Noch immer müssen ehemalige Arbeiter aus den Ghettos der NS-Zeit um ihre Rente kämpfen.
bis heute nicht als NS-Verfolgte anerkannt sind und von Sozialhilfe leben müssen. In diesem Zusammenhang ist auch der schäbige Umgang deutscher Einrichtungen mit denjenigen Überlebenden thematisiert worden, die in den Ghettos im von der Wehrmacht besetzten Europa für Hungerlöhne geschuftet haben und die noch immer um ihre Rente kämpfen.
»Gesucht werden: 2–3 gelernte Spengler (ev.umgeschult), ein Schmied, 2–4 Metalldreher, 2– 3 elektro und autogen. Schweißer, ferner Fachleute, die im Stande sind, aus Stroh Fußabstreifer und Flechtschuhe herzustellen. Curricula vitae werden sofort an die Wirtschaftabteilung Produktion gesandt werden.« Dieser Tagesbefehl des Ältestenrats des Ghettos Theresienstadt aus dem Jahr 1942 ist eines der wenigen erhalten gebliebenen Dokumente über Formen der freiwilligen Beschäftigung, die neben der Zwangsarbeit in den Ghettos des von der Wehrmacht besetzten Europas existierte. In der historischen Forschung wurden diese Arbeitsverhältnisse erst in den letzten Jahren in den Blick genommen. Wobei der Begriff der Freiwilligkeit unter den Bedingungen eines durch Hunger und Krankheit geprägten Ghettoalltags ein Euphemismus ist.
»Sie müssen sich das als eine riesige Fabrik von fast 120.000 um ihr Leben arbeitenden Menschen vorstellen, die eine letzte Hoffnung hatten, wie das der Ghettovorsitzende Rumskovskij auch immer wieder fast beschwörend sagte: Überleben durch Arbeit, beschrieb Jan-Robert von Renesse, Richter am Essener Landessozialgericht, die Situation der Ghettoarbeiter von Lodz. Die Arbeit befreite sie nicht vom Hunger und der alltäglichen Willkür der SS. Doch wer Arbeit hatte, bekam in aller Regel etwas Geld oder größere Essensrationen. Eine Überlebensgarantie war die Schufterei keineswegs.
Für die meisten Arbeiter führte der Weg vom Ghetto direkt in die Vernichtungslager. Die wenigen Überlebenden müssen noch immer um eine Rente kämpfen. Die deutschen Rentenversicherer entwickelten viel Kreativität bei ihrem Bemühen, die Bearbeitung der Anträge der hochbetagten Menschen zu verschleppen.
Dabei hatte der Bundestag 2002 einstimmig ein »Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus der Beschäftigung in einem Ghetto (ZRGB)« mit dem erklärten Anspruch beschlossen, schnell und unbürokratisch diesbezügliche Defizite des geltenden Entschädigungsgesetzes auszugleichen. Die Praxis aber war eine Zumutung für die Antragssteller. Denn sie mußten nun vor deutschen Bürokraten den Nachweis antreten, daß sie freiwillig im Ghetto gearbeitet hatten und der zusätzliche Teller Suppe oder eine Scheibe Brot Bestandteil der Entlohnung gewesen waren. Nur dann hatten sie Anspruch auf Rentenleistungen. Für die Versicherungsträger aber hatte es im Ghetto nur Zwangsarbeiter gegeben, für die die Rentenkassen nicht zuständig waren. Sie lehnten die Rentenanträge ab. In keinem anderen Entschädigungsbereich gab es eine so hohe Ablehnungsquote wie bei den Ghettorenten.
