Während sich viele Linke diese Frage gar nicht stellen, gibt es erste Initiativen, die im Corona-Notstand darauf nicht verzichten wollen

Wie verhältnismäßig sind die Grundrechtseinschränkungen?

Parallel zu den vielen Tagebüchern, in denen Menschen in den sozialen Netzwerken berichten, wie sie sich im Homeoffice und in der Wohnhaft zurechtfinden, richtet Cilip ein Tagebuch der inneren Sicherheit ein, in dem chronologisch und fachkundig die täglichen Notstandsmaßnahmen aufgelistet sind.

„Kontaktverbot – misslungene Wortwahl oder Kalkül?“ – diese Frage stellt die Landtagsfraktion des rechtspolitischen Sprechers der hessischen Linken, Ulrich Wilken, in einer Pressemitteilung. Dort stellt er auch fest:….

…. Die allermeisten Menschen halten sich daran, die physische Nähe unterhalb zwei Metern zu anderen zu meiden, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Doch es ist nicht ratsam in einer Zeit, die von massiven Einschränkungen persönlicher Freiheiten geprägt ist, von „Kontaktverbot“ zu sprechen. Dieser Begriff wird juristisch bereits im Zusammenhang mit Gewaltschutz verwendet, verbietet dann auch Email- und Telefonkontakte und ist damit sprachlich ein Griff in die völlig falsche Schublade.

Ulrich Wilken, Landtagsabgeordneter der Linken in Hessen

Statt „Kontaktverbot“ – „Abstand mit Herz“?

Dieser Umgang mit dem Corona-Notstand kennzeichnet die Politik der Linken. Eine grundsätzliche Infragestellung des Notstands erfolgt nicht. Dafür wird moniert, dass man die falschen Begriffe gewählt hat. Aber was wäre damit gewonnen, wenn nun die offizielle Sprachregelung lauten würde „Abstand mit Herz“?

In Zeiten, wo auch die Gesetze Bezeichnungen bekommen, die an die Empathie der Betroffenen rühren sollen, wird solche Sprachkritik sicher dankend aufgenommen. Wie bezeichne ich einen Notstand so, dass alle denken, dass es doch das Beste ist, was passieren kann? Wie wäre es mit dem Namen „Lasst uns alle mal absagen-Phase“?

Die Tendenz zur Rationalisierung und Romantisierung des Notstands bildet selbst ein sicher nicht so gemeinter Text zweier italienischer Autoren nach, der hier auf Deutsch veröffentlicht wurde. Im ersten Augenblick kommt er sehr provokant daher, weil er dem Corona-Virus dankt. Doch das ist eine Provokation, die so verpufft wie die radikalen Refrains mancher Punksongs. Denn eigentlich geht es den Autoren darum, den Menschen in der Quarantäne zu sagen, dass die Notstandssituation auch seine positiven Seiten hat.

Der Laden steht still. Und siehe da – CO2-Emissionen sinken, es fließt klareres Wasser, Börsen und damit das Heiligtum des Marktes crashen, Militärmanöver werden abgesagt, aber vor allem: die bei Normalbetrieb Erniedrigten, Geknechteten, Verlassenen, Verächtlichen dieser Welt (Marx) bleiben zu Hause und finden sich mit etwas wieder, das das totalitäre Regime der Lohnarbeit nahezu ausgelöscht hat: Entschleunigung und Freizeit, und zwar mehr, viel mehr als die Happen an reproduktiver und regenerativer Zeit, die einem zugestanden werden, um sich buchstäblich nicht zu Tode zu arbeiten.

Kian Zeytani/André Tzara

Davon abgesehen, dass hier die Perspektive eines kleinen Segments des Mittelstands, also von Menschen, die sich keine Sorgen um das ausgefallene Einkommen machen müssen, zum Ausdruck kommt, wird hier auch deutlich, dass es nicht nur bei den beiden Autoren den Wunsch gab, die ganze Maschinerie mal stillzulegen. Deswegen wird der Notstand so klaglos hingenommen.

