Im Krieg gegen die Ukraine wird auch Geschichte revidiert

Befreite Deutsche

Nationalistische Töne bedienen auch manche Gegner*innen einer weiteren Aufrüstung der Ukraine, wenn sie wie Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht in ihren »Manifest für Frieden« Bundeskanzler Scholz in die Pflicht nehmen, »Schaden vom Deutschen Volk« abzuwenden. Kritik an den Schäden, den dieses »Volk« oft genug in der Geschichte verursachte, erinnert die Schriftstellerin Marie Rotkopf in der von ihr kommentiert herausgegebenen Schrift »Deutschland »Deutschland über alles« des französischen Soziologen Émile Durkheim: »Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon«, spitzt sie ihre Befürchtung zu – eine Sorge, die auch deutschlandkritische Linke in den letzten 20 Jahren artikulierten.

Rund um dem Jahrestag des russischen Einmarschs in die Ukraine wurden gegenüber der russischen Botschaft in Berlin von ukrainischen Waffen zerstörte russische Panzer platziert. In den kontroversen Diskussionen darum wurde jedoch kaum erwähnt, dass mit dieser Inszenierung auch deutsche Geschichte entsorgt zu werden droht, wenn das Rohr eines Panzers auf das letzte Stück russischen Territoriums in Berlin gerichtet ist. Spielt es denn gar keine Rolle mehr, dass nur wenige hundert Meter entfernt, am 9. Mai 1945 sowjetische Soldaten ihr Banner auf den Ruinen des Reichstags aufpflanzten, als Zeichen, dass Deutschland endgültig besiegt ist? …

… In den deutschen Erzählungen war schon damals meist von »den Russen« die Rede.Rund um die Panzer-Inszenierung waren an den Bäumen verschiedene Gedichte aufgehängt, darunter eines von Günter Kunert mit dem Titel »Ukrainische Nacht«. »Der Tod ist nicht nur ein Meister aus Deutschland«, lautete eine Zeile. Damit wird Bezug auf das berühmte Verdikt in Paul Celans »Todesfuge« genommen, mit dem er das Menschheitsverbrechen der Shoah auf den Punkt brachte: »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.«Spätestens seit dem russischen Krieg in der Ukraine gibt es immer wieder Versuche, diese deutsche Gewalttat zu relativieren. Jetzt wird selbst von manchen Linken der russische Angriff als Zivilisationsbruch bezeichnet – ein Begriff, der einmal mit guter Begründung der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden vorbehalten war. Auch von einem russischen »Vernichtungskrieg« in der Ukraine ist seit einem Jahr immer wieder die Rede. Soll damit der Unterschied zum Naziprojekt »Plan Barbarossa« verwischt werden, der tatsächlich die Vernichtung der sowjetischen Bevölkerung zum Ziel hatte?Unbestritten ist der russische Einmarsch gemäß Völkerrecht illegal und für die ukrainische Zivilbevölkerung und die Soldaten (auf beiden Seiten) grausam und mörderisch. Aber wenn vom russischen Vernichtungskrieg in der Ukraine geredet wird, wer wagt dann noch an die Schlacht von Stalingrad zu erinnern, mit der vor knapp 80 Jahren die Niederlage NS-Deutschlands eingeleitet wurde? Noch vor wenigen Jahren wollten junge Antifaschist*innen daran erinnern, indem sie T-Shirts mit der Aufschrift Stalingrad trugen. Damit war bei den meisten keine Sympathie mit dem sowjetischen Diktator gemeint, sondern eine klare Absage an den deutschen Geschichtsrevisionismus. Nationalistische Töne bedienen auch manche Gegner*innen einer weiteren Aufrüstung der Ukraine, wenn sie wie Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht in ihren »Manifest für Frieden« Bundeskanzler Scholz in die Pflicht nehmen, »Schaden vom Deutschen Volk« abzuwenden. Kritik an den Schäden, den dieses »Volk« oft genug in der Geschichte verursachte, erinnert die Schriftstellerin Marie Rotkopf in der von ihr kommentiert herausgegebenen Schrift »Deutschland über alles« des französischen Soziologen Émile Durkheim: »Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon«, spitzt sie ihre Befürchtung zu – eine Sorge, die auch deutschlandkritische Linke in den letzten 20 Jahren artikulierten. Wo sind sie geblieben? Peter Nowak

Erstveröffentlichungsort: