Die Corona-Krise macht die Konkurrenz der Nationalstaaten in der Union überdeutlich. Die europäischen Werte sind nur moralische Politur

EU in der Hegemoniekrise

So ist es wichtig, die EU nicht als linke Utopie zu begreifen, sondern als Zusammenballung von kapitalistischen Nationalstaaten mit gleichen und unterschiedlichen Interessen und einem Machtgefälle, das es sich mit sich bringt, dass unterschiedliche Staaten ihre Interesse unterschiedlich stark einbringen und durchsetzen können.

Ein großer Moment für Europa, der beispiellos in der Geschichte ist. Mit solchen Superlativen wird das Vorhaben der EU-Kommission bezeichnet, 750 Milliarden als sogenannte Aufbauhilfe vor allem in Länder der europäischen Peripherie zu investieren, die, so die gängige Erzählung, besonders hart von der Corona-Krise betroffen sind.  Nun sind es nicht nur die EU-Funktionäre, an der Spitze die konservative von Deutschland oktroyierte von der Leyen, die hier mit markiger Propaganda Stimmung machen. Auch die keynesianistische Taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Hermann ….

…. beginnt ihren Kommentar im ersten Absatz mit den Floskeln vom geschichtlich beispiellosen Moment, um dann im nächsten Absatz erfreulich nüchtern zum Thema zu kommen:

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass noch unklar ist, wie viel Geld am Ende fließt. Bisher ist es nur ein Vorschlag der Kommission. Die Zustimmung der EU-Regierungen steht noch aus, und die „geizigen Vier“ – Dänemark, Schweden, Österreich und die Niederlande – haben Widerstand angekündigt.

Ulrike Hermann, Taz

Historisch falsche Floskeln

Tatsächlich sollten wir uns alle Floskeln vom geschichtlich beispiellosen Kraftakt Europas ersparen. Sie sind geographisch falsch und geschichtsvergessen. Der historisch beispiellose Kraftakt auf europäischen Boden war zweifellos die Zerschlagung des NS und es ist schon frappierend, wie heute auch in der EU mit Kriegsmethapern versucht wird, die Corona-Krise zu einem solchen epochemachenden Ereignis hochzuspielen, was eindeutig politisch motiviert ist.

Genauso wie die absichtsvolle Verwechslung des EU-Raums mit Europa. Der EU-Raum ist der Teil von Europa, in dem Deutschland um Hegemonie ringt. Es gibt nun noch einen großen Teils Europas, wo das nicht möglich ist. Dazu gehört nun auch Großbritannien, das sich selbstständig gemacht hat, was viele in Deutschland den Briten nicht so schnell verzeihen können.

Daher werden sie rhetorisch schon mal aus Europa ausgegliedert. Außerhalb des EU-Raums stehen auch die europäischen Staaten, die sich politisch und wirtschaftlich an Russland orientieren. Die werden nun noch mal besonders aus der „Deutsch-EU“ ausgegliedert, weil dort ja die berühmten europäischen Werte nicht gelten. 

Darin mögen auch manche linke EU-Befürworter einige emanzipatorische Regelungen sehen, die es zu verteidigen gilt.

Europäische Werte

Doch sie machen nicht den Kern aus. Europäische Werte gelten grundsätzlich dort, wo deutsche oder von Deutschland beeinflusste Staatsapparate Einfluss haben. Das gilt für Politik, Wirtschaft, Presse und Justiz. Der Verlust europäischer Werte wird hierzulande immer dort beklagt, wo diese deutschen Einflussstrategien mehr oder weniger starker Widerstand entgegengebracht wird.

Der ist in der Regel weder links noch irgendwie emanzipatorisch. Oft sind es nationalistische Kräfte in Südosteuropa und das russische Hegemoniestreben, dass man sich nicht irgendwie schönreden sollte, wie es manche Traditionslinke gerne praktizieren. Nur sollte man sich auch die Deutsch-EU mit ihren sogenannten europäischen Werten nicht schönreden, wie es hierzulande bis in linke Kreise Mode geworden ist, seitdem linke EU-Kritik weitgehend vergessen wurde.

So ist es wichtig, die EU nicht als linke Utopie zu begreifen, sondern als Zusammenballung von kapitalistischen Nationalstaaten mit gleichen und unterschiedlichen Interessen und einem Machtgefälle, das es sich mit sich bringt, dass unterschiedliche Staaten ihre Interesse unterschiedlich stark einbringen und durchsetzen können. 

