Migrationsgeschichten, kapitalistische Aufstiegsmythen und Diversity im neuen Bundeskabinett – oder: Wem nützt die Ethnisierung der Politik?

Es ist ein Schwabe, heilig‘s Blechle!

Dass seine Eltern als Arbeitsmigranten aus der Türkei kamen, soll dann Özdemirs Status als Minister mit Migrationshintergrund rechtfertigen. Eine solche Zuschreibung mag noch für Personen infrage kommen, die selbst aus Ländern des globalen Südens geflohen sind. Wieso aber ein Migrationshintergrund vererbbar sein soll, lässt uns nur schwer erschließen. Zumindest, wenn man nicht krude völkische Abstammungstheorien vertritt, wie der Bund der Vertriebenen oder die Palästinensischen Exilorganisationen, die mittlerweile auch bereits über viele Generationen ihren Exilstatus vererben.

Cem Özdemir sorgte gleich zu Beginn seiner Karriere als Landwirtschaftsminister für Aufsehen, weil er den kurzen Weg zur Ernennungszeremonie im Bundespräsidentenamt mit dem Fahrrad zurücklegte. Der PR-Gag wird aber schnell verfliegen, schließlich hatte der langjährige Bundesabgeordnete der Grünen Hans-Christian Ströbele bis zum Ruhestand fast alle Wege in Berlin mit dem Fahrrad zurückgelegt. Vielleicht will Özdemir auch vergessen machen, dass seine Ernennung zum Landwirtschaftsminister zu einem handfesten Krach …

… bei den Grünen geführt hat. Die Fans von Anton Hofreiter sind auch jetzt noch sauer. Dabei handelt es sich um keinen Streit zwischen rechten und linken Flügel, weil es die eigentlich schon längst nicht mehr gibt. Fast alle führenden Grünen wollen mitregieren. Es ging einfach um den Kampf um eine begrenzte Zahl von Posten und da gibt es Gewinner und Verlierer. Solche Machtkämpfe werden gerne mit ideologischem Firnis überzogen.

Mit Özdemir werde das Kabinett diverser, mit ihm werde eine Person mit Migrationshintergrund Minister, heißt es da. Tatsächlich hat der künftige Landwirtschaftsminister wie nicht wenige in Berlin einen schwäbischen Migrationshintergrund. Er wurde 1965 bei Reutlingen geboren.

„Produkt des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens“

Dass seine Eltern als Arbeitsmigranten aus der Türkei kamen, soll dann Özdemirs Status als Minister mit Migrationshintergrund rechtfertigen. Eine solche Zuschreibung mag noch für Personen infrage kommen, die selbst aus Ländern des globalen Südens geflohen sind. Wieso aber ein Migrationshintergrund vererbbar sein soll, lässt uns nur schwer erschließen. Zumindest, wenn man nicht krude völkische Abstammungstheorien vertritt, wie der Bund der Vertriebenenoder die Palästinensischen Exilorganisationen, die mittlerweile auch bereits über viele Generationen ihren Exilstatus vererben.

Nun könnte man sich fragen, warum man nun dem Schwaben Özdemir unbedingt einen Migrationshintergrund ankleben will. Da könnte ein Satz in Özdemirs beglaubigter Biographie einen Fingerzeig geben. Heißt es doch dort über ihm: „Wenn man so will, ist Cem Özdemir ein Produkt des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens.“

Bereits 2019 hatte die Wochenzeitung Die Zeit über den karrierebewussten Schwaben getitelt: „Wenn Er es schafft, schaffen wir es auch“. Hier wird die Lebenslüge der „Vom Tellerwäscher zum Millionär-Ideologie“ mit neuen Akteuren zelebriert.

Kapitalistische Aufsteigermythen

Dem Minister Özdemir wird plötzlich ebenso ein Migrationshintergrund aufgemalt, so wie die Erfinder des Impfstoff Biontech plötzlich Rollenmodell der deutsch-türkischen Freundschaftsein sollen. Hier werden bestimmte „erfolgreiche“ Menschen mit Migrationshintergrund herausgehoben, um den Millionen türkischen Arbeitsmigranten zu zeigen: Das hättet ihr auch schaffen können.

Genau hierin besteht wie bei allen kapitalistischen Aufsteigermythen die Lebenslüge. Sie funktionieren ja gerade, weil sie eben Ausnahmen sind. So wird auch die Realität der Arbeitsmigranten nicht nur aus der Türkei verschleiert, die eben nicht in Aufstiegsgeschichten, sondern in Ausbeutung und Schikanen bestand. Darüber wurde zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Arbeitsabkommen auch kritisch berichtet.

Man braucht nur die „Songs of Gastarbeiter“ zu hören, das waren Lieder von Betroffenen, um zu erkennen, welcher Isolation und Ausbeutung diese Menschen in Deutschland ausgesetzt waren. Darüber soll hinweggegangen werden, wenn sich die neue Bundesregierung nun damit rühmt, den ersten Minister mit türkischem Migrationshintergrund im Kabinett zu haben.

Diversität als Schwungkraft es modernen Kapitalismus

Schon wird in der traditionell gern von Grünen gelesenen taz dazu aufgerufen, neben der Frauenquote jetzt auch ethnische Quote einzuführen und das Ganze unter dem Stichwort Diversität als Fortschritt zu verkauft. Das Ganze läuft unter dem Stichwort Diversität verkauft, einem der Füllwörter des digitalen Kapitalismus. Luc Boltanski und Eve Chiapello haben in dem voluminösen Werk „Der neue Geist des Kapitalismus“ den Wandel der Ideologie des Kapitalismus gut beschrieben.

Der digitale Kapitalismus profitiert davon, wenn die Gesellschaft sich in immer kleinere Minderheiten aufspaltet, die ihre ganz persönlichen Eigenheiten zum politischen Programm erheben. Das heißt gerade nicht, dass diese Minderheiten ihre Besonderheiten nicht ausleben sollen, ganz im Gegenteil. Es soll eine Normalität sein, aber kein Politikum.

Dazu gehören auch die biographischen Zufälligkeiten der Herkunft, ob jemand aus Schwaben nach Berlin oder aus Istanbul nach Stuttgart migriert, ist zunächst mal eine sehr private Sache und mag den persönlichen Freundeskreis interessieren. Bei dem deutsch-türkischen Migrationsabkommen war das Interessante, dass es sich um Lohnabhängige handelte, die auch mit großer Mehrheit in diesem Statuts gehalten und besonders ausgebeutet werden.

In den frühen 1970er-Jahren hat der Streik bei Ford in Köln gezeigt, was möglich war, wenn sich lohnabhängige Menschen nicht auf den Migrantionshintergrund reduzieren lassen. Die aktiven Arbeiter suchten die Solidarität der anderen Beschäftigten unabhängig von der Herkunft, sie hatten sich also von ihrem aufgezwungenen Migrationsstatus emanzipiert. Die Gegner des Streiks hingegen belegten die Streikenden mit dem rassistischen Kampfbegriff vom „Türkenterror“.

Gesellschaftliche Regression statt Fortschritt

Wenn nun unter dem Vorzeichen der Diversität als Fortschritt verkauft wird, dass Politiker nach ihrer ethnischen Herkunft in den Parlamenten vertreten sein sollen, dann haben wir es eher mit einer gesellschaftlichen Regression zu tun. So schreibt die Taz-Redakteurin Silke Martins:

Es hat sich etwas getan bei den Grünen. Sie haben verstanden, dass man nicht nur bei anderen fordern kann, die ganze Breite der Gesellschaft abzubilden, sondern auch selbst dazu bereit sein muss.

Silke Martins, taz

Demgegenüber sieht der an der bürgerlichen Emanzipation orientierte linksliberale Philosoph Christoph Türcke, durch diese Politik der Sichtbarkeit der unterschiedlichen Minderheiten die Demokratie auf Abwegen, wie auch der Untertitel seines neuen Buches heißt, mit dem er sich bei den Anhängern der reinen Identitätspolitik keine Freunde macht. Dabei steht er durchaus in der Tradition der ebenfalls an Reformen interessierten Autorenduos von „Der neue Geist des Kapitalismus“, wenn er den Trend zur Diversität als Herrschaftsmittel mit den Veränderungen im Kapitalismus verortet.

So sieht Türcke einen wichtigen Grund für die Konjunktur des Identitätspolitik in der Veränderung der Körperlichkeit durch die neuen Medien und er benennt die Gewinner der neuen Rechtfertigungsideologien: den kapitalistischen Weltmarkt und die Computertechnologie. Sie hätten den Anspruch auf individuelle Sichtbarkeit erst geschaffen. Dass soll nach den Vorstellungen der Freunde der Diversität auch in Parlamenten und Regierungen umgesetzt werden.

Doch damit wird die unterdrückerischen und ausbeuterischen Strukturen der Ausbeutung nur abgebildet, aber nicht angetastet. Das aber war zumindest das Ziel der Arbeitskämpfe wie beim Ford-Streik. Natürlich kämpfen die migrantischen Arbeiter darum, in den Streikkomitees und den Gewerkschaften vertreten zu sein, aber mit dem universalistischen Ansatz, die Verhältnisse abzuschaffen, in denen es Ausbeutung und Ethnisierung gibt. Hier wäre anzuknüpfen, in dem man sich fragt, wie der neue Geist des Antikapitalismus aussehen könnte. Ein Kabinett, in dem verschiedene Migrationshintergründe vertreten sind, gehört bestimmt nicht dazu.(Peter Nowak)