Ein großer Teil der Linken und Liberalen bewegt sich bewusst oder unbewusst in den theoretischen Fußstapfen von Karl Popper. Aber es gibt linke Gegenstimmen

Verschwörungen und Entschwörungen

Was vor Jahrzehnten der Kampf um jeden Cent mehr und jede Minute Lohnarbeit weniger gewesen ist, kann heute der Kampf um besseren Gesundheitsschutz sein. Dass es dabei um mehr als um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen geht, macht der Publizist Daniel Kulla in einem Aufsatz mit dem Titel "Die beste Antwort auf die Verschwörung ist der Klassenkampf" deutlich.

Der Umgang mit der Corona-Epidemie hat in den letzten Tagen in den öffentlich-rechtlichen Medien einen Bedeutungswandel erfahren. Die Devise „Stay at Home“ ist schon länger vorbei. Jetzt lautet die Devise: „Mit Corona leben und daraus gestärkt hervorgehen.“ Das wird schon daran deutlich, dass so unterschiedlich….

….. regierte Bundesländer wie Thüringen und Sachsen weitere Lockerungen der Corona-Beschränkungen vorantreiben. Fortan soll das Prinzip gelten, dass alles möglich sein soll und nur in begründeten Ausnahmen verboten wird. Bisher war es umgekehrt – und das hat bei immer größeren Teilen der Bevölkerung für Unmut gesorgt. Dass auch an den Lockerungsübungen parteipolitisch motivierte Kritik nicht ausbleibt, gehört zu einer bürgerlichen Demokratie, in der verschiedene Parteien um Zustimmung werben.

Die Kritik gab es auch vor einigen Wochen, als Landespolitiker aus Bayern und Baden-Württemberg das Tempo bestimmten. Der Vorwurf lautete schon damals, dass da einzelne Landespolitiker unabgesprochen vorgeprescht seien. Im Subtext wird klar, dass sich die politischen Konkurrenten gegenseitig vorwerfen, Sympathiepunkte durch Corona-Lockerungen erwerben zu wollen. Gestritten wird jetzt nicht über die Lockerungen, sondern darüber, welche Partei damit punkten darf.

Mit strikten Corona-Maßnahmen kann man keine Sympathie gewinnen

Dass sich nun auch Bodo Ramelow an diesen Wettbewerb beteiligt, ist höchstens deshalb bemerkenswert, weil vor allem bei den Grünen und der Linken viele vor schnellen Lockerungen warnten. Doch Ramelow hat wohl erkannt, dass man damit keine Sympathien bekommt.

Nun hat Ramelow auch nicht die völlige Aufhebung der Corona-Maßnahmen angekündigt. Auch er favorisiert einen Zustand, der vage mit „neuer Normalität“ umschrieben wird und auf den mündigen Bürger setzt. Der Deutschlandfunk, der seit Mitte März überwiegend Corona-Sondersendungen verbreitete und damit auch für die reibungslose Durchsetzung des Shutdowns sorgte, ist mit seinem Programm schon in der neuen Normalität angekommen: Dort wird weiter an die Existenz des Virus erinnert, aber ohne Panik zu erzeugen.

So meldet der Deutschlandfunk, dass sich in Frankfurt eine religiöse Gruppe bei einer Messe und in Leer Gäste in einem Restaurant mit dem Virus angesteckt hatten. Aber korrekt wird auch darauf hingewiesen, dass von den Menschen, die sich da angesteckt haben, wohl die meisten leichte oder gar keine Symptome zeigen und nur ganz wenige stationär im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Diese Meldungen lösen nicht Angst und Schrecken aus, sie machen den Menschen aber deutlich, dass hier ein Virus vorhanden ist, das durchaus gefährliche Folgen haben kann und genauso ernst zu nehmen ist wie eine Grippe. Nun könnte man sich fragen, warum in den vergangenen Monaten nicht so differenziert über das Coronavirus berichtet wurde? Warum hat man nicht nur im Fall Thüringen die überhöhten möglichen Coronaopfer-Zahlen korrigiert, als deutlich wurde, dass sie nicht eintreffen?

Biopolitik ist keine Verschwörung

Da mag Vorsicht angesichts des geringen Wissens über das Corina-Virus eine Rolle gespielt haben. Doch ebenso klar ist, dass Staatsapparate auch dieses Virus wie viele Krankheiten insgesamt im Sinne der „Biopolitik“ für die Umsetzung ihnen genehmer Maßnahmen genutzt haben. Dabei ist es noch einmal wichtig zu betonen, dass Biopolitik nach Michel Foucault eine Art und Weise des Regierens, aber keine Verschwörung ist.

