Vor 110 Jahren versammelten sich Kriegsgegner:innen in Zimmerwald, um sich gegen den imperialistischen Krieg zu stellen. Lenin spielte dabei eine zentrale Rolle. Die damals formulierten Positionen des revolutionären Defätismus und der Ablehnung von V

Zimmerwalder Konferenz 1915 –Lehren für heute

Dazu soll am Schluss der Historiker Ewgenij Kasakow zu Wort kommen, weil es der Autor dieser Zeilen nicht besser formulieren könnte: «Weite Teile der Linken sind schon jetzt dabei, die eine oder andere Kriegspartei zu unterstützen – ähnlich der Kriegseuphorie nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Vernetzung derjenigen Linken, die den UkraineKrieg weiterhin als einen Konflikt der Interessen kapitalistischer Staaten sehen und keine der Regierungen unterstützen wollen, ist eine praktische Notwendigkeit (…) Auch wenn die Zimmerwald-Konferenz nicht zur sofortigen Antikriegserhebung führte, könnte sie uns auch noch als Vorbild dienen.»

Seit über drei Jahren führt die Armee des kapitalistischen Russlands gegen die kapitalistische Ukraine Krieg. Es geht auf beiden Seiten um die kapitalistischen Interessen zweier bürgerlicher Staaten. Auf beiden Seiten sterben überwiegend Proletarier:innen und arme Menschen, so wie in allen Kriegen, die die herrschenden Kapitalist:innen führen. Wenn man die Debatten in der gesellschaftlichen Linken in Deutschland, aber auch in anderen Ländern verfolgt, hat man den Eindruck, die Diskussionen des linken Flügels der Arbeiter:innenbewegung seien völlig vergessen. Vielmehr nehmen auch subjektiv radikale Linke, darunter Anarchist:innen, die Position …

… der Vaterlandsverteidigung ein und stellen sich überwiegend auf die Seite der «Ukraine».


Marx gegen Moskau?

Nur ein kleiner Teil, vor allem (post)stalinistischer Kräfte, verteidigt die russische Kriegsführung. In der gesellschaftlichen Linken verschiedener Länder sorgt die Frage, ob an die ukrainische Regierung Waffen geliefert werden und wenn ja, mit welcher Reichweite, für heftige Auseinandersetzungen. Die Befürworter:innen solcher Waffenlieferungen argumentieren, die Ukraine habe als überfallener Staat ein Recht auf Verteidigung. Nicht wenige linke Intellektuelle sind bemüht, ihre Positionen in Einklang mit zentralen Figuren der Arbeiter:innenbewegung zu bringen. So veröffentlichte kürzlich der wissenschaftliche Mitarbeiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe, Timm Grassmann, im Schmetterling-Verlag das Buch «Marx gegen Moskau – Zur Aussenpolitik der Arbeiterklasse». In einem Interview mit der Zeitung «Neues Deutschland» betonte Grassmann, es gehe ihm darum, Texte und Artikel, in denen sich Marx gegen den Zarismus wendet, zu aktualisieren. Hier wird eine Tradition der Sozialdemokrat:innen verschiedener Länder fortgesetzt, die Texte von Marx und Engels für ihre Position der Vaterlandsverteidigung heranziehen. Gegen sie positionierten sich seit Beginn des 20.Jahrhunderts die Linken in der Arbeiter:innenbewegung. Sie konnten den Ausbruch des
ersten imperialistischen Krieges mit Unterstützung der Sozialdemokrat:innen der meisten europäischen Länder nicht verhindern. Doch mitten in diesem Krieg entstand die Zimmerwalder Linke, die einen revolutionären Ausweg aus Kapitalismus und Krieg suchte. Sie ist heute weitgehend vergessen. Dabei wäre es gerade heute, wo die unterschiedlichen kapitalistischen Blöcke wieder Kriege führen, umso dringlicher zu fragen, welche Antworten die Zimmerwalder Linke für uns heute noch aktuell sind.

