Jetzt erst recht: Enteignung der Immobilienkonzerne

BVG-Urteil zum Mietendeckel

Als 1975 das BVG die Fristenlösung, die Abtreibungen in einem bestimmten Zeitraum legalisieren sollte, kippte, radikalisierten sich Teile der Frauenbewegung. Sie fragten sich mit Recht, warum eigentlich ein Kreis von Männern in roten Roben über ihren Bauch entscheiden sollte. Heute sollten sich die aktiven Mieter:innen fragen, warum eine Gruppe von Männern und Frauen, die von ihrer ganzen Lebensrealität her mehr mit Wohnungseigentümer:innen als mit einkommensschwachen Mieter:innen zu tun haben, über den Mietendeckel richten sollen

Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns den Deckel klaut», skandieren am Abend des 15.April bis zu 20000 Menschen in Berlin-Kreuzberg. Wenige Stunden zuvor hat das Bundesverfassungsgericht (BVG) …

… den Mietendeckel für nichtig erklärt. Das Gesetz zur Neuregelung gesetzlicher Vorschriften zur Mietenbegrenzung hatte das Berliner Abgeordnetenhaus am 30.Januar 2020 beschlossen.

Zu dessen wesentlichen Regelungen gehörten ein Mietenstopp, Mietobergrenzen und Mietabsenkungen. Der Mietendeckel hatte in den letzten Monaten gewirkt und die massiven Mietsteigerungen gebremst. Die Immobilienbesitzer konnten in dieser Zeit etwas weniger Profite mit Wohnraum machen. Der Eigentümerblock, der im Berliner Abgeordnetenhaus aus CDU, FDP und AfD besteht, lief gegen den Mietendeckel Sturm und nutzten alle juristischen Mittel, um ihn zu kippen. Mit dem Urteil des BVG ist ihnen das gelungen. Wenige Minuten nachdem es bekannt wurde, stiegen die Börsenkurse der Immobilienkonzerne.
Doch die Spontandemonstration gegen das Urteil zeigt auch, dass die Berliner Mietrebell:innen nicht entmutigt sind. Sie wissen, dass ohne sie der Mietendeckel nie beschlossen worden wäre. Für einige Monate haben sie erlebt, dass ständig steigende Mieten kein Naturgesetz sind. Diese Erfahrung wollen sie sich nicht mehr nehmen lassen.
Schon öfter haben Urteile des BVG, die gegen eine aktive außerparlamentarische Bewegung durchgesetzt wurden, zu deren Radikalisierung beigetragen. Als 1975 das BVG die Fristenlösung, die Abtreibungen in einem bestimmten Zeitraum legalisieren sollte, kippte, radikalisierten sich Teile der Frauenbewegung. Sie fragten sich mit Recht, warum eigentlich ein Kreis von Männern in roten Roben über ihren Bauch entscheiden sollte.
Heute sollten sich die aktiven Mieter:innen fragen, warum eine Gruppe von Männern und Frauen, die von ihrer ganzen Lebensrealität her mehr mit Wohnungseigentümer:innen als mit einkommensschwachen Mieter:innen zu tun haben, über den Mietendeckel richten sollen. Die neue Parole «Mietendeckel bundesweit» könnte Mieter:innen aus verschiedenen Städten organisieren. Auch das Volksbegehren «Deutsche Wohnen und Co. Enteignen», für das aktuell in Berlin Unterschriften gesammelt werden, könnte jetzt mehr Unterstützung bekommen. Die Enteignung der Immobilienkonzerne wäre eine Losung nicht nur in Berlin. Peter Nowak

Zu diesen Artikel schrieb Reinhard Creyd in der SoZ vom Juni 2021 folgenden Leserbrief:

FO:Betr.: BVG-Urteil zum Mietendeckel, in: SoZ 5/2021, S.4

Peter Nowak fordert „aktive Mieter:innen“ auf, zu „fragen, warum eine Gruppe von Männern und Frauen, die von ihrer ganzen Lebensrealität her mehr mit Wohnungseigentümer:innen als mit einkommensschwachen Mieter:innen zu tun haben, über den Mietendeckel richten sollen“.
Meint Nowak, dass Juristen, die zur Miete wohnen, notwendigerweise Urteile sprechen, die sich gegen privates Eigentum an Wohnungen wenden? Will er uns mitteilen: Es gibt keine in sich folgerichtige und stimmige Rechtslogik? Lautet seine Aussage: Die Richter sind Souverän über das Recht? Meint er: Das Recht ist Knetmasse in den Händen der Richter, die fallweise beliebig je nach ihren individuellen Vorstellungen Urteile fällen?

Die eigene Logik des bürgerlichen Rechts ist dort kein Thema, wo es in den Umgang von Personen mit ihm aufgelöst wird. Bereits 1929 fragte Eugen B.Paschukanis: „Warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“
Eugen Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Wien, Berlin 1929

Nowak bleibt auf den Willen der Eigentümer fixiert. Aber „die Rechtsförmigkeit zielt nicht eigentlich auf die Subjekte, sondern auf die Sachen. Im Privateigentum wird demnach nicht der Eigentümer als Person geschützt, sondern als Besitzer von Waren etc. Der Schutz zielt […] auf die freie Beweglichkeit der Sache. Freiheit i. S. der ‚Unabhängigkeit vom Willen eines anderen’ […] (hat die) Funktion, dass der Besitz frei ist, sich dem Wirken des Wertgesetzes anzupassen (verkauft zu werden, so oder so ‚angelegt’ zu werden)“ – im Unterschied z.B. zur im Feudalismus erblich festgelegten Weitergabe von Grundherrschaft und -untertänigkeit.
Blanke, Jürgens, Kastendiek: Kritik der Politischen Wissenschaft. Frankfurt M. 1975

Nowak hält es für überflüssig zu fragen, warum der Schutz des Privateigentums nicht nur im bürgerlichen Recht eine zentrale Stellung, sondern auch im Bewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung meistens eine hohe Zustimmung hat. Um das erklären zu können, müsste er verstehen, warum im Kapitalismus „keine anderen gesellschaftlichen Beziehungen, Zwecke und Interessen der vergesellschafteten Individuen“ existieren, „die allen gemeinsam und deshalb wirklich allgemein sind“ als eben jene „formalen Zwecke und Interessen, die sie alle als Eigentümer von Waren überhaupt haben, nämlich der allgemeine Zweck der Garantie der Formen der Prozesse wechselseitiger, freier und gleicher Aneignung und Enteignung und das allgemeine Interesse an dieser Garantie“.
Burkhard Tuschling: Rechtsform und Produktionsverhältnisse. Frankfurt M. 1976

Vorstellungen, die das Recht als ein dem Willen der Reichen unterworfenes Instrument („Klassenjustiz“) ansehen, unterscheiden sich ums Ganze von einer Analyse, die das gegenwärtige Rechtssystem aus den Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie erklärt und zeigt, welchen Stellenwert es in ihnen praktisch hat. Lesenswerte Analysen dazu finden sich in den genannten Texten sowie bei
Kilian Stein: Die juristische Weltanschauung. Das rechtstheoretische Potenzial der Marxschen „Kritik“. VSA-Verlag. Hamburg 2012.
Einen ersten Eindruck vom gegenwärtigen Wissensstand vermittelt eine Rezension dieses Buches, vgl. https://www.socialnet.de/rezensionen/15434.php

Mit Missverständnissen über den Sozialisierungsparagraph des Grundgesetzes sowie über die Allgemeinwohlklausel in dessen § 14.2 habe ich mich im Artikel „Linkes Wunschdenken zum Grundgesetz“, in: Sozialistische Zeitung 7/2013 auseinandergesetzt.
vgl. http://www.meinhard-creydt.de/archives/432

@A:Meinhard Creydt, Berlin