In Frankreich, Israel und Deutschland wird die Demokratie ausgehöhlt. Beteiligt sind rechte Parteien und Vertreter des "liberalen" Kapitalismus. Betroffen sind Renten, Wahlrecht und Justiz.

Notstand der bürgerlichen Demokratie

Im Januar lief auch in deutschen Kinos der Film "Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten", der die Proteste aus den Blickwinkel von vier Protagonisten und Protagonistinnen zeigt, die in der französischen Stadt Chartres die Gelbwesten-Aktionen organisierte. Die Stärke des Films ist es, dass er den Menschen Raum lässt, ihre Beweggründe zeigt, sich an den Protesten anzuschließen. In der letzten Szene des Films ist der Kreisel, an dem sich die Aktivisten über Monate bei Wind und Wetter getroffen habe, wieder leer. Dafür hängt jetzt eine Überwachungskamera sehr weit oben an einem Mast. Ist damit die Bewegung gescheitert? Vielleicht vorerst. Aber wir hören wie aus weiter Ferne die Parolen gegen ein System der Ungerechtigkeit, die in der Hochzeit der Bewegung tausendfach skandiert wurden. Damit vermittelt der Film das Gefühl, dass es vielleicht nur wieder eines Funkens braucht, damit die Plätze und Kreisen wieder voller Menschen werden, die sich nicht bieten lassen wollen, regiert zu werden. Vielleicht war die autoritäre Durchsetzung der Rentenreform der Funke?

Besonders stark war der Protest auch von israelischen Intellektuellen gegen den Besuch des rechtskonservativen Premiers Benjamin Netanjahu in dieser Woche in Berlin. Manche hatten sogar seine Ausladung gefordert. Die Liste der Unterzeichner ging über den Kreis der israelischen Nicht- und Antizionisten hinaus, die schon immer der Meinung sind, dass ausgerechnet Deutschland, das Land der Shoah, Israel in Sachen Demokratie belehren müsste. Was die Empörung dieses Mal vergrößerte, war die israelische Justizreform, die die Rechte der Justiz eingeschränkt. Nun sollte die Frage erlaubt sein, …

… ob es nicht grundsätzlich sinnvoll ist, den Einfluss der Justiz über politische Entscheidungen infrage zustellen. Wer sich beispielsweise an die Rolle der Justiz in Deutschland bei der Verhinderung des Mietendeckels erinnert, erlebt sie hauptsächlich als Wächterrat des Kapitalismus.

Ob solche Entscheidungen von gewählten Parlamenten nicht auch überstimmt werden könnten, sollte durchaus diskutiert werden. Eine Ausnahme müssten aber zumindest Fälle sein, in denen es um den Schutz von Minderheitenrechten geht. Die sehen die Kritiker von Netanjahu in Gefahr, weil der einer ultrarechten Regierung vorsteht, die in der Vergangenheit schon häufiger deutlich gemacht hat, dass ihr die Rechte für Minderheiten aller Art nichts gelten.

Doch ist bei der Empörung über den „Schaden für Israels Demokratie“ auch viel Heuchelei dabei. Denn der Schaden, den die französische Regierung aktuell der bürgerlichen Demokratie zufügt, wird auch von der liberalen Öffentlichkeit und ihren Medien wesentlich gleichmütiger hingenommen.

Rentenreform mit dem Holzhammer

So war es der taz nur einen kleinen Artikel auf der Auslandsseite wert, darüber zu berichten, dass die Regierung Macron die sogenannte Rentenreform, die für die überwiegende Mehrheit der Menschen vor allem ein späteres Renteneintrittsalter bedeutet, gleich ganz ohne das Parlament durchgesetzt hat, weil ihr dort die Stimmen fehlten.

Zuvor gab es von Seiten der Regierung hektische Versuche, bei der konservativen Opposition die nötigen Stimmen zusammenzubekommen, um das Gesetz durch das Parlament zu bringen. Die nach dem autoritären Putsch von General De Gaulle ausgearbeitete Verfassung Frankreichs macht es möglich, das Parlament auszuschalten.