Notstand als Chance verklärt

Das wird hier mit den geschichtspessimistischen Thesen des Philosophen Walter Benjamin intellektuell aufgemotzt. Der Vorschlag, doch mehr in der Stadt und Natur spazieren zu gehen, ist natürlich eine gute Gelegenheit zu erkennen, wie der Notstand das Stadtleben verändert. Selbst in den Berliner Eventzonen sieht es bereits am frühen Abend so leer aus wie in einer Kleinstadt.

In Berlin finden sich jetzt aber nicht die vielen Flaneure, die im Sinne von Walter Benjamin die Stadt durchforschen. Doch der Vorschlag rationalisiert den Notstand, in dem nicht nachgefragt wird, ob er verhältnismäßig ist oder nicht. Stattdessen wird der Notstand als Chance verklärt für ein einfaches Leben ohne all die Zumutungen des hektischen kapitalistischen Alltags. Nur sind die nicht dadurch weg, dass die Maschine mal für einige Zeit stillsteht.

Nie werden die Folgen des kapitalistischen Verwertungszwangs so deutlich wie in dem Augenblick, wo viele Leute eine Zwangspause machen müssen. Die massenhafte Freisetzung von Arbeitskräften ist eben etwas anderes als ein großer selbstorganisierter Streik. Wie die Autoren Zeytani und Tzara üben sich in diesen Tagen angesichts des Staatsnotstands viele linken Publizisten in Rationalisieren oder in Schweigen. So schreibt Jasper Nicolaisen in der Tageszeitung Neues Deutschland:

Die Pandemie macht im besten Fall sprachlos. Das dürfte übrigens auch gerne für die sozialen Medien gelten, deren Giftigkeit sich jetzt umso mehr zeigt. Ein schwindelerregende Karussell des Immergleichen, der Fake News und Monstersichtungen in Venedigs Kanälen, weil ja etwas gesagt werden muss, wenn man jemand sein will. Zugegeben, ihren Nutzen haben die Plattformen, wo sie wirklich aufklären, für den einzelnen User Angst und Druck abbauen, für einsame Momente Gemeinsamkeit stiften. Aber dies ist auch mein Punkt. 

Sinnvoll ist jetzt nicht, etwas zu meinen, sondern sich in praktischer Solidarität zu üben. Auch virtuell, aber vor allem in dem, was den meisten Menschen bis letzte Woche noch unheimlich war, dem nächsten Umfeld, dem Heim, freilich im weitesten, unvölkischsten Sinne.

Jasper Nicolaisen, Neues Deutschland

Kein Unterschied zwischen Pandemie und Notstand?

Bei ihm, wie bei vielen anderen, wird der Notstand gar nicht erwähnt, es wird nur von der Pandemie geredet. Damit wird gar nicht mehr diskutiert, ob das Agieren der Staatsorgane alternativlos ist oder ob hier nicht Biopolitik in Zeiten von Corona gemacht wird. Das heißt eben nicht, dass der Virus erfunden wurde oder gar nicht existiert, sondern dass er für eine bestimmte Politik genutzt wird.

Auffallend ist, dass auch Jasper Nicolaisen nicht darauf verzichtet, Notstandskritiker wie Agamben abzuwatschen. Er ist dabei nicht der Einzige, die jetzt nicht den Notstand kritisch hinterfragen, sondern sich an Agamben abarbeiten.

Wahrscheinlich sind seine kritischen Texte für Linke und Linksliberale schmerzlich, weil hier eine Kritik geübt wird, die sie eigentlich teilen müssten.

Das erinnert an den Notstand nach Ausbruch des 1. Weltkriegs, wo die nun auch offiziell königs- und kriegstreuen Mehrheitssozialdemokraten besonders vehement gegen ihre ehemaligen Parteigenossen vorgingen, die ihre alte Kritik gegen den Militarismus nicht aufgegeben haben.

Tagebuch der inneren Sicherheit

Zu denen, die den Kampf um die Verteidigung der Freiheitsrechte auch in Zeiten des Corona-Notstands nicht aufgegeben haben, gehört die Redaktion der Zeitschrift Cilip.

