Die jüngste Entscheidung des EuGH ist die Fortsetzung des Versuchs, ein EU-Recht zu schaffen. Die Frage ist, ob es überall akzeptiert wird

Europäischer Gerichtshof über alles?

Wenn der EuGH auch den absoluten Vorrang des EU-Rechts propagiert, so besteht weiter das Problem, dass die Entscheidung nicht von allen Regierungen anerkennt wird. Der Machtkampf zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Eliten in osteuropäischen Staaten und den EU-Institutionen hat sich durch die EuGH-Entscheidung verschärft. Es ist allerdings noch längst nicht klar, wer da die Oberhand gewinnt. Eine linke Bewegung sollte es tunlichst vermeiden, sich bei diesen innerkapitalistischen Kampf auf einer Seite zu positionieren.

Eigentlich hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am 21. Dezember nur über zwei Gesetzesvorlagen aus Rumänien geurteilt. Es ging dabei um Korruptionsprozesse gegen verschiedene Politiker. Sie waren zunächst von rumänischen Gerichten verurteilt worden.  Das rumänische Verfassungsgericht hatte die Urteile mit Verweis auf Verfahrensfehler wieder aufgehoben. Richter des Obersten rumänischen Gerichtshofs hatten nun den …

… EuGH angerufen. Der hatte nun den absoluten Vorrang des EU-Rechts proklamiert. In der Entscheidung wird etwas umständlich formuliert:

Der Vorrang des Unionsrechts verlangt, dass die nationalen Gerichte befugt sind, eine Entscheidung eines Verfassungsgerichts, die gegen das Unionsrecht verstößt, unangewendet zu lassen, ohne insbesondere Gefahr zu laufen, disziplinarrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. 

EuGH, 21. Dezember 2021

Der EuGH erklärt deutlich den absoluten Vorrang des EU-Rechts in dieser Angelegenheit:

Das Unionsrecht steht der Anwendung einer Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs, die die Nichtigerklärung von Urteilen zur Folge hat, die von nicht ordnungsgemäß besetzten Spruchkörpern erlassen wurden, entgegen, wenn diese Rechtsprechung in Verbindung mit den nationalen Verjährungsvorschriften eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten begründet. 

EuGH, 21. Dezember 2021

Korruptionsdiskurs mit politische Instrumentalisierung

Nun hat der Korruptionsdiskurs, der hier auch vom EuGH bedient wird, eine lange Geschichte. Es ist evident, dass es in vielen Staaten der Osteuropas Fälle von Korruption gibt. Sie hängen mit der spezifischen Durchsetzung des Kapitalismus in diesen Ländern zusammen. Grundsätzlich kann man sagen, dass es keinen Kapitalismus ohne Korruption gibt. Doch nur bestimmte Arten von Korruption werden gesetzlich geahndet.

So ist auch in der EuGH-Entscheidung die Rede davon, dass Korruption und Betrugsdelikte zum Nachteil der Europäischen Union bekämpft und geahndet werden müssen. Diese Formulierung lässt Raum für die Überlegung, dass Korruption, die nicht zum Nachteil der Union ist, eben nicht oder nicht so hart geahndet werden soll.

Machtkampf zwischen bürgerlichen Fraktionen

In vielen osteuropäischen Staaten sind es vor allem neue Kräfte des Bürgertums, die, wie aktuell nach den Wahlen in Bulgarien, mit dem Schlachtruf des Kampfes gegen Korruption gegen die alten Eliten in diesen Ländern zu Felde ziehen. Hier handelt es sich auch um einen Machtkampf zwischen verschiedenen bürgerlichen Fraktionen.

In der Regel wird die aufstrebende Fraktion, wenn sie sich etabliert hat, ebenfalls korrupt. Dieses Phänomen können wir in Ländern auf allen Kontinenten beobachten. Zu den eifrigsten Korruptionsjägern gehören oft auch rechte oder rechtspopulistische Parteien, die der Illusion eines Kapitalismus ohne Korruption anhängen und nicht selten antisemitische Vorstellungen vom Kapitalismus tradieren.

Die jüngste Entscheidung des EuGH geht davon aus, dass die einzelnen Länder die Justiz in eigener Regie gestalten und auch über die Besetzung der Gerichtskammer entscheiden können. Doch der EuGH stellt aber klar, dass die Mitgliedsstaaten dabei europarechtliche Vorgaben akribisch befolgen müssen.

Doch die Tragweite der Entscheidung des EuGH geht über die konkreten Fälle in Rumänien hinaus, was auch viele Kommentatoren klar bemerken. „Besonders eindrücklich heben die Luxemburger Richter den absoluten Vorrang des Europarechts hervor“, heißt es in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dabei berufen sich die Richter auf die Rechtsprechung seit 1964 und heben hervor, dass es keinen Widerspruch dagegen gab, dass der Vorrang des EU-Rechts immer mehr ausgeweitet wurde.

Justiz als politisches Schlachtfeld

In den Europäischen Verträgen gibt es dazu keine Aussagen. Man kann auch sagen, dass sich der EuGH hier Rechte anmaßt, die nicht von den Verträgen gedeckt sind. Indem der EuGH urteilt, dass Richter, die EU-Recht gegen nationales Recht stellen, nicht sanktioniert werden dürfen, sorgt er für Spaltungen innerhalb der herrschenden Klassen bestimmter europäischer Staaten in eine Fraktion, die sich an der EU orientiert und einer anderen Fraktion, die sich auf nationale, oft nationalistische Politik versteht und sich oft mit einer Rhetorik gegen die EU-Zustimmung in der Bevölkerung verschafft.

In Polen und Ungarn gelingt es den nationalistischen Parteien bisher, sich mit einer Anti-EU-Rhetorik an der Regierung zu halten. So wird die Entscheidung der EuGH auch als Warnung an die Regierungen Polens und Ungarns gesehen, die schon länger mit den EU-Institutionen über die Umgestaltung der Justiz streiten. Gerade hat Brüssel ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen die polnische Regierung eröffnet.

Die Justiz ist dabei ein wichtiges Schlachtfeld. Denn wenn der EuGH auch den absoluten Vorrang des EU-Rechts propagiert, so besteht weiter das Problem, dass die Entscheidung nicht von allen Regierungen anerkennt wird. Der Machtkampf zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Eliten in osteuropäischen Staaten und den EU-Institutionen hat sich durch die EuGH-Entscheidung verschärft. Es ist allerdings noch längst nicht klar, wer da die Oberhand gewinnt. Eine linke Bewegung sollte es tunlichst vermeiden, sich bei diesen innerkapitalistischen Kampf auf einer Seite zu positionieren. (Peter Nowak)