Dort heißt es in Artikel 49:

Der Premierminister kann nach Beratung des Ministerrates vor der Nationalversammlung die politische Verantwortung der Regierung für die Abstimmung über einen Haushaltsgesetzentwurf oder einen Gesetzentwurf zur Finanzierung der Sozialversicherung übernehmen. In diesem Falle gilt dieser Entwurf als angenommen, wenn nicht innerhalb der darauffolgenden vierundzwanzig Stunden ein Misstrauensantrag eingebracht und unter den im vorangegangenen Absatz genannten Bedingungen angenommen wird. Einmal pro Sitzungsperiode kann der Premierminister auf dieses Verfahren auch bei einem anderen Gesetzentwurf oder Gesetzesvorschlag zurückgreifen.


Artikel 49 der französischen Verfassung vom 4. Oktober 1958

Diese autoritäre Bestimmung wird nun in Frankreich von Emmanuel Macron umgesetzt, der von Medien und Politikern seit Jahren als Vertreter des modernen, aufgeklärten Kapitalismus und als Bollwerk gegen Rechts gefeiert wird. Der ehemalige Apo-Aktivist Daniel Cohn-Bendit engagierte sich persönlich als Anhänger von Macron und gegen die französische Linke.

Wenn solche Kräfte dann autoritär Gesetze durchboxen, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, ist die Kritik bei liberalen Politkern und Medien auch in Deutschland schon viel leiser.

Kommt es zu einem „heißen Frühling“ in Frankreich?

Doch viele Menschen in Frankreich werden sich nicht damit zufriedengeben, dass ihnen gesagt wird: Seid doch froh, dass ein Politiker, der sich als Bollwerk gegen die Rechte darstellt, eure Freiheiten beschneidet. Unmittelbar nach der Durchsetzung der Rentenreform gab es in vielen französischen Städten Proteste, die auch militant ausgetragen wurden. Die Zahl der Festnahmen geht in die Hunderte.

Die Angst ist groß bei den herrschenden Eliten in Frankreich, dass der autoritäre Coup zu neuen Protesten im ganzen Land führen könnte, die an die Gelbwesten-Bewegung von 2018/19 erinnern. Sie wurde ja auch nicht nur durch die Gesetzgebung nach der Corona-Pandemie ausgebremst, sondern durch einen staatlichen Terror, wie er auch in EU-Ländern heute nicht mehr an der Tagesordnung ist.

Es war die von sogenannten liberalen Demokraten befehligte Polizei, die für die Verwendung von Gummigeschossen verantwortlich ist, bei denen zahlreichen Demonstranten, aber auch Unbeteiligten Augen ausgeschossen wurden.

Amnesty International kam zu dem Fazit:

Die Behörden schränkten das Recht auf Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig stark ein. Bei Polizeieinsätzen gegen Demonstrierende wurden Tausende Menschen verletzt, aus fadenscheinigen Gründen festgenommen und wegen Handlungen, die durch Menschenrechtsnormen geschützt sind, strafrechtlich verfolgt.


Aus dem Amnesty International Report 2019

Im Januar lief auch in deutschen Kinos der Film „Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten“, der die Proteste aus den Blickwinkel von vier Protagonisten und Protagonistinnen zeigt, die in der französischen Stadt Chartres die Gelbwesten-Aktionen organisierte. Die Stärke des Films ist es, dass er den Menschen Raum lässt, ihre Beweggründe zeigt, sich an den Protesten anzuschließen.

Man sieht die anfängliche Euphorie, mit der Menschen, die in der Gesellschaft nicht zählten, sich auf den Kreiseln an den Autostraßen selbst ermächtigten. Man sieht auch Szenen der Polizeigewalt in Paris und die zunehmende Verzweiflung bei einigen der Protagonistinnen. Dann beginnt auch der interne Streit, der eskaliert, als eine geplante Besetzung der Mautstellen wegen der geringen Beteiligung zum Flop wird, obwohl noch am Abend vorher in einer Saalversammlung die Begeisterung für die Aktion groß war.

