Warum blieben Massenproteste gegen die Inflation im vergangenen Jahr aus – und was ist aus der Bewegung gegen die Hartz-IV-Gesetze geworden? Ein Sammelband geht auf Spurensuche.

Inflation und Sozialprotest: Der „heiße Herbst“ und die Warnung vor der Querfront

"Klassenlos - sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten lautet der Titel eines Sammelbands der im Verlag "Die Buchmacherei" erscheint. Herausgegeben wird er von Anne Seeck, Gerhard Hanloser, Harald Rein und dem Telepolis-Autor Peter Nowak. Das Buch soll an die schnell vergessenen Proteste gegen die Einführung von Hartz IV ab Sommer 2004 erinnern und verdeutlichen, dass soziale Kämpfe gegen Verarmung nicht zu Ende ist. Vor einem Jahr wurde viel über den "heißen Herbst" gegen Inflation diskutiert. Verschiedene Beiträge in dem Band widmen sich der Frage, warum dieser "heiße Herbst" ausgeblieben ist und auch danach keine großen Bewegungen gegen Verarmung zustande kamen. Der hier vorab veröffentlichte Beitrag befasst sich mit den Warnungen vor einer Querfront im Zusammenhang mit den Teuerungsprotesten

Erinnerung an griechische Proteste gegen das EU-Spardiktat

Ich beginne mit einer Erinnerung an die sicher weitgehend vergessenen, aber turbulenten Protestwochen gegen die autoritären Krisenlösungsmodelle der EU-Troika für Griechenland. Es war ein warmer Sommerabend im Jahr 2015, als eine Spontandemonstration durch die Berliner Innenstadt zum Amtssitz des damaligen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble führte, der das Gesicht jener Troika war, die damals der linkssozialdemokratischen Syriza-Regierung in Griechenland das EU-Austeritätsprogramm aufdrückte. Die circa 1.200 Demonstrierenden, darunter viele junge Menschen, unterstützen in Sprechchören die griechische Bevölkerung, die sich gegen die Politik der Austerität wehrte. Doch als sie vor dem leeren, von der Polizei gesicherten Finanzministerium ankam, zerstreute sich die Menge schnell. Niemand wusste, was zu tun ist, um den Konflikt zuzuspitzen. Wenige Tage später kam die Nachricht, dass die …

… griechische Regierung der Erpressung der EU-Troika nachgegeben und sich dem EU-Diktat unterworfen hatte. Sofort zerfiel die sehr junge linke Protestbewegung auch in Deutschland. Es war ein erneuter Beweis, dass Demokratie im real existierenden Kapitalismus ihre Grenzen da hat, wo Profitinteressen in Gefahr geraten.

Die griechische Regierung war mit großer Mehrheit gewählt worden, um sich gegen das Austeritätsprogramm der EU zu wehren. Das wurde dann noch einmal durch eine Volksabstimmung bestätigt, bei der die große Mehrheit der griechischen Wähler „Oxi“, nein zum Austeritätsprogramm, sagte. Doch die EU-Troika drohte der griechischen Regierung mit dem Rauswurf aus der EU, würde sie diese demokratischen Voten umsetzen.

Aufstieg einer populistischen Rechten

Warum sind diese kurzen Rückblicke in die jüngere Vergangenheit notwendig? Hier hatte eine Generation von jungen Aktivisten die Erfahrung gemacht, dass die Macht des Kapitals bürgerlich-demokratisch gewählte Regierungen ignorieren kann. Diese Erfahrungen haben damals in vielen Ländern der EU Hunderttausende Menschen gemacht. Sie haben Massendemonstrationen gegen die Austeritätspolitik organisiert, die oft brutal niedergeschlagen wurden. Sie haben sich mit Streiks und Fabrikbesetzungen gegen die Zumutungen des globalisierten Kapitalismus gewehrt.

Doch sie sind gegen die Macht des EU-Kapitals, dessen Machtzentrum nicht zufällig viele in der deutschen Politik sahen, nicht durchgekommen. Es waren die gleichen deutschen Politiker:innen, die 2005 bereits in Deutschland gegen Widerstand das Hartz IV-Regime durchsetzen, mit denen die Armen, ob erwerbslos, oder in Teilzeit- oder Vollzeitarbeit, entrechtet wurden. Es ging dabei um die Senkung der Kosten für die Ware Arbeitskraft in Deutschland, was dazu führte, dass das Land zum Ausgangspunkt eines Lohndumpings im EU-Bereich wurde.