Die von manchen Irrationalisten an die Wand gemalte große Steuerung der Eliten hat es nicht gegeben. Die Staatsapparate haben vielmehr eine gute Gelegenheit genutzt, um den Durchbruch zum digitalen Kapitalismus voranzutreiben. Da wurden Fakten geschaffen, die die neue Normalität bestimmen werden.

Ein weiterer Aspekt, der in der öffentlichen Diskussion oft zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass das Virus auf eine zutiefst pessimistische Welt traf. Dieser Grundpessimismus wurde durch Teile der Klimabewegung in den Monaten vor der Corona-Krise vielfach ausgedrückt. „Ich will, dass Ihr in Panik geratet“, rief Greta ThunbergExtinction Rebellion warnte vor dem Aussterben als kurzfristige Gefahr.

Nun soll hier nicht diskutiert werden, ob diese Befürchtungen real oder irrational sind. Sie haben aber eine pessimistische Grundstimmung erzeugt, die dann eben den fast globalen Shutdown ab Mitte März angesichts des Virus und den Burgfrieden großer Teile der Linken mit Staat und Regierung erst möglich machte. Das erlaubte es, dass sich irrationalistische und rechte Gruppen als Verteidiger der Freiheit aufspielen können.

Nun diskutieren nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt Interessenverbände, wie denn die Post-Corona-Ära aussehen soll. Dass es kein bruchloses Zurückkehren in die Zeit, bevor das Virus die Welt erschütterte, geben wird, drückt schon der Begriff der „neuen Normalität“ aus.

Kanada hat schon mal einen Fingerzeig gegeben, wie die denn aussehen kann. Verknüpft wird der Klima- mit dem Corona-Notstand: Wirtschaftshilfen werden an die Einhaltung von Klimavorgaben geknüpft. Das ist eine Position, die auch hierzulande viele Umweltverbände und die Grünen teilen.

Doch damit wird erst einmal die Position der nichtfossilen Industrie gestärkt. Trotzdem gerieren sich auch viele Umweltinitiativen als Sprachrohre dieser Kapitalfraktion. Kapitalismuskritische Umweltinitiativen wie Ende Gelände, die keine Lobbyarbeit für die Umweltkonzerne machen, werden dagegen schnell Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes.

Wenig Kritik am linken Etatismus

Kritik an dem „Ökoleninismus“, wie man in kritischer Absicht eine Position bezeichnen könnte, die den Staat für als fortschrittlich erachtete Zwecke in die Verantwortung nehmen will, ist nur vereinzelt zu lesen.

Dazu gehört ein historisch fundierter Essay von Johannes Hauer in der Jungle World, der erfreulicherweise auch auf Kritiken des Rätekommunisten Willi Huhn verweist:

Auch ein Teil der Klimaschutzbewegung nutzt Krieg und Ausnahmezustand als positive Referenzmodelle für die Agitation, wenn er die Ausrufung des „Klimanotstands“ fordert oder die vage geplante grüne Transformation der Wirtschaft mit den Anstrengungen der Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg vergleicht.

Solche Ideen stehen in einer fatalen Tradition, die der Rätekommunist Willy Huhn in seinen Studien zum „Etatismus der Sozialdemokratie“ bis in die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung zurückverfolgt hat. In weiten Teilen der Bewegung waren die Vorstellungen sozialistischer Emanzipation bereits im Kaiserreich auf den Staat zentriert, den man als Statthalter vernünftiger Allgemeinheit in einer Welt des privaten Egoismus missverstand.

Die Kriegswirtschaft ab 1914 gab diesen Sozialisten daher Anlass zur Freude, führte sie doch zur staatlichen Planung und Leitung des Wirtschaftslebens durch die Oberste Heeresleitung. An die Stelle der „Anarchie des Marktes“ tritt die staatliche Organisation, durch die jede Arbeit unmittelbar zum Dienst an der Nation wird.

