Über auf Züge wartende Arbeiter und das Elend der deutschen Militanzdebatte
Radikale Linke bereiten sich auf den G20-Gipfel in Hamburg vor. Am 19. Juni wollten sie für eine »kurze Unterbrechung der Reibungslosigkeit des G20-Gipfels in Hamburg« sorgen, in dem sie am frühen morgen Kabelstränge der Bahn in Brand setzten. Die Folge war vorhersehbar. Die Züge blieben stehen und auf den Bahnsteigen stauten sich die Wartenden. Ob die meisten von ihnen überhaupt mitbekommen haben, dass dieses Mal nicht das Wetter oder eine andere Form von höherer Gewalt für die Verspätungen verantwortlich war? In einer wenige Stunden später auf der linken Internetplattform Indymedia veröffentlichten Erklärung wird die Bahnunterbrechung in einen politischen Kontext gestellt. »Wir greifen ein in eines der zentralen Nervensysteme des Kapitalismus: mehrere Zehntausend Kilometer Bahnstrecke. Hier fließen Waren, Arbeitskräfte, insbesondere Daten«, ist dort zu lesen. Nach diesem Allgemeinplatz versuchen es die anonymen Verfasser mit Lyrik: »Massenhafter Widerspruch wird für die ganze Welt sichtbar werden. Und ermutigen. Nicht länger zu warten. Nicht mehr nur hoffen.«
Manche der am Bahnsteig gestrandeten Pendler dürften zu diesem Zeitpunkt schon längst die Hoffnung, dass bald doch ein Zug fährt, aufgegeben haben und vielleicht mit Leidensgenossen ein Taxi zum Arbeitsplatz genommen haben. Ihnen gegenüber klingt es wie Hohn, wenn das Schreiben mit dem Satz endet: »Das einzige Maß für die Krise des Kapitalismus ist der Grad der Organisierung der Kräfte, die ihn zerstören wollen.«
Glauben die Verfasser wirklich, der erste Schritt zur antikapitalistischen Organisierung bestehe darin, die Arbeiter am Bahnhof warten zu lassen? Das fragen sich nicht nur Linke, die sich immer von jeder militanten Aktion distanzieren, mit der sie nichts zu tun haben. Die Vorstellung, den antikapitalistischen Kampf voranzubringen, indem man Bahnkunden warten lässt, vermag nicht einmal die durchaus nicht staatsfreundlichen Autoren des Lover Class Magazine zu überzeugen. Sie verweisen darauf, dass solche Aktionen einen Großteil der Bevölkerung gegen die radikale Linke aufbringen, und bezeichnen diese Art der Militanz polemisch als »nihilistische Masturbation«. »Man zündelt für’s eigene Wohlbefinden, dem Gros der Gesellschaft, das man hasst und verabscheut, hat man nichts mehr mitzuteilen.«
In dem Buch »Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings« bezeichnet der linke Theoretiker Joshua Clover riots und Aufstände als wichtige Aktionsformen der vergangenen Jahre, weil durch den Wegfall der großen Industrie der Streik an Bedeutung verloren habe. »Der Streik ist eine kollektive Aktion, die sich um den Preis der Arbeitskraft und bessere Arbeitsbedingungen dreht, in der sich Arbeiter in der Position des Arbeiters befinden, und die im Kontext der kapitalistischen Produktion stattfindet, während der Aufstand den Kampf um die Preise und die Erhältlichkeit von Marktgütern inkludiert, seine Teilnehmer enteignet sind, und er im Kontext der Konsumtion bzw. der Zirkulation stattfindet«, fasst der Blogger Achim Szepanski die im Buch vertretenen Thesen zusammen.
Um solche Fragen sollte es in einer Militanzdebatte gehen. Denn die oft militanten Arbeitskämpfe im Logistiksektor unterschiedlicher Länder zeigen, dass Streiks keineswegs der Vergangenheit angehören. So dokumentiert Bärbel Schönafinger von der Onlineplattform labournet.tv in ihrem Film »Die Angst wegschmeißen« den jahrelangen Arbeitskampf in der norditalienischen Logistikindustrie. Auch die Streiks der Beschäftigten bei Amazon und die Arbeitskämpfe von französischen Lastwagenfahrern sorgen dafür, dass die Zirkulation von Waren und Daten ins Stocken geraten. Die Beschäftigten sind in diesen Kämpfen die Akteure und werden nicht zum Warten auf dem Bahnsteig gezwungen.
Die militanten Bahnverzögerer gehen in ihrer Erklärung mit keinem Wort auf diese Arbeitskämpfe ein. Diese nehmen dagegen im Aufruf des Bündnisses »Ums Ganze« zur Hafenblockade im Rahmen der Proteste gegen den G20-Gipfel am 7. Juli einen großen Raum ein. Zuvor hatte das Bündnis mit einen Brief an die Hafenbeschäftigten den Dialog gesucht. Auch das unterscheidet sie von den Bahnzündlern. Von deren Erklärung dürften die meisten Betroffenen nur aus den Medien gehört haben.
G20
https://jungle.world/artikel/2017/27/militante-bahnverzoegerer
Peter Nowak