Im Anschluss mussten sich nach der kapitalistischen Logik die übrigen EU-Staaten am deutschen Hartz IV-System orientierten und die Armen ebenfalls weiter entrechten. Dagegen gab es vor allem in den Ländern der südeuropäischen Peripherie massive Proteste in den Jahren 2011 bis 2014. Höhepunkt war am 31. März 2014 ein EU-weiter Generalstreik, der vor allem in Spanien, Italien und Griechenland zum Stillstand großer Teile der Industrie des Landes führte. In Deutschland wurde er von einer kleinen linken Bewegung unterstützt, die das Logo „M31“ führte.

Die Proteste gegen Hartz IV und die Frage der Hegemonie

Diese Vorgeschichte sollte nicht vergessen werden, wenn man von den Sozialprotesten heute spricht. Denn eine Folge der Niederlage der linken Bewegung gegen das EU-Diktat war der Aufstieg einer populistischen Rechten in vielen europäischen Ländern. In Deutschland etablierte sie sich in Form der AfD, aber auch außerhalb der Parlamente konnten sich Rechte stärker etablieren, beispielsweise bei den Pegida-Protesten. Erstmals gab es bei außerparlamentarischen Bewegungen nicht eine zumindest diffus linke Hegemonie, wie sie mit vielen Brüch

Auch damals gab es schon Orte, wo unterschiedliche rechte Gruppen das Heft in der Hand hatten. Doch in der Regel gelang es Antifaschisten, linken Initiativen, der Basisgewerkschaft Freie Arbeiterunion (FAU, in Einzelfällen auch Ortsgruppen der PDS und engagierten Gewerkschaftlern wie dem damaligen Vorsitzenden der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherung in Thüringen (HBV). Angelo Lucifero, die Rechten aus den Protesten zu drängen oder zumindest dafür zu sorgen, dass sie dort nicht die bestimmende Rolle einnehmen konnten.

Da wurden in Einzelfällen sogar angemeldete Demonstrationen abgebrochen, weil nur so verhindert werden konnte, dass dort organisierte Rechte mit eigenen Transparenten mitlaufen konnten. Darauf lernten die Aktivisten, dass in den Aufrufen auch ein Passus gegen Antisemitismus und Rassismus eingefügt werden muss, wenn man organisierte Rechte gesetzeskonform aus den Protestzügen raushalten wollte. Bei größeren Demonstrationen gelang es auch linken Teilnehmer:innen, die Rechten aus dem Protestzug herauszudrängen, was nicht selten zu Konflikten mit der Polizei führte.

Wie die Rechten den Staatsapparaten nützlich sind

Mit dem Aufstieg einer Rechtspartei wie der AfD hatten die vielen Unzufriedenen die Möglichkeit, auf die Straße zu gehen, ohne rot zu werden, wie eine Parole dieser Partei heißt. Für die Staatsapparate war dieser Aufstieg der Rechten nützlich. Sie konnten vor einer angeblichen Querfront zwischen rechten und linken Rändern warnen und sich als Kraft der Vernunft in der Mitte gerieren.

Das ist eine Neuauflage der altbekannten Hufeisentheorie, nach der schon für das Scheitern der Weimarer Republik angebliche Extreme von links und rechts verantwortlich gemacht werden. So konnte die Verantwortung wichtiger Teile der SPD-Führung und der bürgerlichen Parteien für den Aufstieg der NS-Bewegung abgewehrt werden.

Immer mal wieder wird bis heute völlig sinnfrei vor Weimarer Verhältnissen gewarnt. Eine Parallele zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Weimarer Republik und heute wird aber kaum thematisiert. Es ist die große Macht des Kapitals, das immer dann auf faschistische Krisenlösungsmodelle zurückgreift, wenn eine linke Bewegung zu stark ist und das Kapital seine Profite nicht mehr in einer bürgerlich-demokratischen Form realisieren kann. Das bedeutet nun nicht, dass faschistische und rechtspolitische Bewegungen reine Marionetten des Kapitals sind.

Diese rechten Bewegungen erstarken, weil sie an rassistische, antisemitische oder patriarchale Vorstellungen andocken, die auch in großen Teilen des Mittelstands und der Unterklassen vorhanden sind. Doch rechte Parteien können nur an die Macht kommen, wenn zumindest relevante Teile der Kapitalfraktionen dem zustimmen.

So kann man sagen, dass sich rechte Gruppierungen durchaus unabhängig von relevanten Kapitalfraktionen entwickeln, aber nur mit ihrer Tolerierung an die Macht kommen können. In diesem Stadium sind wir heute in Deutschland zum Glück nicht. Aber auch aktuell haben diese unterschiedlichen Rechtsaußengruppen im Sinne des Staats und des Kapitals eine wichtige Funktion: Ihre Aktivitäten können Menschen abhalten, sich Protesten anzuschließen. Angesichts von Energiekrise und Inflation konnte das sehr schön im Spätsommer 2022 beobachtet werden.

Sozialproteste stoßen auf desorientierte gesellschaftliche Linke

Bevor überhaupt die ersten Protestdemonstrationen stattfanden, hatten Medien und viele Politiker vor Nazis und rechten Ideologen gewarnt, die angeblich eine Querfront mit der radikalen Linken eingehen würden. Hier war die Spur gesetzt, auf der sich danach die Propaganda des Staates und vieler Medien bewegte. Statt über die Zumutungen des Kapitalismus für viele Menschen, sollte über Querfronten und innerlinke Benimmregeln geredet werden. Diese Diskussion überforderte eine gesellschaftliche Linke, die durch die Corona-Jahre noch weiter geschwächt wurde.

Rechtsoffene Proteste gegen die Corona-Maßnahmen standen einer gesellschaftlichen Linken gegenüber, die ihre Instrumente der Kritik von Staat und Kapital oft vergessen zu haben scheint, wie der emeritierte Politologe Joachim Hirsch prägnant kritisierte. Man hatte dann oft den Eindruck, große Teile der gesellschaftlichen Linken unterschieden sich kaum noch von der Politik des Staates.

Das setzt sich im Ukraine-Krieg fort, wo plötzlich selbst Teile der radikalen Linken ihren Frieden mit der Nato gemacht zu haben scheinen. Auch hier haben Teile der gesellschaftlichen Linken ihre Instrumente vergessen, über den Zusammenhang von Kapitalismus, Nationalismus und Krieg aufzuklären und die Kriegsgegner uf allen Seiten zu unterstützen.

Besonders auffallend war die Kritikunfähigkeit von Teilen der Linken, die es scheinbar verlernt hatte, über unterschiedliche Positionen zu streiten und auch zu polemisieren. Da gab dann im Corona-Kontext scheinbar nur „Querdenker“ versus „Impftrottel“. Und im Ukraine-Konflikt wurden alle zu Putin-Versteher:innen erklärt, die es nicht als linke Solidarität ansahen, weitere Waffen in ein Pulverfass zu liefern.

Eine gesellschaftliche Linke in solch schlechtem Zustand kann natürlich auch keine politische Kraft sein, die Sozialprotesten im Land eine Orientierung geben kann. In manchen Teilen der gesellschaftlichen Linken überwog das Sektierertum. Danach hätten die Protestierenden den Kanon der verschiedenen linken Zusammenhänge verinnerlichen müssen, bevor sie auf die Straße gingen. Dabei wurde vergessen, dass dort eben nicht Linke, sondern von der kapitalistischen Krise Betroffene gegen ihre eigene Verarmung protestierten.

Eine gesellschaftliche Linke hätte hier ansetzen und Kritik an Staat und Kapital in eine solche Bewegung tragen können, wie es noch bei den Protesten gegen Hartz IV im Jahr 2014 geschehen ist. Da hätte sich natürlich auch angeboten, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Politik der Verarmung der vielen Menschen und das Steigen der Aktienkurse, beispielsweise bei den Rüstungskonzernen Rheinmetall und Krauss-Maffei.

Doch das störte linke Zusammenhänge, die angesichts des russischen Einmarsches in die Ukraine plötzlich keine konkrete Militarismuskritik mehr auf den Demonstrationen sehen wollten. Dabei wurde der Unterschied zwischen einem linken Antimilitarismus und einer Pro-Putin-Position bewusst ignoriert.

Exkurs zur Linkspartei

In diesem Text ist bewusst immer von der gesellschaftlichen Linken die Rede – damit ist in erster Linie die zerklüftete außerparlamentarische Linke und erst in zweiter Linie die Linkspartei gemeint. Auch bei ihr sorgen die beschriebenen Verwerfungen für einen ständigen innerparteilichen Streit. Er kann unter dem Etikett „Linksliberalismus versus Linkskonservatismus“ zusammengefasst werden.

Beide Seiten üben keine grundsätzliche Kritik an Staat, Nation und Kapital und bilden unterschiedliche Spielarten des Reformismus. Während die Auseinandersetzungen in der außerparlamentarischen Linken meist unter dem Radar einer größeren Öffentlichkeit ablaufen, erhält der Streit in der Linkspartei die große mediale Bühne. Daher wird über ihn viel mehr geredet.

Er soll hier nur deshalb eine Rolle spielen, weil er auch die Sozialproteste im Herbst 2022 beeinflusst hat. Anfang September startete das Bündnis „Heizung, Brot und Frieden“, das dem linkskonservativen Flügel um die bekannte Parteipolitikerin Sahra Wagenknecht nahesteht, in Berlin eine Protestkundgebung vor der Parteizentrale der Grünen.