Johannes Hauer

Zuvor hat Hauer klare Worte zu der Burgfriedenspolitik gefunden, mit der seit März vom DGB-Vorstand Tarifkonflikte – um das hochtrabende Wort von „Klassenkämpfen“ hier nicht zu verwenden – stillgelegt hat. Dem stellt Hauer eine Auswahl von selbstorganisierten Kämpfen Lohnabhängiger in aller Welt gegenüber, die zeigen, dass durch Corona längst nicht überall Burgfrieden durchgesetzt wurde:

Tatsächlich übersetzten sich die schockartigen materiellen Verschlechterungen im Zuge der Covid-19-Pandemie sofort in Proteste und Kämpfe in aller Welt, die von neuen Blogs wie „Solidarisch gegen Corona“ und „Fever Struggle“ dokumentiert werden. In einigen Ländern wurden Supermärkte geplündert, in Städten wie New York laufen die größten Mietstreiks seit beinahe einem Jahrhundert an, es gründeten sich Netzwerke gegenseitiger Hilfe. Wilde Streiks und Arbeitsniederlegungen grassieren. 

Nach Beobachtungen von Kim Moody dominierten zunächst vor allem die Forderungen nach Gesundheitsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Mittlerweile machen sich die finanziellen Engpässe der Unternehmer bemerkbar und es regt sich vermehrt Widerstand gegen Entlassungen und nichtbezahlte Löhne, etwa in zahlreichen italienischen Standorten des Paketzustellers TNT, bei Pizza Hut in London und in Textilfabriken in Bangladesh und Myanmar. 

Die Londoner Angry Workers schrieben, einige Lohnabhängige hätten in den Auseinandersetzungen der vergangenen Monate „begrenzte, aber reale Schritte in Richtung Arbeiterkontrolle gemacht“, indem sie die Entscheidungsgewalt darüber einforderten, ob, was, zu welchem Zweck unter welchen Bedingungen produziert wird. 

So erzwangen beispielsweise 5 000 Arbeiter bei Mercedes im spanischen Vitoria die Werkschließung durch Sitzblockaden, US-amerikanische Arbeiter bei General Electric forderten die Umstellung ihrer Produktion von Flugzeugmotoren auf Beatmungsgeräte, die italienische Basisgewerkschaft SI Cobas hielt ihre Mitglieder in der Logistik an, nur noch die Distribution von Lebensmitteln und medizinischen Gütern zu besorgen.

Johannes Hauer, Jungle World

„Klassenkampf ist das beste Entschwörungsprogramm“

Es ist erfreulich, dass hier einmal der Augenmerk auf diese sehr unterschiedlichen Kämpfe gerichtet und daran erinnert wird, dass diese wesentlich mitentscheiden, wie Post-Corona-Zeiten aussehen. Allerdings sollte damit nicht vermittelt werden, dass die Welt in der Post-Corona-Ära vor einer neuen Welle von Kämpfen und Revolten steht.

Es soll aber doch klar werden, dass solche Kämpfe potentiell möglich sind. Ob sie stattfinden und auch erfolgreich sind, hängt von vielen spezifischen Faktoren ab, nicht zuletzt auch von kämpferischen Gewerkschaften auf der Höhe der Zeit. Ein Beispiel hat die basisdemoratisch organisierte transnationale Basisgewerkschaft IWW mit ihrer digitalen Anleitung zur Selbstorganisation am Arbeitsplatz gegeben.

Damit werden die von Johannes Hauer aufgeführten Arbeitskämpfe konkretisiert. Was vor Jahrzenten der Kampf um jeden Cent mehr und jede Minute Lohnarbeit weniger gewesen ist, kann heute der Kampf um besseren Gesundheitsschutz sein.

Dass es dabei um mehr als um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen geht, macht der Publizist Daniel Kulla in einem Aufsatz mit dem Titel „Die beste Antwort auf die Verschwörung ist der Klassenkampf“ deutlich.

Damit hebt sich Kulla, der sich bereits seit langem kritisch mit Verschwörungstheorienbefasst, von einer hegemonialen linksliberalen Strömung ab, die in der Tradition des liberalen Philosophen Karl Popper Verschwörungstheorien vor allem als Angriff auf die bürgerliche Demokratie begreift, dem mit „Entschwörungsveranstaltungen“ beizukommen ist.

Ver- und Entschwörungen in der Linken

Karl Popper prägte den Begriff der Verschwörungstheorie. Es ist frappierend, welche Konjunktur der Begriff mittlerweile auch in Teilen der antifaschistischen Bewegungen gefunden hat. Die wenigsten werden den Bezug zum liberalen Philosophen Karl Popper kennen.

Doch es gibt auch direktere Bezüge. So hat sich schon vor fast 20 Jahren ein Lesekreis der antideutschen Publikation Bahamas mit der Gründung der „Freunde der Offenen Gesellschaft“ expliziert auf Karl Popper bezogen.

