsonalassen ahnen, dass dies nicht so bleiben wird (Anm. d. Red.: An dieser Stelle wurde nachkorrigiert: Irrtümlich war von keinen Fällen die Rede).

Die EU-Länder aber ignorieren die Notlage. Sie haben die griechische Regierung in den entscheidenden Wochen bei der Flüchtlingsabwehr unterstützt, obwohl unterschiedliche Beobachter eindeutig rechtswidrige Praktiken festgestellt haben. Dazu gehören die sogenannten Pushbacks: das auch zwangsweise durchgeführte Zurückschicken von Menschen aus dem EU-Raum.

Auch die Möglichkeit, Asylanträge zu stellen, war in Griechenland einen Monat ausgesetzt und ist wohl jetzt wieder möglich. Schon Wochen vor der Corona-Krise forderten Menschenrechtsaktivisten die Auflösung der Lager und die Einreise der Menschen in die EU, zumindest bis zur Prüfung ihrer Asylanträge.

Im März einigten sich die EU-Gremien darauf, dass zumindest Kinder aus dem Lager in verschiedenen EU-Ländern aufgenommen werden. In der Corona-Krise wurde der Beschluss erst einmal verschoben und er wird bis heute nicht umgesetzt.

Protestaktion wurde in Hamburg verboten

Wenn Organisationen wie die Seebrücke fordern, dass Migranten an der griechisch-türkischen Grenze die gleichen Rechte haben sollen wie deutsche Urlauber, dann bekommen sie in Zeiten von Corona massiven Gegenwind.

Das zeigt sich auch am polizeilichen Verbot einer für den 5. April geplanten Protestaktion – trotz der eingeplanten Schutzmaßnahmen. Auch das angerufene Hamburger Verwaltungsgericht gab dem Eilantrag zur Aufhebung des Verbots nicht statt, sondern entschied für die Beibehaltung des Verbots.

Geplant war eine Kunstaktion, bei der die Teilnehmenden – bei den Aktionen jeweils höchstens zu zweit und unter Beachtung des Sicherheitsabstandes von mindestens 2 Metern, wie die Verantwortlichen betonen – vor Ort alte Schuhe hinterlassen sollten oder ihre Fußspuren mit Kreide auf dem Platz markieren.

So sollte über die Zeit verteilt ein Bild entstehen, das sowohl zeigt, wie viele Menschen an der Aktion teilgenommen haben, als auch symbolisch für die Abwesenden, also insbesondere die geflüchteten Menschen in Moria und den anderen griechischen Lagern, steht.

Die Seebrücke betonte, dass sie gegenüber der Polizei sehr kooperativ war und “ bis zuletzt bereit war, die Aktion nach Vorgaben der Polizei und der Gesundheitsbehörde anzupassen, um das Risiko weiter zu minimieren“.

Trotzdem wurde die Aktion verboten und das Gericht war nicht bereit, das Verbot mit einen Eilantrag zu kippen.

Seebrücke Hamburg kommt zu einem ernüchternden Fazit

„Hamburg will überhaupt keinen Protest im öffentlichen Raum zulassen. Gleichzeitig werden die Menschen auf den griechischen Inseln ihrem Schicksal überlassen. Auch in den Hamburger Unterkünften für Geflüchtete und Wohnungslose ist kein sicherer Abstand zwischen den Menschen möglich. Aber unsere Aktion mit wenigen Menschen, zeitversetzt und mit großem Abstand soll ein Risiko sein?“, fragt Christoph Kleine von der Seebrücke Hamburg und Anmelder der Aktion.

Dass das Verwaltungsgericht die Geltung des Art. 8 Grundgesetz kurzerhand aussetze, bezeichnete Kleine als „bedenklichen Angriff auf den Kernbereich der Verfassung“. Hier wird noch einmal deutlich, dass im Krisen-Biedermeier die Rechte von Migranten, aber auch die demokratischen Rechte in Gefahr sind. Peter Nowak