Deutschland gehört nun zu den Staaten, die eine starke Hegemonie in der EU haben, die aber auch immer wieder herausgefordert wird.

Deutsches Gericht versus EU-Gerichtsbarkeit

Ein Ausdruck der Hegemoniekrise innerhalb der EU ist das vieldiskutierte Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den EU-Rettungsprogrammen. Dabei war allen Kommentatoren klar, dass die Entscheidung vor allem deshalb so wichtig ist, weil hier die oberste Instanz der juristischen Staatsapparate in Deutschland den Anspruch erhoben hat, auch über EU-Entscheidungen zu urteilen.

Die juristischen Apparate der EU wiesen diesen Anspruch prompt zurück. Es ist der Ausdruck einer klassischen Hegemoniekrise, wenn zwei zentrale juristische Apparate, sich gegenseitig ihre Macht streitig machen, über ein bestimmtes Thema zu urteilen.

Sofort haben sich reformerische Linke entweder auf der Seite des Bundesverfassungsgerichts oder des Europäischen Gerichtshof positioniert. Hier wird auch das Problem der linksreformistischen EU-Debatte deutlich.

Die EU wird nicht als kapitalistischer Machtblock grundsätzlich kritisiert, sondern man positioniert sich auf Seiten unterschiedlicher Macht- und Kapitalfraktionen. 

EU-Nationalismus wie jeden Nationalismus dekonstruieren

So sehen auch EU-Politiker der Linken wie Martina Schirdewan in den sogenannten Wiederaufbauprogramm einen Schritt in die richtige Richtung und kritisieren vor allem, dass der bereit gestellte Betrag höher sein müsste.

Sie stellen das EU-Konstrukt nicht grundsätzlich infrage. Sie akzeptieren auch, dass die EU in der globalen Konkurrenz mit den USA und China zu konkurrieren versucht.

Deshalb war es für sie ein Menetekel, als auf dem Höhepunkt der Corona-Krise Unterstützung für die besonders betroffenen norditalienischen Städte aus China und nicht aus dem EU-Raum gekommen ist. Wenn sie diesen eigentlichen Zweck der EU nicht infrage stellen, bleibt es eben nur bei Kritik im Detail, beispielsweise an der Höhe des sogenannten Rettungsprogramm.

Es wird schon mal mangelnde europäische Solidarität gerügt, aber meist nicht erwähnt, dass Solidarität innerhalb des kapitalistischen Rahmens nur ein anderes Wort für die Forderung ist, wonach die Bevölkerung der EU-Staaten gefälligst den EU-Block auch ideologisch verteidigen soll. 

So hat in linksliberalen Kreisen die Verteidigung der EU und die Ausgrenzung grundsätzlicher EU-Kritik die Rolle eingenommen, die bei Verteidigern von Nationalstaaten die jeweilige nationale Volksgemeinschaft hat.

Doch ein Nationalismus wird nicht deshalb emanzipatorischer, weil jetzt eben nicht mehr nur Deutschland, sondern der von Deutschland geprägte EU-Raum gemeint ist. Vielmehr wäre es eine linke Aufgabe, wie jeden Nationalismus auch den EU-Nationalismus zu dekonstruieren. Dazu gehört, die Widersprüche des Bündnisses kenntlich zu machen.

Wie es der Gegenstandpunkt-Autor Theo Wentzke in der Tageszeitung junge Welt angenehm nüchtern formuliert:

Sie (die Euro-Zone) bleibt ein Bündnis von Nationalstaaten, die mit nationalen Schulden um nationales Kapitalwachstum in einem gemeinsamen Geld konkurrieren, das seinerseits den Gesamterfolg der Währungszone in seiner Qualität als international gefragtes und verlässliches Geld reflektiert; das also den Gesamterfolg braucht, den die konkurrierenden Partner einander streitig machen.

Theo Wentzke

Natürlich hat eine emanzipatorische EU-Dekonstruktion nicht das Zurück zum Nationalstaat zum Ziel. Vielmehr würde in den sozialen Bewegungen der Kern für eine transnationale Solidarität gesucht, die weder in Nationalstaaten noch in Machtblöcken wie der EU irgendetwas Positives sehen können. Doch dazu braucht es eine staatsantagonistische Linke.

„Ein Virus macht keine Revolution.“ Da ist dem Aufsatz des früher linksradikalen heute sozialdemokratischen Roten Salon Leipzig in der Jungle World eindeutig zuzustimmen. Peter Nowak