Popper hat auch bestimmte Spielarten des Marxismus als Verschwörungstheorie bezeichnet. Da ist es dann im Popperschen Sinn nur konsequent, wenn die Taz in einer „Entschwörungsausgabe“ in der letzten Woche gleich noch mal Teilen ihrer linken Anfangsgeschichte abgeschworen hat. Doch als Beispiel wurde nicht etwa der regressive Antizionismus herangezogen, den die frühe Taz mit den meisten Gruppen der außerparlamentarischen Linken jener Jahre teilte.

Es war die generelle Staatskritik, dem die Taz noch mal abgeschworen hat. Dabei hat sie ausgerechnet einen der radikalsten Kritiker des Antisemitismus und des deutschen Nationalismus auch im linken Gewand, Wolfgang Pohrt, als Beispiel für verschwörungstheoretische Ansätze in der Zeitung herangezogen.

Dabei hatte Pohrt 1980, wie viele in aller Welt, die offizielle Selbstmordversion der RAF-Gefangenen am 18.Oktober 1977 in Stuttgart-Stammheim angezweifelt und die Selbstgleichschaltung der BRD-Presse in jener Zeit kritisiert. Bei Letzterem handelt es sich allerdings um keine Verschwörungstheorie, sondern um eine historische Tatsache, die auch zur Gründung der Taz führte.

Nun kann selbst sporadischen Taz-Lesern nicht verborgen gewesen sein, dass die Zeitung lange vor Corona schon Merkel unterstützte. Dass man noch einmal die eigene linke Geschichte zumindest in Teilen zur Verschwörungstheorie erklärte, soll verhindern, dass junge Linke wieder in Versuchung geraten, auf radikale Staats- oder Kapitalismuskritik zu setzen.

Das mag bei vor allem theoretisch arbeitenden Gruppen gelingen. Doch Menschen, die sich in ihren eigenen Wohn- und Lebensumfeldern politisch betätigen und organisieren, wissen, dass radikale Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen keine Verschwörungstheorie und Entschwörungsveranstaltungen kein Beitrag zur Gesellschaftskritik sind.

Von ihnen wird abhängen, wie die Gesellschaft nach Corona aussieht. Zu historischem Optimismus ist genau so wenig Anlass wie zum frühen Pessimismus, wie ihn der linksliberale Kulturkritiker Georg Seeßlen bemüht. In einem demnächst im Bahoe-Verlag erscheinenden Buch „Corona-Kontrolle, Nach der Krise, vor der Katastrophe“ will Seeßlen schon wissen, dass alles nur noch schlimmer wird.

Mit zunehmender Dauer müssen wir uns indes auch von den Hoffnungen auf eine bessere Post-Krisen-Welt verabschieden. Denn bereits als viele Menschen nur mit ihrem persönlichen Überleben, mit ihren Einschränkungen und mit der Verantwortung für die Nächsten zu tun hatten, setzt die Bewegung von Reaktion und Restauration ein. Die Hoffnungsblasen platzen und es zeichnet sich ab: Die Gewinner der Vor-Krise werden wieder die Gewinner der Nach-Krise sein (mit etlichen Verschiebungen, Verstärkungen und Vermittlungen). Die Verlierer sollen weitere Verluste in Kauf nehmen – ganz im Dienste des „Systems“.

Georg Seeßlen, Vorankündigung des Buches Corona-Kontrolle Nach der Krise, Vor der Katastrophe

Drei Monate nach den Corona-Shutdowns werden also alte Textbausteine, die Seeßlen in linksliberalen Medien ineinanderfügt, wieder einmal recycelt. Schließlich passen sie gut zu dem globalen Pessimismus, ohne den es den Corona-Shutdown nicht gegeben hätte, und können einen neuen Stillstand vorbereiten. Peter Nowak

Erstveröffentlichungsort:
https://www.heise.de/tp/features/Verschwoerungen-und-Entschwoerungen-4764924.html Was vor Jahrzenten der Kampf um jeden Cent mehr und jede Minute Lohnarbeit weniger gewesen ist, kann heute der Kampf um besseren Gesundheitsschutz sein. Dass es dabei um mehr als um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen geht, macht der Publizist Daniel Kulla in einem Aufsatz mit dem Titel "Die beste Antwort auf die Verschwörung ist der Klassenkampf" deutlich.