In der letzten Szene des Films ist der Kreisel, an dem sich die Aktivisten über Monate bei Wind und Wetter getroffen habe, wieder leer. Dafür hängt jetzt eine Überwachungskamera sehr weit oben an einem Mast. Ist damit die Bewegung gescheitert? Vielleicht vorerst. Aber wir hören wie aus weiter Ferne die Parolen gegen ein System der Ungerechtigkeit, die in der Hochzeit der Bewegung tausendfach skandiert wurden.Anzeige

Damit vermittelt der Film das Gefühl, dass es vielleicht nur wieder eines Funkens braucht, damit die Plätze und Kreisen wieder voller Menschen werden, die sich nicht bieten lassen wollen, regiert zu werden. Vielleicht war die autoritäre Durchsetzung der Rentenreform der Funke? Dann würde vielleicht auch der vorzügliche Dokumentarfilm „Eine Revolution – Aufstand der Gelbwesten“ auch hierzulande noch mehr Beachtung finden. Er lief nur in wenigen ausgewählten Programmkinos und war nicht besonders gut besucht.

Das ist nur das Spiegelbild des Zustands einer gesellschaftlichen Linken hierzulande, die doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit Sehnsucht auf die gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Kämpfe in Frankreich blickte und die Parole ausgab, man müsse mal Französisch lernen.

Über viele Jahre hat der kürzlich verstorbene Sozialaktivist Willi Hajek versucht, Engagierten in Deutschland die französische Linke zu erklären – so auch die Gelbwesten-Bewegung mit seinem Buch „Gelb ist das neue Rot“. Er versuchte auch zu vermitteln, dass es keine politisch reine Bewegung gibt und ein landesweiter Sozialprotest kein verlängertes linkes Wohnzimmer ist. Dies hat er denen ins Stammbuch geschrieben, die bei nicht selbst initiierten Protesten schon immer nach Gründen suchten, warum man sich daran auf keinen Fall beteiligen dürfe.

Wo bleiben Proteste gegen die Wahlrechtsreform in Deutschland?

Willi Hajek und seine Freunde warnten die gesellschaftliche Linke in Deutschland aber auch immer vor einer Mythologisierung der Proteste in Frankreich. Er rief dazu auf, doch hierzulande selbst damit anzufangen, gegen Maßnahmen der Regierung auf die Straße zu gehen.

Da stellt man sich die Frage, wo denn die Proteste gegen den aktuellen Notstand der Demokratie in Deutschland bleiben? Damit ist die sogenannte Wahlrechtsreform gemeint, die jenseits allen parteipolitischen Streits dazu führen wird, dass ein weiteter Teil der Wähler im Bundestag nicht mehr repräsentiert ist.

Damit wurde genau das von einer Mehrheit aus Grünen, SPD, FDP sowie drei AfD-Abgeordneten beschlossen, was in den letzten Jahren besonders gegeißelt wurde, wenn es von Rechtskonservativen in den USA praktiziert wurde.

Man bastelt so lange am Wahlrecht herum und schneidet Wahlkreise neu zu, bis man dann die gewünschten Mehrheiten hat. Auch die US-Republikaner geben für ihre Maßnahmen natürlich immer an, es ginge doch nur darum, den Wählerwillen besser abzubilden oder die Parlamente zu verkleinern. Das ist auch das Argument aller Befürworter der Wahlrechtsreform in Deutschland und macht den undemokratischen Charakter besonders deutlich.

Was ist denn eigentlich das Problem, wenn der Bundestag wie aktuell 736 Abgeordnete hat? Soll da wirklich das Argument von nicht ausreichend großer Säle dazu herhalten, um eine auch nach bürgerlich-demokratischen Grundsätzen undemokratische Reform durchzusetzen?

Und das in einer Zeit, wo die technischen Voraussetzungen von Abstimmungen auch einer großen Anzahl von Abgeordneten viel leichter zu bewerkstelligen ist, als vor mehr als 100 Jahren, als auf Rätekongressen Tausende Arbeiter und Arbeiterinnen berieten und auch zu Abstimmungen kamen.

Gerade Kritiker der repräsentativen Demokratie müssten die aktuelle Wahlrechtsreform entschieden verurteilen. Sie ist ein Teil des Notstands der bürgerlichen Demokratie. (Peter Nowak)