Vom Stuttgart nach Zimmerwald
Sieben Jahre vor dem Ersten Weltkrieg wurde auf dem «Internationalen Kongress der Sozialisten» 1907 in Stuttgart beschlossen, dass ein Krieg zwischen den Nationen mit allen Mitteln verhindert werden müsse. Wenn
das nicht gelänge, müsse alles getan werden, damit er schnellstens beendet wird. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs stellten sich jedoch die meisten Sozialist:innen auf die Seite ihrer Bourgeoisie und wurden zu «linken»
Vaterlandsverteidiger:innen. Kleine Minderheiten in vielen sozialdemokratischen Parteien sowie die russischen Bolschewiki hielten an der Ablehnung fest, sich in einen Krieg zwischen verschiedenen imperialistischen
Mächten auf eine Seite zu stellen. Ein erstes internationales Treffen fand vom 5. bis 9. September 1915 im schweizerischen Zimmerwald im Kanton Bern statt. Sie trafen sich als Ornitholog:innen getarnt in der Pension Beau Séjour. Es war eine so kleine Gruppe, dass einige der Kongressteilnehmer:innen sarkastisch anmerkten, dass ein halbes Jahrhundert nach Gründung der Ersten Internationale die in Zimmerwald versammelten Teilnehmer:innen in vier Wagen Platz finden könnten. Es war auch eine Momentaufnahme über die grosse Isolation der Kriegsgegner:innen. Und doch wurde das Treffen zum Startschuss für eine Bewegung innerhalb der Arbeiter:innenbewegung, die gegen jegliche Unterstützung des Krieges auf allen Seiten agierte. Am linken
Flügel der Zimmerwalder Bewegung entwickelte sich die Zimmerwalder Linke, die die russischen Bolschewiki ebenso erfasste wie den Spartakusbund in Deutschland sowie Sozialist:innen und Anarchist:innen aus verschiedenen Staaten.

Die Zimmerwalder Thesen finden Unterstützung
Eine zentrale Rolle bei der Herausbildung der Zimmerwalder Linke spielte Lenin. Bereits Anfang September 1914 legte er ein kurzes Thesenpapier unter dem Titel «Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im
europäischen Kriege» vor, das international verbreitet wurde. Darin wurden die Grundsätze des revolutionären Defätismus erstmals grob formuliert, die in den folgenden Jahren von den radikalen Linken der verschiedenen Länder in Broschüren, Artikeln, Reden oder Flugschriften tausendfach verbreitet wurden. Hier wurde die Grundlage für die Verankerung der Thesen der Zimmerwalder
Linke in Teilen der Arbeiter:innenklasse gelegt. Nach der Konferenz sorgten linke Aktivist:innen der verschiedenen Länder dafür, dass die Positionen von Zimmerwald bei den ausgebeuteten Massen in allen kriegsführenden Staaten bekannt wurden. Natürlich waren sie massiver Repression in allen kriegsführenden Ländern ausgesetzt. Viele bekannte Kriegsgegner:innen sassen im Gefängnis, wie Rosa Luxemburg, oder wurden zwangsweise an die
Front einbezogen, wie Karl Liebknecht in Deutschland. Deswegen war die «neutrale» Schweiz zum Zufluchtsort vieler der linken Kriegsgegner:innen geworden, darunter auch Lenin.


Revolutionärer Defätismus
Er propagierte den revolutionären Defätismus. Das bedeutete, den Kampf gegen den Kapitalismus als Verursacher der Kriege zu führen. Die Soldaten aus der
Arbeiter:innenklasse wurden aufgefordert, ihre Gewehre umzudrehen und sie gegen die Organe des kapitalistischen Staates zu richten. Vor allem die Oktoberrevolution in Russland hat den Positionen der Zimmerwalder
Linke in vielen Ländern, darunter auch in Deutschland, Auftrieb verschafft. Schliesslich gehörte zu einer der ersten Massnahmen der revolutionären Sowjeträte das Dekret über den Frieden. Die Sowjetunion beendete einseitig den Krieg und rief die Soldaten aller Länder auf, sich untereinander zu verbrüdern und die Gewehre gegen die Ausbeuter aller Länder zu richten. Die Aufrufe blieben auch bei den Arbeiter:innen in Deutschland nicht ohne Folgen. So beschrieb Richard Müller, ein führender Aktivist der Revolutionären Obleute, einer Selbstorganisation Berliner Arbeiter:innen in den Fabriken während
des Ersten Weltkriegs, dass die Ablehnung des Krieges zunahm und der Ruf, es Russland nachzumachen, im Laufe des Jahres 1918 anwuchs. Es waren auch die Revolutionären Obleute, die in Berlin wesentlich im November 1918 den revolutionären Umschwung ermöglichten, nachdem er als Matrosenaufstand in Kiel begonnen hatte. So waren es die Revolutionären Obleute, die zusammen mit der Basis der Arbeiter:innen in verschiedene Räterepubliken gingen, beispielsweise in Bremen, Bayern und Braunschweig. Dort wollten sie im Sinne des revolutionären Defätismus der Zimmerwalder Linke eine Gesellschaft schaffen, in der die Ursachen der Kriege, der Kapitalismus, beseitigt wären. Die Mehrheit der Sozialdemokrat:innen, die während des Ersten Weltkriegs die Politik der Vaterlandsverteidigung unterstützt hatten, schlugen im Bündnis mit
monarchistischen und frühfaschistischen Kräften wie den Freikorps alle Revolutionsversuche in den Jahren 1919–1923 blutig nieder. Die Folgen sind bekannt.


Zimmerwalder Linke – noch heute aktuell?
Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine und dem Einschwenken grosser Teile auch der Linken auf die Position der Vaterlandsverteidigung fragen sich Teile der gesellschaftlichen Linken, welche Bedeutung die Zimmerwalder Linke heute noch hat. Nennenswert ist hier das Buch «Sterben und sterben lassen», das vom AK Beau Séjour herausgebracht wurde. Dass sich die Gruppe nach der Pension benennt, in der sich 1915 die kleine Gruppe der Antimilitarist:innen in Zimmerwald traf, ist Programm. Im Vorwort heisst es: «Gegen diese neuen Kriegstrommeln und ihre zynische Logik, die die schrankenlose Aufrüstung zur Bedingung menschlicher Freiheit und Zivilisation erklären, richtet sich der vorliegende Sammelband. Er richtet sich an alle ntimilitarist:innen.» Diese
seien gegenwärtig wohl leider ähnlich minoritär wie die sozialistischen Kriegsgegner:innen, die sich im September 1915 als Ornitholog:innen getarnt in der Pension Beau Séjour im Schweizer Zimmerwald trafen und angesichts ihrer Zwergenhaftigkeit darüber scherzten, «dass es ein halbes Jahrhundert nach Begründung der Ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen».


Arbeiter:innen gegen Militarismus und Krieg

Wie während des Ersten Weltkrieges kann heute wohl niemand bestreiten, dass alle kriegsführenden Staaten kapitalistische Mächte sind. Doch anders als während des Ersten Weltkrieges gibt es heute keine starke organisierte Arbeiter:innenbewegung. In vielen Ländern ist sie vielmehr demobilisiert und zersplittert. Dennoch gibt es auch heute in verschiedenen Ländern Aktionen von Arbeiter:innen gegen Krieg und Militarismus. In Italien gab es mehrfach Blockaden von Waffenlieferungen an die Ukraine, an denen linke Gewerkschaften wie S.I. Cobas und das genuesische Hafenarbeiter:innenkollektiv CALP beteiligt waren. Einer der Mitbegründer des CALP ist Maurizio Gueglio. In einem Interview mit der Zeitung «Neues Deutschland» stellte er klar: «Wir sind Antimilitarist:innen und sehen uns in einer langen Tradition der Antikriegsarbeit der Arbeiter:innenbewegung.» In Griechenland war die kommunistische Gewerkschaft PAME an Aktionen gegen Waffenlieferungen beteiligt. Auch aus Weissrussland und Russland wurden in
den letzten zwei Jahren Aktionen gegen das dortige Militär bekannt. So riefen belorussische Eisenbahner:innen dazu auf, die Schienen für die Transporte unbrauchbar zu machen. Auch in Russland sind Fälle von Sabotageaktionen gegen Einrichtungen von Militär und Krieg bekannt. Solche Aktionen können als eine Aktualisierung der Zimmerwalder Linke verstanden werden.


Vorbild Zimmerwalder Konferenz
So sind die Positionen der Zimmerwalder Linke durchaus noch aktuell. Doch es kommt in erster Linie darauf an, sie erst einmal wieder einer grösseren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Dazu soll am Schluss der Historiker Ewgenij Kasakow zu Wort kommen, weil es der Autor dieser Zeilen nicht besser formulieren könnte: «Weite Teile der Linken sind schon jetzt dabei, die eine
oder andere Kriegspartei zu unterstützen – ähnlich der Kriegseuphorie nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Vernetzung derjenigen Linken, die den UkraineKrieg weiterhin als einen Konflikt der Interessen kapitalistischer Staaten sehen und keine der Regierungen unterstützen wollen, ist eine praktische Notwendigkeit (…) Auch wenn die Zimmerwald-Konferenz nicht zur sofortigen Antikriegserhebung führte, könnte sie uns auch noch als Vorbild dienen.»
Wir bedanken uns beim Autor für diesen Gastbeitrag. Peter Nowak wird an der
ZimmerwaldKonferenz 2.0 am 6.September in Zürich ein Referat halten. Infos siehe:

Sämtliche Infos: zimmerwald-conference-2-0.info Samstag, 6. September, ab
9 Uhr, Dorothee Sölle Saal, Stauffacherstrasse 8, Zürich

Erstveröffentlichungsort: