Titus Engelschall, Elfriede Müller, Krunoslav Stojakovic, „Revolutionäre Gewalt – ein Dilemma“, Mandelbaum Verlag Wien 2019, 298 Seiten, 20 Euro, ISBN: 978-3-85476-687-2

Revolution und Gewalt

In dem Chile-Kapitel zeigt sich allerdings das anfangs benannte Problem, das sich durch das gesamte Buch zieht. Die Autor*innen bezeichnen den parlamentarischen Weg zum Sozialismus, wie ihn Allende anstrebte, als gewaltfrei. Mit einer anarchistisch begründeten Gewaltfreiheit und deren immer außerparlamentarischen Aktionsmitteln der direkten Aktion, des Streiks, Boykotts oder der Sabotage beschäftigen sie sich nicht.

Wie hältst Du es mit der Gewalt? Diese Frage beschäftigt Linke seit Jahrhunderten. Es gab zu allen Zeiten Anhänger*innen der konsequenten, revolutionären oder sozialistischen Gewaltfreiheit, für die sich mit Gewalt gegen Personen keine emanzipative Gesellschaft aufbauen lässt, die folgerichtig auch mit der gleichen Entschiedenheit gegen jede Staatsgewalt waren. Doch sie kommen in dem von Titus Engelschall, Elfriede Müller und Krunoslav Stojakovic im Mandelbaum-Verlag erschienenen Buch „Revolutionäre Gewalt – ein Dilemma“ nicht vor. Das zeigt sich schon auf dem Cover des Buches. Es zeigt das letzte Foto von ….

….. Salvador Allende vor dem Präsidentenpalast in der chilenischen Hauptstadt Santiago am Morgen des 11. September 1973, als der faschistische Putsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten bereits begonnen hat.Neben ihm sind bewaffneteMänner der revolutionären Bewegung MIR zu sehen, die den Präsidenten schützen. Auch Allende, der immer für einen parlamentarischen Weg zum Sozialismus eingetreten ist, hat eine Waffe in der Hand, die ihm bei einem Staatsbesuch von Fidel Castro überreicht worden war.

Bei einer Buchvorstellung inBerlin zitierte Elfriede Müllerdie undogmatische Sozialistin Carola Bloch, die 1988 erklärte: „Also ich glaube, dass man ganz ohne Gewalt nicht auskommt“. Diese Position versuchen die Herausgeber*innen in dem Buch nicht nur in dem ausführlichen Kapitel über die Allende-Regierung in Chile mit historischen Fakten zu begründen. Es wird dort gut herausgearbeitet, wie Allende immer wieder auf die Opposition zugegangen ist, um einen blutigen Bürgerkrieg im Land zu verhindern. Doch die rechte Opposition zielte mit Unterstützung der USA auf den blutigen Sturz der linken Regierung und der Zerschlagung jeglicher linker Opposition. In dem Chile-Kapitel zeigt sich allerdings dasanfangs benannte Problem, das sich durch das gesamte Buch zieht. Die Autor*innen bezeichnen den parlamentarischen Weg zum Sozialismus, wie ihn Allende anstrebte, als gewaltfrei. Mit einer anarchistisch begründeten Gewaltfreiheit und deren immer außerparlamentarischen Aktionsmitteln der direkten Aktion, des Streiks, Boykotts oder derSabotage beschäftigen sie sich nicht. Damit reproduzieren sie vielleicht unbewusst den herrschenden Diskurs über Gewalt und Gewaltfreiheit. Danach ist eine Gruppe dann gewaltfrei, wenn sie keine gewalttätigen Protestformen praktiziert, auch wenn sie die Staatsgewalt anerkennt und im Parlament einemStaatsbudget zustimmt, das die staatlichen Gewaltinstitutionen Armee und Polizei finanziert. In Allendes Konzept eines parlamentarischen Weges zum Sozialismus sollte die chilenische Armee eine zentrale Rolle spielen.Daher entwickelte Allende auch keine Vorstellungen, wie Armee und Polizei auf gewaltfreiem Wege hätten abgeschafft werden können.

Die Differenz zu den guevaristischen Gruppen, wie der MIR, bestand darin, dass diese die Armee durch eine Arbeiter*innen- Miliz ersetzen wollten. Beide Fraktionen stellen bewaffnete Organe nicht in Frage. Das be- deutet natürlich nicht, die Allende-Regierung und das Pinochet-Regime auf eine Stufe zu stellen. Die Allende-Regierung hatte es sich zum Ziel gesetzt, keine Polizei und kein Militär gegen Kämpfe von Fabrik- und Landarbeiter*innen einzusetzen und ist davon in ihrer Regierungszeit nicht abgewichen. Es gibt ein berühmt gewordenes Video, in dem Allende mit streikenden Arbeiter*innen einer Kupferfabrik diskutiert und ihnen sagt, dass er und seine Regierung nur mit Argumenten versuchen, sie vom Abbruch ihres Streiks zu überzeugen. Es wäre im chilenischen Kontext auch interessant gewesen, Konzepte der Basisbewegungen genauer zu untersuchen, die sich in der Zeit der Allende-Regierung unabhängig von der Regierung entwickelt hatten, von dieser aber nichtgewaltsam bekämpft wurden. Zu nennen sind da Land- und Fabrikbesetzungen, bei denen sich Rätestrukturen bildeten. In Interviews mit Aktivist*innen dieser Bewegungen, kurze Zeit vor dem Putsch, erklärten diese, dass sie wüssten, dass sie keine Chance hätten, gegen eine schwer bewaffnete Armee zu kämpfen. Dort wurde auch über gewaltfreien Widerstand geredet, ohne dass sie das konkretisierten. Leider gehen die Autor*innen in dem Buch nicht darauf ein.

Von Algerien bis zum langen Pariser Mai 68

Nicht nur an diesem in den1970er Jahren in der transnationalen Linken vieldiskutiertenchilenischen Beispiel, das hierausführlicher kritisiert wurde, setzen die Autor*innen gewalt- frei oft mit reformistisch gleich. Das geschieht auch bezüglich der 11 im Buch vorgestelltenhistorischen Ereignisse. Im Fall Kuba kommen die Autor*innen zu dem Fazit, dass sich die Revolution durch die Annäherungan die Sowjetunion verhärtet habe und erstarrt sei. Aus einer gewaltfreien Perspektive waren bereits die Todesurteile in der Frühphase der Revolution Teil des Problems. In dem Kapitel über Algerien wird er-freulicherweise mancher Revolutionsmythos zerstört. Dort wird gezeigt, dass die FLN aller linken Befreiungsrhetorik zum Trotz auch ein Sammelbecken der Nationalist*innen und Islamist*innen war. Opfer ihrer Gewalt waren zudem mehr inneralgerische Kritiker*innen als französische Kolonialist*innen. Das kann man in dem von vie-len Linken unkritisch gefeierten Film „Die Schlacht um Algier“ gut sehen. Ausführlich widmet sich das Autor*innen-Team auch der heute fast vergessenen Revolution in Haiti, als zwischen 1789 und 1825 Sklav*innen und farbige Zwangsarbeiter*innen die Postulate der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in die Realität umsetzen wollten. Doch die neuen Eliten gingen bald auch mit großer Gewalt gegen ihre Gegner*innen vor.

Sehr gelungen ist das Kapitel über den langen Pariser Mai 68.Hier folgt die dichte, fast poetische Beschreibung einer sozialen Bewegung, die für einigeWochen die Macht in einem europäischen Zentralstaat infrage stellte. Dabei spielte auf Seitender Protestierenden Gewalt einemarginale Rolle.

Peter Nowak

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