Was ist eigentlich am Maidan in der Ukraine 2014 wirklich passiert und warum zieht kaum jemand Parallelen zu den rechten Umsturzversuchen in den USA und in Brasilien? Nach einem Jahr Krieg gibt es viele offene Fragen, aber auch Alternativen zur Strategie, immer mehr Waffen an die Ukraine zu liefern.

Ein rechter Umsturz und Ausbürgerungen

Paul Simon schreibt in der Wochenzeitung Jungle World «vom schrecklichen Dilemma der ukrainischen Gesellschaft». Doch besteht das Dilemma wirklich nur in Putins Annexionsgelüsten? Lag das Dilemma nicht schon in dem rechtsoffenen Umsturz von 2014, wo eine Regierung gestützt wurde, die im Konflikt zwischen der EU und Russland neutral geblieben ist. Dafür gab es durchaus in grossen Teilen der Bevölkerung Unterstützung.


Zum ersten Jahrestag des Einmarsches Russlands in die Ukraine gab es in fast allen Medien Sonderberichte. Dort überwiegt die Darstellung, dass Russland ein friedliches Nachbarland überfallen hat. Doch stimmt das wirklich?
Gab es nicht eine Vorgeschichte, die spätestens im Jahr 2014 mit einem rechten Umsturz in Kiew begann, mit dem eine durch bürgerlich-demokratische Wahlen an die Regierung gekommene Regierung abgesetzt wurde?  Das wird in der Regel sofort als russische Propaganda abgetan. Tatsächlich nutzen die russischen Nationalist:innen um Putin diese Ereignisse, um den Krieg zu rechtfertigen. Doch der Krieg wird auch von Moskau aus nationalistischen Gründen geführt und ist nicht zu rechtfertigen. Aber er hat eine Vorgeschichte, und die …

… begann spätestens 2014.

Mit Applaus aus Deutschland und den USA
Es ist dann unbestreitbar, dass am Maidan 2014 ein stark von rechten Kräften getragener Umsturz gegen eine durch bürgerlich-demokratische Wahlen an die Macht gekommene Regierung erfolgreich war – und dabei applaudierten Politiker:innen aus Deutschland und den USA. Es wäre falsch, die Maidan-Ereignisse 2014 als ein vom Westen gesteuerten Putsch zu bezeichnen, so wie es einige Traditionslinke tun. Es gab innerukrainische Gründe für die Massenproteste. Die durch bürgerlich-demokratische Wahlen an die Macht gekommene Regierung war korrupt und hatte viel Zustimmung in der Bevölkerung verloren. Das konnten die rechten Kräfte nutzen, um dann in einer Phase, in der es ein Abkommen zwischen ukrainischer Regierung und der Opposition geben sollte, die Macht an sich zu reissen. Man könnte sagen, in der Ukraine war am Maidan erfolgreich, was 2021 mit dem Sturm auf das Kapitol in Washington und Anfang Ja­­nuar 2023 in Brasilien gescheitert ist: ein wesentlich von Rechten und Ultrarechten getragener Sturz einer durch bürgerlich-demokratische Wahlen an die Macht gekommenen Regierung. Tatsächlich sprachen brasilianische Linke nach dem gescheiterten Umsturzversuch von Bolsonaro-Anhänger:innen Anfang Januar 2023 vom brasilianischen Maidan, der aber im Gegensatz zum Kiewer Original schnell gescheitert ist. Auch zum Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 kann als amerikanischer Maidan bezeichnet werden. Was in den USA die Proud-Boys waren, ist in der Ukraine die Asow-Bewegung. 

Pass entzogen
Und liefert die Selenski-Regierung nicht mit der permanenten Unterdrückung der Opposition im Land viele Gründe dafür, keine Waffen dorthin zu liefern?
Wer hat schon mitbekommen, dass Anfang Januar dieses Jahres die ukrainische Regierung vier führende Oppositionelle ausbürgern liess? Sie verloren ihre Pässe und mussten das Land verlassen. Betroffen von der Ausbürgerung sind Wiktor Medwedschuk, sein Geschäftspartner Taras Kosak, der ehemalige stellvertretende Generalstaatsanwalt Renat Kuzmin sowie der Geschäftsmann Andrei Derkatsch. Letzterer war fraktionslos, die drei anderen gehören der «Oppositionelle Plattform – für das Leben» an, die in deutschen Medien meistens mit dem Adjektiv «prorussisch» versehen wird. Besser wäre wohl, sie als bürgerlich-neutralistisch und prokapitalistisch zu beschreiben. Sie tritt für eine Ukraine ein, die eine Brückenfunktion zwischen der EU und der russischen Welt einnehmen sollte, ohne sich an eine Seite anzubinden. Das war die Politik der Ukraine bis zum Maidan-Umsturz 2014 und damit ist die Ukraine so schlecht nicht gefahren.