Das Bündnis wollte Sozialproteste mit der schon aus ökologischen Gründen problematischen Forderung nach Wiederaufnahme der russischen Gaslieferungen verbinden. Sofort wurde seitens der parteiinternen Gegner:innen der Vorwurf einer mangelnden Abgrenzung nach Rechts laut. Dieser Vorwurf richtete sich auch an einen Kreis von Linksparteipolitiker, der Anfang September 2022 in Leipzig eine Protestkundgebung gehen Preissteigerungen und hohe Energiekosten ankündigte. Rechte Populisten ließen sich die Chance nicht entgehen, um ebenfalls zu einer Kundgebung in Leipzig aufzurufen.

Am Ende sorgten Antifagruppen dafür, dass Rechte nicht auf die Kundgebung der Linken kommen konnten. Die innerparteilichen Konflikte zwischen den Linkskonservativen und Linksliberalen in der Linkspartei überschatteten so die Sozialproteste, deren Protagonist:innen mehrheitlich parteilos sind und auch Wert darauf legten, von keiner Partei instrumentalisiert zu werden.

Doch auch viele der außerparlamentarischen Protestorganisatoren haben sich von der Überlegung leiten lassen, möglichst frühzeitig Protesttermine bekanntzugeben, um zu verhindern, dass sich die Rechten des Themas bemächtigen. Diese Planspiele hat der Protestforscher und Bewegungsaktivist Harald Rein auf der Podiumsdiskussion „Heißer Herbst – kalter Winter“ am 14. Februar 2023 in Berlin kritisiert. An die unterschiedlichen Protestbündnisse richtete er die Frage: „Warum sollen die von Armut Betroffenen gerade dann auf die Straße gehen, wenn ihr dazu aufruft?“.

Nationalistische Proteste von AfD und Co.

Bei dieser Podiumsdiskussion wurde im Publikum die Position vertreten, es habe im Osten Deutschlands sehr wohl einen heißen Herbst der Sozialproteste gegeben, nur sei der von der gesellschaftlichen Linken nicht aufgegriffen worden. Tatsächlich gab es im Herbst 2022 größere Kundgebungen in Erfurt, Gera und Dresden, bei denen AfD-Politiker und andere Rechte hegemonial waren. Im Oktober 2022 rief dann die AFD zu einer Großdemonstration mit ca. 10.000 Menschen nach Berlin. Der Gewerkschaftler und Journalist Stefan Dietl hat mit Recht davor gewarnt, hier von Sozialprotesten zu sprechen.

Tatsächlich handelte es sich um nationalistische Kundgebungen und Demonstrationen, auf denen soziale Themen aufgegriffen und nationalistisch geframt wurden. So wurde auf diesen Kundgebungen die Deindustrialisierung Deutschlands beklagt und das Ende der russischen Gasimporte als Sargnagel für den deutschen Mittelstand bezeichnet. Sozialpolitische Forderungen ohne nationalistischen Bezug fehlten auf diesen Protesten hingegen.

Dazu passt, dass sich die AfD im Spätherbst 2022 selbst gegen die minimalen Verbesserungen polemisierte, die die Regierungskoalition mit dem Bürgergeld plante. AfD-Politiker schwadronierten vom leistungslosen Müßiggang, der verhindert werden müsse, indem die Armen weiter sanktioniert werden. Diese rechten Erzählungen, die von der CDU/CSU mit leichten Abstrichen übernommen wurden, kamen nicht nur beim Mittelstand, sondern auch bei dem Teil der Armen an,die sich damit gegen Menschen wenden, denen es noch schlechter als ihnen selbst geht.

Das gibt autoritären Charakteren die Gelegenheit, auf diesen Menschen herumzuhacken. Hier findet sich ein Unterscheidungsmerkmal, das besser als viele zivilgesellschaftlichen Organisationen, die beständig vor einer Querfront warnen, den Unterschied zwischen strukturell rechten und emanzipatorischen Protesten aufzeigt.

Auf strukturell rechten Veranstaltungen stellen Menschen empört fest, dass sie es nicht verdient hätten, unter denselben Bedingungen leben zu müssen wie die Armutsbevölkerung. Auf emanzipatorischen Veranstaltungen geht es darum, dafür zu werben, alle Verhältnisse abzuschaffen, die Menschen dazu zwingt, unter Bedingungen zu leben, die niemand verdient hat. Peter Nowak

en bei den Hartz IV-Protesten im Sommer 2004 noch erkämpft werden konnte.