Parallel zu den vielen Tagebüchern, in denen Menschen in den sozialen Netzwerken berichten, wie sie sich im Homeoffice und in der Wohnhaft zurechtfinden, richtet Cilipein Tagebuch der inneren Sicherheit ein, in dem chronologisch und fachkundig die täglichen Notstandsmaßnahmen aufgelistet sind.

Für den 24. März ist der Bußgeldkatalog für Notstandsmuffel aufgelistet, der von der Landesregierung von NRW erlassen wurde. Zudem wird vermeldet, dass die Telekom dem Robert-Koch-Institut, dem momentan wichtigsten Staatsapparat, weitere anonymisierte Datensätze übergeben hatCilip dokumentiert die Maßnahmen, ohne sie zu kommentieren. Dieses Tagebuch ist wichtig, um zu diskutieren, ob diese Maßnahmen angesichts der Viruserkrankungen notwendig und verhältnismäßig sind.

Dazu gehört der Blog CoView, deren Symbol eine Katze ist. Dabei grenzen sich die Initiatoren klar von rechten Krisenerklärungen ab. Das ist schon deswegen notwendig, weil Rechte der verschiedenen Couleur sich als Notstandskritiker ausgeben, was ihnen umso leichter gelingt, weil umgekehrt viele Linke und Liberale jegliche Kritik am Corona-Notstand abqualifizieren.

Clemens Heni hat einen Text formuliert, in dem er sich gegen Notstandsideologie, aber gleichermaßen auch gegen Verschwörungstheoretiker positioniert. Am Schluss seines lebenswerten Textes heißt es:

Es muss jetzt um Gelassenheit, Ruhe und Besonnenheit gehen, vor allem aber um menschliche Solidarität und demokratisches Handeln.

Clemens Heni

Die Macher von CoView argumentieren ähnlich differenziert und unaufgeregt:

Die aktuellen Entwicklungen rund um COVID-19 zeigen die Notwendigkeit eines solidarischen Umgangs miteinander. Wir befinden uns in einer Situation, in der die Gesundheit von vielen gefährdet ist. Wir begrüßen notwendige Maßnahmen. Gemeinsam müssen solidarische Lösungen gefunden werden! 

Gleichzeitig sind die temporären, enormen Einschränkungen von Grundrechten etwas, das es zu beobachten und kritisch zu begleiten gilt. 

Denn diese Entwicklung passiert in einer Situation, in der in mehreren Regionen der Welt ohnehin massive Konflikte vorherrschen, die sich teilweise in einer Verschärfung von Kontrollpolitik niederschlagen. 

All jene, die Interesse an Kontroll- und Überwachungspolitik haben, haben jetzt weitgehend freie Hand. Maßnahmen, wie Grenzschließungen und Einschränkung von Versammlungsrechten bedeuten nicht nur eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit, vielmehr es stellen sich Fragen wie: Wann werden Grenzen, die nun geschlossen werden, wieder geöffnet? Wann können Demonstrationen wieder uneingeschränkt stattfinden?

Aus der Erklärung von Coview19

Krachmachen statt Beifall-Klatschen

Am kommenden Samstag wird sich zeigen, wie politische Proteste in Zeichen des Notstands funktionieren. Für Samstag, den 28. März, um 18 Uhr ruft ein europaweites Bündnis von Mieter- und Recht-auf-Stadtaktivisten zu Fenster- und Balkondemonstrationen auf, nachdem die für diesen Tag geplanten Demonstrationen abgesagt werden mussten.

Eine Stunde später um 19 Uhr soll ebenfalls am 28.3. an Fenstern und Balkonen Krach gemacht werden für ein besser ausgestattetes und bezahltes Gesundheitssystem. Im Aufruf wird mit Recht darauf verwiesen, dass sich die Beschäftigten für kräftiges Beifall-Klatschen nichts kaufen können. Sie brauchen bessere Bezahlungen. Peter Nowak