Opposition wird kriminalisiert
Übrigens handelt es sich bei der «Oppositionellen Plattform – für das Leben» um eine politische Formation, die der gegenwärtigen Regierung bei bürgerlichen Wahlen hätte gefährlich werden können. Zuvor wurden schon nominal linke Organisationen wie die Kommunistische Partei der Ukraine verboten, die allerdings aus emanzipatorischer linker Sicht kritisch zu betrachten sind, vertreten sie doch ein konservatives Gesellschafts- und Familienbild, und manche dieser Gruppen haben wenig Distanz zur russischen Regierung. Trotzdem ist die Repression gegen diese Organisationen zu verurteilen, weil sie durchaus Teile der ukrainischen Bevölkerung repräsentieren. Der durch den Maidan-Umsturz entstandene Machtzirkel befürchtet, bei bürgerlich-demokratischen Wahlen wieder abgewählt werden könnten. Das wollen sie mit der Ausbürgerung und Kriminalisierung der Opposition verhindern. Wäre diese Ausbürgerung der Opposition nicht für die gesellschaftliche Linke ein Grund mehr, die Beziehungen zu der ukrainischen Regierung zu überprüfen und auf keinen Fall dorthin noch Waffen zu liefern?

Demokratische Zustände wiederherstellen
Paul Simon schreibt in der Wochenzeitung Jungle World «vom schrecklichen Dilemma der ukrainischen Gesellschaft». Doch besteht das Dilemma wirklich nur in Putins Annexionsgelüsten? Lag das Dilemma nicht schon in dem rechtsoffenen Umsturz von 2014, wo eine Regierung gestützt wurde, die im Konflikt zwischen der EU und Russland neutral geblieben ist. Dafür gab es durchaus in grossen Teilen der Bevölkerung Unterstützung. Darauf hat der emeritierte Professor der Osteuropageschichte an der Universität Regensburg Klaus Buchenau in einem in der Wochenzeitung «Freitag» (3/2023) abgedruckten Text hingewiesen.
Und könnte es nicht ein Teil der Lösung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine sein, wenn die Konsequenzen des Maidan-Umsturzes überwunden würden? Müsste nicht Druck auf die Ukraine ausgeübt werden, alle nach 2014 in der Ukraine verbotenen Parteien wieder zuzulassen? Sollten nicht dann von internationalen Organisationen überwachten Neuwahlen anberaumt werden? Dann müsste auch der Krieg und die Kriegsverbrechen auf allen Seiten von einem unabhängigen Gremium aufgearbeitet werden, die in der Folge des Maidan-Umsturzes im Osten der Ukraine verübt wurden. Dazu gehört auch die Brandstiftung im Gewerkschaftshaus von Odessa am 2.Mai 2014, das 44 Maidan-Gegner:innen das Leben kostete. Niemand wurde dafür bisher zur Verantwortung gezogen

Das Schweigen zum Aufstand
Das aber wären Schritte, um eine unabhängige Ukraine wieder herzustellen, die dann mit Russland in Verhandlungen treten könnte. Über die Zukunft der Krim sollte eine international beobachtete Volksabstimmung entscheiden. Das ist ein ambitioniertes Programm – aber es ist eine Alternative zu der Strategie, immer mehr und immer gefährlicheren Waffen in die Ukraine zu pumpen und in dem Land ein Stellvertreterkrieg verschiedener kapitalistischen Mächte zu führen. Hier versagen die meisten unabhängigen Linken, die oft die Mythen des deutschen und ukrainischen Nationalismus unhinterfragt übernehmen. Dabei müssten sich doch diese Linken und Liberalen sagen: Wir lehnen die rechten Aufstandsversuche in den USA 2021 und in Brasilien 2023 mit Recht ab. Aber warum schweigen wir zum so folgenreichen rechten Aufstand in Kiew 2014?

Wir veröffentlichen diesen Artikel von Peter Nowak als Gastbeitrag, der nicht zwingend die Positionen der Redaktion widerspiegeln muss. Der Autor veröffentlichte mit Clemens Heni und Gerald Grüneklee das Buche «Nie wieder Krieg ohne uns … Deutschland und die Ukraine», www.editioncritic.de