In keinem anderen Bereich gibt es so wenige Entschädigungen wie bei den Ghettoarbeitern
Für Michael Teupen ist eine Ablehnungsquote von über 90 Prozent ein ausgemachter Skandal. »Das Ghettorenten-Gesetz erweist sich in seiner Umsetzung durch die Rententräger eher als Verhinderungsgesetz«, moniert der Leiter der Beratungsabteilung des Bundesverbands Information und Beratung für NS-Verfolgte. »Das Besondere an diesem Gesetz war daß sehr intensiv dafür geworben wurde, auch von seiten der Bundesregierung und der Rententräger, Anträge zu stellen, daß aber fast alle Anträge abgelehnt wurden. Das hat es früher in der Rechtsgeschichte so nie gegeben«, meinte der Jurist Jan-Robert von Renesse. Er nahm die offizielle Intention des Gesetzes ernst, fuhr mit einem Richterkollegen nach Israel und in die USA, besuchte die Antragssteller und ließ über 100 Gutachten zur Situation in den Ghettos erstellen. Damit unterschied er sich von dem Großteil seiner Kollegen, die ca. 70.000 Rentenanträge nach Aktenlage ablehnten: »Sie haben die Möglichkeit, Historiker zu fragen, gar nicht wahrgenommen, sondern sich nur auf ganz wenige Quellen wie Wikipedia gestützt, die natürlich alles andere als seriös oder ausreichend sind, um eine ordentliche Entscheidung fällen zu können«, kritisiert von Renesse die Praxis der deutschen Rentenkassen, Tausende Ghettorentner auf Grund von veralteten Dokumenten und Fragebögen zu Zwangsarbeitern zu erklären, die keine Ansprüche auf Zahlungen aus der Rentenkasse haben. Die auf von Renesse zurückgehenden Gutachten konnten hingegen nachweisen, daß jene von ihrem geringen Lohn Abgaben an die Rentenkasse leisten mußten und geleistet hatten. Da war die deutsche Bürokratie gründlich. Die Arbeit des Richters blieb nicht ganz erfolglos. »Nach meiner Einschätzung haben diese Gutachten nicht nur für die Fälle von Herrn von Renesse, sondern auch für die Beurteilung der tatsächlichen Lage in den Ghettos eine große Bedeutung gehabt. Ich habe begründeten Anlaß zu vermuten, daß sie deswegen auch eine wesentliche Bedeutung für die Kehrtwende der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hatten«, sagt der Bochumer Rechtsprofessor Wolfgang Meyer. Er bezieht sich damit auf ein Urteil des BSG vom Juli 2009, das die Durchsetzung der Rentenansprüche der Ghettoarbeiter erleichtert.
Geklagt hat der Holocaust-Überlebende Joseph Haber, dem die Rentenversicherung Rheinland-Pfalz diese Ansprüche jahrelang verweigert hatte. Ihm muß die Rente rückwirkend bis 1997 nachgezahlt werden. In ihrer Urteilsbegründung formulierten die BSG-Richter einige Leitlinien im Umgang mit den Rentenanträgen.
So wurde klargestellt, daß »Entgelt« für die Arbeit im Ghetto jegliche Entlohnung, ob in Geld oder Naturalien, sein könne. Auch ob
es direkt an den Betroffenen oder einen Dritten floß, sei unerheblich für den Rentenanspruch. Für sein Engagement bekam von Renesse viel Anerkennung. Der Präsident des Internationalen Ausschwitz-Komitees, Noah Flug, sagte über ihn: »Für die Überlebenden hat von Renesse viel Positives gemacht. Wir möchten, daß alle das anerkennen.« Davon kann zumindest
bei seinen Vorgesetzten keine Rede sein. Schon 2008 verfügte der damalige Vorsitzende der 8. Kammer des Landessozialgerichts in
NRW, Ulrich Freudenberg von Renesses Beweisanordnungen aufzuheben, als dieser einige Tage erkrankt war. Danach ordnete Freudenberg an, daß von Renesse ihn über jede Beweisanordnung vorher informieren müsse. Ein Richterkollege schrieb in einem Leserbrief an den »Spiegel«, die Verhältnisse in den Ghettos seien auch ohne von Renesses Gutachten bekannt gewesen, was bei Historikern und Überlebenden für Erstaunen sorgte. Schließlich wurde von Renesse an einen anderen Senat versetzt, wo er nicht mehr für die Ghettorentner zuständig ist. Seine Bewerbung um den Senatsvorsitz wurde abgelehnt.
In den sechziger Jahren hat der Jurist Fritz Bauer, der gegen den Widerstand der großen Mehrheit seiner Zunft den Auschwitz-Prozeß durchgesetzt hat, einmal gesagt, daß er Feindesland betritt, wenn er sein Büro verläßt. Mehr als 40 Jahre später feiert sich Deutschland gern als Weltmeister in Sachen Aufklärung der eigenen Vergangenheit. Doch wenn es um die Abwehr der Ansprüche von Menschen geht, die die deutsche Vernichtungspolitik überlebt haben und sich erdreisten, Anträge an die deutsche
Rentenkasse zu stellen, reagieren die Verantwortlichen wie zu Bauers Zeiten.
Peter Nowak schrieb in KONKRET 8/10 über die Forderung nach einer Gedenkstätte auf dem Gelände
des Flughafens Tegel
aus: Konkret 6/2011